Ich nannte ihn Krawatte. Milena Michiko Flasar

Ich nannte ihn Krawatte - Milena Michiko Flasar


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dieselbe Krawatte. Die Aktentasche, schlenkernd. Eine Wiederholung. Er setzte sich, schlug die Beine übereinander, wartete, lehnte sich zurück. Seufzte. Dasselbe Seufzen. Blies den Rauch in Kringeln aus Nase und Mund. Ihn aus meinem Gedächtnis löschen zu wollen, war nunmehr vergeblich. Er war da, hatte in mir Platz genommen, war eine Person geworden, über die ich sagen konnte: Ich erkenne sie wieder.

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      Er hatte ein Stück Brot bei sich. Umständlich wickelte er es aus dem Papier, zerriss es in immer kleinere Hälften, formte Kügelchen daraus und streute sie vor die gurrenden Tauben. Für euch, hörte ich ihn murmeln. Und als er fertig war: Ksch-ksch. Weiße Federn wirbelten auf ihn herab. Eine war auf seinem Kopf gelandet. Sie verfing sich in seinem zurückgekämmten Haar und gab ihm etwas Verspieltes. Wäre er in T-Shirt und kurzen Hosen dagesessen, man hätte ihn für ein Kind halten können. Sogar die Langeweile, in die er kurz danach verfiel, war die eines Kindes. Er witschte unruhig hin und her. Bohrte die Fersen in den Boden. Blähte die Wangen auf. Ließ die Luft langsam entweichen.

      Ich musste an die zähe Ewigkeit eines eben erst angebrochenen, endlos hingestreckten Tages denken. Die Gewissheit, dass er vergehen würde, war nichts gegen die fade Melancholie, mit der er verging, und Melancholie, dachte ich weiter, war das Wort, das uns beiden auf die Stirn geschrieben stand. Es verband uns. Wir trafen uns in ihm.

      Im Park war er der einzige Salaryman. Im Park war ich der einzige Hikikomori*. Etwas stimmte nicht mit uns. Er sollte eigentlich in seinem Büro, in einem der Hochhäuser, ich sollte eigentlich in meinem Zimmer, zwischen vier Wänden hocken. Wir sollten nicht hier sein oder wenigstens nicht so tun, als ob wir hierher gehörten. Hoch über uns ein Kondensstreifen. Wir sollten nicht hochschauen, in diesen blauen, blauen Himmel. Ich blähte die Wangen auf. Ließ die Luft langsam entweichen.

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      Zu Mittag kamen andere wie er. Sie kamen in Grüppchen, setzten sich, die Krawatte über die Schulter nach hinten geworfen, auf die Bänke weiter abseits, und saßen, ein jeder mit seinem Bentō, fröhlich plaudernd beieinander. Endlich Pause, lachte einer, endlich Beine ausstrecken. Sein Lachen setzte sich fort in dem der anderen.

      Warum war er nicht bei ihnen? Ich stellte Mutmaßungen an. Vielleicht war er einfach nur ein Durchreisender und er hatte den Anschluss verpasst. Musste warten, bis. Oder war einfach nur. Ich konnte es mir nicht erklären.

      Sein Bentō, das waren dieses Mal Reisbällchen, Tempura*, ein Algensalat. Er brach die Stäbchen entzwei, hielt inne, wischte sich, eine heimliche Bewegung, mit dem Handrücken über die Augen. Sein angespannter Kiefer, ich sah es, er zitterte. Beschämt sah ich, er weinte. Es war ein zugeschnürtes Weinen, und ich allein war sein Zeuge. Die Beschämung darüber hielt an: Wer weint zu helllichter Stunde? Wer stellt sich dermaßen bloß? Und nicht nur sich selbst, sondern auch mich, seinen Beobachter! Er sollte nicht weinen, nicht vor mir. Er sollte die Tür hinter sich zumachen. Er sollte das wissen. Dass Weinen Privatsache ist. Mich schauderte wie bei der Erinnerung an einen zerquetschten Leib auf dem Asphalt. Schaurig. Daneben zu stehen, dumm vor Betroffenheit. Die weiße Hand, merkwürdig verdreht, zeigte auf mich. Von allen Umstehenden auf mich. Ich wollte blind sein. Das Licht der Rettungswagen schrie mich an. Nie wieder, hatte ich mir geschworen, wollte ich teilhaben am Leid eines anderen. Er sollte das wissen. Dass Weinen und Sterben Privatsache sind.

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      Ein Räuspern. Er hatte sich gefasst. Eben noch mit zitterndem Kinn, nun wieder gerade und ohne zu blinzeln. Eine Zigarette zwischen den Lippen ging er hinter das Gebüsch. Ein Reißverschluss zurrte auf und wieder zu. Das Knacken von Ästen. Ich hatte zu viel gesehen. Noch bevor er zurückkam, war ich auf den Beinen und davongelaufen. Aus dem Park hinaus, über die Kreuzung, an Fujimotos Gemischtwarenhandlung vorbei. Nach Hause. In mein Zimmer. Das Einrasten des Schlosses. Ich war in Sicherheit. Staubiges Flirren, ich zog die Vorhänge zu.

