Nur wenn ich lebe. Terri Blackstock
Handy ist kaputtgegangen und ich war so sehr mit der Jagd nach Casey beschäftigt, dass ich es bis jetzt noch nicht ersetzen konnte.“
„Das habe ich bemerkt“, sagt Keegan. „Sie haben den ganzen Spaß verpasst.“
„Ich war schon vor Ihnen am Tatort“, sage ich, weil ich weiß, dass er auch darüber Bescheid weiß. „Direkt nach dem Schuss bin ich angekommen und sofort hinter Casey her. Nachdem ich sie nicht finden konnte, habe ich die Krankenhäuser abgeklappert und überall ihr Bild herumgezeigt. Ich wollte wissen, ob sie irgendwo ihre Schusswunde behandeln lassen hat.“
Keegan zögert kurz, bevor er sagt: „Wir wissen bereits, dass sie in die Toilette einer Tankstelle gegangen ist. Bevor wir dort ankamen, war sie schon wieder verschwunden, aber auch ihre Blutspur endet dort. Entweder hat sie sich selbst genäht oder jemand hat sie dort abgeholt.“
„Keine Ahnung“, sage ich. „Casey wirkt eher wie eine Einzelgängerin. Ich bezweifle, dass sie irgendwelche Freunde hat, die ihr zuliebe das Gesetz brechen würden.“
„Ich traue ihr alles zu“, grummelt Keegan. „Ich traue Ihnen alles zu. Vielleicht sind Sie derjenige, der ihr geholfen hat.“
Meine Nackenmuskeln verkrampfen und ich spüre, wie starke Kopfschmerzen meinen Hinterkopf hinaufkriechen. „Ich habe sie nicht entkommen lassen“, sage ich. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich auf der Suche nach ihr war.“
„Wieso dachten die dann, Sie wären ich? Diese Leute, die Casey angeschossen haben.“
„Ich habe nicht behauptet, ich sei Sie“, gebe ich zurück. „Als ich dort auftauchte, schien es, als hätten die Leute mich erwartet. Also, was hat es mit ihnen auf sich?“
„Sie wurden von der Polizei in Dallas verhaftet“, sagt Keegan. „Können Sie das glauben? Endlich hilft uns jemand auf der Suche nach Casey und dann erschwert uns die Polizei in Dallas die Arbeit, weil sie wichtige Zeugen wegen irgendeines Kindesmissbrauchs einsperren.“
„Irgendeines Kindesmissbrauchs?“, frage ich. „Meinen Sie den sexuellen Missbrauch eines siebenjährigen Mädchens? Die für Drogen verkauft wurde?“
„Okay, diese Menschen haben es verdient. Trotzdem hat es unserem Fall einen Stoß versetzt. Als Zeugen sind sie jetzt jedenfalls nicht mehr zu gebrauchen. Zum Glück waren das nicht die einzigen. Caseys Arbeitskollegen, Leute, die sie mit diesem Cole Whittington in Verbindung bringen – Sie wissen schon, der Mann, der von der Klippe gefahren ist –, und Leute, bei denen Casey sich ein Zimmer gemietet hat, wollen ebenfalls aussagen.“
Dass Casey absolut nichts mit Cole Whittingtons Tod zu tun hat, wage ich nicht, ihm zu sagen. Sie hatte versucht, dem Mann das Leben zu retten.
„Die Trendalls sind also im Gefängnis? Und auch ihr Dealer? Alle?“, frage ich.
„Habe ich doch gesagt.“
„Und das Kind befindet sich bei Pflegeeltern?“, hake ich weiter nach.
„Soweit ich weiß. Sind Sie auf dem Rückweg?“
Meine mangelnden Schauspielkünste reichen nicht aus, um Keegan noch länger anzulügen. So schnell wie möglich muss ich das Gespräch beenden. Ich teile Keegan also noch ein paar Pläne mit, wie ich Casey in Dallas finden will, und er akzeptiert das. Offenbar hat er auch keine Lust, das Gespräch in die Länge zu ziehen. Er will niemanden außer Rollins um sich haben, wenn er Casey findet. Damit er mit ihr machen kann, was er will. Und dann wird er erzählen, dass sie bewaffnet war und auf die beiden schießen wollte und Rollins und er dazu gezwungen waren, Casey niederzustrecken.
Nachdem ich aufgelegt habe, frage ich mich: Was würde ich tun, wenn ich Casey wirklich jagen würde? Wahrscheinlich würde ich den Detectives aus Dallas einen Besuch abstatten und so tun, als wüsste ich noch nichts über die Verhaftung der Trendalls oder den Verbleib der kleinen Ava. Wenn ich sonst nichts machen kann, dann kann ich wenigstens Caseys Sorge um das kleine Mädchen lindern.
