Ans Herz gelegt. Clemens Sedmak
– der Satz: „Ich kann mein Glück kaum fassen.“ Hier bräuchte ich ein Wort für das freudige, anfängerhaft ungläubige Staunen darüber, dass es wahr ist, dass es sich so zugetragen hat; ein Wort für das Gegenteil von Selbstverständlichkeit. Denn es ist ganz und gar unselbstverständlich, dass wir einander gefunden haben. Und doch: Ich suche auch nicht das Wort für das Gegenteil von Selbstverständlichkeit, weil die vertraute, vertrauende und alltagsschaffende Liebe ja an dem baut, was unausgesprochen bleibt und doch klar ist, also an Selbst-Verständlichem.
„Ich kann mein Glück kaum fassen“ ist dann ein Satz, der nicht nur atemlos und überwältigt gesprochen wird, sondern auch ruhig und gelassen; es ist nicht zu fassen, nicht auszuschöpfen und nicht auszuloten, dass und warum wir einander gefunden haben; das Glück ist, sozusagen, mit Händen greifbar, aber unfassbar.
Das war meine Erfahrung, als wir uns kennengelernt haben; und das ist sie immer noch. Unfassbares Glück. Dich zu lieben heißt für mich neu anzufangen. Immer wieder neu. Den Zauber des Anfangs nicht zu vergessen, den Zauber des Aufbrechens einer neuen Welt. Den Zauber auch, scheu an der Schwelle zu stehen. Dich zu lieben heißt für mich, zögernd an der Schwelle zu heiligem Boden zu stehen. Und dieser heilige Boden macht alles neu.
Per Andersson hat eine wunderschöne Liebesgeschichte aufgeschrieben: Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr, um dort seine große Liebe wiederzufinden. Es ist die wahre Geschichte von Pikay und Lotta, er: indischer Porträtzeichner, sie: schwedische Weltreisende. Sie begegnen einander in Neu-Delhi; sie reist nach Schweden zurück, sie sind getrennt und dann begibt er sich auf die abenteuerliche 7000-Kilometer-Reise nach Schweden – mit dem Fahrrad. Ein Abenteuer, das ihn auch nach Österreich führt, nach Wien mit seinen massiven Häusern, sauberen Straßen, ordentlich gekleideten Menschen und der beherrschten Ruhe. So erlebt er es wenigstens.
Irgendwo in diesem Buch steht der Satz „,Du hast mich an Gott glauben gemacht‘, hatte sie zu ihm gesagt.“ Der Satz erinnert mich an den Grundgedanken in Yann Martels Buch Life of Pi, deutsch: Schiffbruch mit Tiger; im Vorspann zu diesem mit dem Booker-Preis ausgezeichneten und auch aufwändig verfilmten Buch heißt es: „Ich habe eine Geschichte, die Ihnen den Glauben an Gott geben wird.“ Diese schlichte Aussage ist eine ungeheure Ankündigung am Anfang einer Geschichte, die einen an den Rand der Vorstellungskraft bringt, eine Geschichte von einem Schiffbruch mit Tiger. Die Geschichte hat die Kraft, den Glauben an das, woran nur geglaubt werden kann, zu stärken.
So geht es mir mit unserer Liebe – „einen Menschen zu lieben heißt, das Antlitz Gottes zu sehen“, hatten wir schon bald erkannt. Pikay hat die Liebe erfahren als das, was dir die Kraft gibt, zu vergeben. Seit er Lotta gefunden hat, hat er, der Kastenlose, der so oft in seinem Leben gedemütigt worden war, keine Rachegefühle mehr verspürt. Einen Menschen zu lieben heißt, vergeben zu können.
Pikays Vater hat auch wichtige Gedanken über die Liebe – er sagt feierlich zu seinem Sohn: „Sorge dafür, dass sie niemals Grund hat zu weinen.“ Und: „Wenn doch einmal Tränen über ihre Wangen laufen, dann lass nie zu, dass diese Tränen auf den Boden fallen“ – das bedeutet: Du musst immer zugegen sein, um deine Frau zu trösten. Einen Menschen zu lieben heißt, die Tränen des geliebten Menschen aufzufangen. Wir beide wissen, dass das eine erlittene Einsicht sein kann.
Das sind tiefe Gedanken, die natürlich nicht vergessen lassen sollen, dass unsere Liebe vor allem auch mitAlltag zu tun hat, mit aufregenden Dingen wie kaputten Kaffeemaschinen, verstopften Toiletten, Autoreparaturen, Wäschewaschen und Schuldenbezahlen. Alles ist auf seine Weise Ausdruck von Liebe, von Bindung, von „Wir“, von gemeinsamem und geteiltem Leben. „Alles Gewöhnliche, aber nicht auf gewöhnliche Weise“ (omnia communia sed non communiter), so steht es im Tagebuch von Papst Johannes XXIII., der sich als Vertreter des Vatikans in Bulgarien recht verloren vorkam, einsam war und sich vor allem auch mit gewöhnlichen Tätigkeiten tröstete. Dich zu lieben heißt für mich auch: Alltag bauen und Alltag durchtragen. Geschirr und Gedecke, Wäsche und Reifenwechsel.