      Am nächsten Morgen schlief ich länger als sonst. Ich überhörte das Läuten des Weckers nebenan, blieb liegen, schlief wieder ein. Träumte von einem unsichtbaren Faden, der mir die Luft zum Atmen nahm. Japsend wachte ich schließlich auf. Nichts war geschehen. Mit diesem Satz, nichts war geschehen, und seinen Folgesätzen, nichts geschieht, nichts wird jemals geschehen, machte ich mich auf den Weg.

      Als ich den Park betrat, saß er zusammengekrümmt über seiner Zeitung. Neben ihm die leere Bentō-Box. Er schnarchte. Die Giants und das Geheimnis ihres Erfolges, las ich, an ihm vorüberschleichend, auf seinen Knien. Die Krawatte hatte er aufgeknüpft. Sie baumelte lose um seinen Hals. Gekräuseltes Nackenhaar. Ich gab es auf. Und auch das war eine Entscheidung. Es aufzugeben und ihm, der da schnarchte, einen Namen zu geben. So weit war es gekommen, dass ich ihm einen Namen gab. Nicht Honda. Nicht Yamada. Nicht Kawaguchi. Ich nannte ihn einfach Krawatte. Der Name passte zu ihm. Rotgrau.

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      Krawatte also.

      Es ist die Krawatte, die Sie trägt, nicht umgekehrt. Später war das ein Scherz zwischen uns. Die Krawatte trägt Sie. Woraufhin er lächelte, dann lachte, in lautes Gebrüll losbrach. Du hast Recht. Es ist ein Irrtum, zu glauben, ich sei derjenige, der sie trägt. Ich trage nichts, gar nichts. Woraufhin er abrupt abbrach, dann schwieg, nur mehr schwieg. Hätte ich dieses Schweigen vorausgesehen, ich hätte ihm einen anderen Namen gegeben. Doch um seines Lachens willen, des Lachens, das seinem Schweigen voranging, hat es sich wohl gelohnt, ihn so zu nennen. Viel zu selten hat er gelacht.

      Der Name verpflichtete mich ihm. Wie davor schon ein vages Mitgefühl, begann ich, eine vage Verantwortung zu empfinden. Bei ihm zu sein, ihn nicht alleine zu lassen. Grotesk das, Verantwortung für einen Menschen zu empfinden, von dem man nicht mehr nur sagen konnte: Ich erkenne ihn wieder. Sondern: Ich kenne ihn. Ich weiß, wie er atmet, wenn er schläft. Der Name verwickelte mich. Nicht länger fühlte ich die Freiheit, einfach aufzustehen und davonzugehen. Dass ein Name solch eine Macht besitzt.

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      Ein halber Monat verging. Er erschien jeden Montag, Punkt neun, jeden Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag. Nur an den Wochenenden blieb er aus. Er fehlte mir dann. Ich hatte mich so weit an seine Anwesenheit gewöhnt, dass mir der Park in seiner Abwesenheit, meine eigene Anwesenheit darin irgendwie sinnlos vorkam. Ohne ihn, der mir Fragen aufgab, war ich ein Fragezeichen, das keinen Zweck erfüllt. Auf einem weißen Blatt Papier steht es da und fragt ins Leere hinein.

      Einmal, im Juni, es war ein wolkenschwerer Freitag, war er gerade dabei einzunicken, als es zu nieseln anfing. Er schreckte hoch, stülpte sich die Zeitung über den Kopf, während ich, vorsorglicher Freigänger, meinen Schirm aufspannte, die Beine einzog, mich ganz unter das schützende Dach kauerte. Erst tröpfelte es, aus Tropfen wurden bald Schnüre. Er streckte die Hände in den Regen, ließ die Zeitung fallen, schloss die Augen. Ich beobachtete, wie sich das Wasser in seinen Händen sammelte. Er hatte sie zu einem Becher geformt. Plitsch-platsch, es sprenkelte ihn an. Ich war überrascht. Kein Salaryman setzt sich gerne dem Regen aus. Ringsherum war der Park undeutlich verwaschen. Fliehende Leute überall. Kein Mensch, der gesund ist, setzt sich gerne dem Regen aus. Ganz und gar hingegeben, schien er, schon nass bis auf die Knochen, kein größeres Glück zu kennen als derart nass zu werden. Ich starrte gebannt auf sein glückliches Gesicht. Er öffnete die Augen. Blickte mich, unvermutet, durch den Regen hindurch an. Ich sprang auf. Damit hatte ich nicht gerechnet. Nicht mit diesem unvermuteten Blick, der um mich wusste. Ich bin nicht allein, stand darin, du bist da. Dann schloss er erneut die Augen.

      18

      Ich war aus meiner Unbemerktheit gefallen, aus meinem Gehäuse. Aber das stimmt so nicht. Sein Blick und die Anerkennung, die mir daraus entgegengeleuchtet war, hatten lediglich den Raum um mich herum ein wenig gelichtet. Morgens nickte er mir zu. Ich nickte zurück. Abends hob er die Hand, wenn er ging. Ich hob die meine. Ein stummes Einverständnis. Du bist da. Ich bin da. Wir haben beide das Recht, einfach nur da zu sein.

      Was sich zwischen uns verändert hatte, war bloß eines. Ich ahnte es. Dass ich jetzt, da er mich bemerkt hatte, ein Bild in ihm geworden war. Er hatte jetzt eine Vorstellung von mir, und seine tägliche Begrüßung galt


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