3
Casey
Ich weiß nicht einmal, in welcher Stadt ich mich gerade befinde. Trotzdem checke ich in einem No-Name-Motel ein und wechsle meinen Verband. Während ich mich auf dem Bett ausstrecke, läuft nebenher der Fernseher. Etwa alle Viertelstunde gibt es Nachrichten vom aktuellen Stand der Ermittlungen. Langsam wird es langweilig.
Ich döse ein, bis mich eine Eilmeldung aus dem Schlaf reißt.
„…mögliche Anklage gegen Casey Cox. Hören wir, was der Staatsanwalt aus Caddo Parish in Shreveport zu sagen hat.“
Erschrocken starre ich auf den Bildschirm. Sofort schnappe ich mir die Fernbedienung und drehe den Ton auf. Die Kamera richtet sich auf einen Mann, der hinter den Mikrofonen am Funktisch steht. Wo habe ich den schon einmal gesehen? Vielleicht bei einer Wahl oder als die Nachrichten schon einmal über mich berichtet haben. Ehrlich gesagt weiß ich es nicht mehr. Seine Einleitung habe ich bereits verpasst.
„Die Untersuchungen darüber, was Casey Cox mit dem Mord an Brent Pace im Mai zu tun haben könnte, wurden soeben abgeschlossen. Das Geschworenengericht hat die Klage gegen Miss Cox bestätigt, da sie direkt nach dem Mord spurlos verschwand.“
Ich fühle mich, als hätte mich jemand in den Magen geboxt. So musste es ja kommen … Jetzt bin ich nicht nur als Verdächtige auf der Flucht vor der Polizei, sondern bereits Angeklagte in einem Mordfall.
„Wir vermuten, dass Miss Cox an jenem Tag in ihrer Mittagspause Mr Pace einen Besuch abstattete. Dann passierte wahrscheinlich Folgendes: Als er die Tür öffnete, stach sie mehrmals auf ihn ein.“
Es wundert mich nicht, dass sie das glauben. Aber ich habe gesehen, wie brutal Brent ermordet wurde. Traut mir tatsächlich jemand zu, meinem besten Freund so etwas Abscheuliches anzutun? Das verstört mich am meisten.
„Während er in seinem eigenen Blut lag, ging sie in sein Haus und hinterließ dort jede Menge Finger- und Fußabdrücke und andere DNA-Spuren. Anschließend nahm sie das Messer mit zu ihrem Auto. Dort wurde es später gefunden, mitsamt der Blutspuren, die sich noch an ihrer Hand befanden, als sie die Türen öffnete und das Auto startete. In ihrer Wohnung konnten die Blutspuren ebenfalls nachgewiesen werden. Erst wechselte Miss Cox ihre Kleidung, dann rief sie ein Taxi, um zum Busbahnhof zu kommen. Von dort aus fuhr sie mit einigen Zwischenstopps nach Durant, Oklahoma und später nach Atlanta, Georgia. Letztlich führte ihr Weg nach Shady Grove, wo sie einige Zeit lebte.“
Ich bekomme eine Gänsehaut, weil er meine einzelnen Schritte so genau kennt, und gehe ans Fenster. Eigentlich erwarte ich, dass es auf dem Parkplatz von Polizisten nur so wimmelt. Aber da ist keiner.
„Viele von Ihnen wissen über Miss Cox’ heldenhafte Taten in Shady Grove Bescheid. Dennoch dürfen Sie nicht vergessen, welchen grausamen Mord sie begangen hat, bevor sie nach Shady Grove kam. Nach diesen Vorkommnissen floh sie weiter nach Dallas, Texas. Dort wurde sie als Letztes gesehen, auch wenn sie ein weiteres Mal entkommen konnte. Wir sind überzeugt davon, dass Casey Cox bewaffnet, gefährlich und darüber hinaus eine meisterhafte Verwandlungskünstlerin ist. Ihre Augen haben einen hohen Wiedererkennungswert. Deshalb raten wir der Bevölkerung, nach den mandelförmigen Augen Ausschau zu halten und sich nicht von der Farbe ihrer Haare oder dem Make-up ablenken zu lassen, das sie eventuell trägt. Casey Cox ist etwa 1,68 Meter groß und wiegt um die 55 Kilo. Außerdem glauben wir, dass sie sich von einer Schusswunde an ihrer rechten Schulter erholt.“
Vorsichtig berühre ich meine Schulter und sehe in den Spiegel.
„Wir raten den Bürgern und Bürgerinnen, sofort die Polizei zu verständigen, sollten sie die Gesuchte zu Gesicht bekommen. Versuchen Sie auf keinen Fall, Miss Cox auf eigene Faust zu fangen oder sie zu verfolgen. Ich wiederhole: Sie könnte bewaffnet und gefährlich sein.“
Ich seufze. Ich habe weder eine Schusswaffe noch ein Messer. Nicht mal einen Nagelknipser habe ich dabei.
„Zu guter Letzt: Wenn Sie das hier hören, Miss Cox, dann rate ich Ihnen, sich bei der nächstgelegenen