Durch die Weite und Festigkeit des Alltags finde ich einen dritten Ankersatz: „Maria, du bist es.“ Das ist der dritte Satz, an dem ich mich festhalte; im Evangelium werden ja die Apostel nachts im Boot mit der Einsicht beschenkt: „Fürchtet euch nicht, ich bin es!“ (Matthäus 14,27). Ich erfahre das Leben mit Dir als die beglückende Einlösung des Satzes „Freu dich, ich bin es“. Du bist es, die, auf die ich zugegangen bin; die, mit der ich gehen darf.
Im Japanischen gibt es ein schönes Bild für die Liebe zwischen zwei Menschen – sich unter einem gemeinsamen Schirm finden. Ai-ai-gasa ist ein Begriff, der auf die Zeit zurückgeht, in der Mann und Frau einander in der Öffentlichkeit nicht nahe sein und nahekommen konnten; eine der seltenen Gelegenheiten, ein wenig Körperkontakt zu haben, war das Zusammenrücken unter einem Schirm an einem Regentag. Einen Schirm zu teilen wurde dann zum Symbol für die Liebe.
Einen Menschen zu lieben heißt, ihm Schutz unter einem Schirm anzubieten, mit ihm einen Schirm zu teilen, der vor Regen schützt. Ich habe einmal gehört, wie jemand einem Kind erklärt hat: „Ein Schirm ist ein Dach aus Stoff mit einem Stock daran.“ Das ist vielleicht keine geschliffene Definition, aber eindrücklich und verständlich. Ein aufgespannter Schirm gibt ein Dach über dem Kopf, schützt vor einer gewissen Form der „Obdach-Losigkeit“, der Schutzlosigkeit.
Liebe schützt; Liebe hält Regen ab, Liebe lässt zwei Menschen zusammenrücken; wenn wir unter einem Schirm gehen, spüre ich Dich, wir müssen eng nebeneinander gehen, um unter einem Schirm Platz zu finden. Das Gehen unter einem gemeinsamen Schirm kann nur dann gelingen, wenn wir gemeinsam Rhythmus und Takt suchen. Dann bleiben wir im Trockenen. Ich habe Deinem Vater versprochen, Dich nach Kräften vor Nässe und Kälte zu schützen – auch vor der Nässe von Tränen, die nicht zu Boden fallen dürfen.
Dich liebend, Dein Mann
„MICH AUFWECKEN
LASSEN“
An meine Tochter Magdalena
Liebe Magdalena,
Du warst immer ein aufgewecktes Kind; das weißt Du. Ein aufgewecktes Kind nimmt die Welt und die Menschen wahr, ist wach und wachsam, aufmerksam und neugierig, interessiert und engagiert, geht auf die Welt zu, gestaltet diese Welt.
Der heilige Thomas von Aquin hat die Dummheit als „Abstumpfung der Sinne“ beschrieben, als Eigenschaft von Menschen, die halbschlafend durchs Leben taumeln, nicht hören und zuhören, nicht sehen und beobachten, eher gelangweilt als inspiriert sind von dem, was ist. Da hat er nicht von Dir gesprochen.
Du warst immer ein aufgewecktes Kind. Und ein aufweckendes Kind, ein Kind, das nicht immer eingeschlafen ist, wenn wir als Eltern meinten, es wäre an der Zeit. Du weißt: Wir haben Deine ersten beiden Lebensjahre in Chicago verbracht, ich hatte damals ein Stipendium und kaum andere Verpflichtungen und war viel daheim und viel mit Dir unterwegs. Deine Mama und ich sind stundenlang mit dem Kinderwagen spazieren gegangen, durch die schönen Straßen von Hyde Park, Du hast selig geschlummert und abends haben sich Deine unerfahrenen Eltern, fernab von eigenen Eltern und kindeserfahrenen Menschen, gewundert, dass Du nicht eingeschlafen bist. Dein lautstarker Protest gegen die Zumutung, schon wieder einschlafen zu sollen, hat uns selbst vom Schlafen abgehalten oder auch in der Nacht aufgeweckt. Einmal bin ich in meiner Verzweiflung, weil Dich sanftes Schaukeln am ehesten schlafen ließ, mit unserem alten großen schiffsartigen Chevrolet um Mitternacht in die Stadt hineingefahren, und in der Tat, Du bist weggedämmert. Ich sehe noch die Lichter von Chicago vor mir und erinnere mich an die Dankbarkeit, im sicheren Auto zu sitzen, die Kulisse zu erleben – und ein schlafendes (!) Kind im Auto zu haben.
Natürlich hast Du als Baby das gemacht, was junge Eltern auf dem Weg zur Heiligkeit weiterbringen sollte (ja, das steht im Konzilsdokument Gaudium et Spes unter Nummer 48: „Die Kinder als lebendige Glieder der Familie tragen auf ihre Weise zur Heiligung der Eltern bei“). Du hast uns also „auf Deine Weise“ geholfen, bessere Menschen zu werden: Du hast uns den Schlaf geraubt; da waren Hunger, die Kämpfe mit der Verdauung, Unwohlsein wegen voller Windeln, das Gebrüll und das Weinen als einstmals einzige Antwort. So hast Du uns immer wieder aufgeweckt. Nacht