Das deutsche Zimmer. Carla Maliandi

Das deutsche Zimmer - Carla Maliandi


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ich mich anziehe, sage ich vor mich hin, was ich davor nicht zu ihm gesagt habe: »Was schaust du so? Klopf bloß nicht nochmal so früh bei mir an, verpeilter Tucumaner.«

      Ich gehe in den Speisesaal hinunter, der Anblick der frühstückenden Studenten unterscheidet sich in nichts von dem des Vortags, abgesehen davon, dass jetzt ein Bekannter unter ihnen ist. Dort drüben steht er, in der Schlange vor der Kaffeemaschine. Als er mich sieht, hebt er den Arm und schwenkt einen Teelöffel. »Hier, hier bin ich!«, ruft er.

      Als wir schließlich zusammen am Tisch sitzen, erklärt der Tucumaner, dass Kaffee und Milch vom Wohnheim gestellt werden, alles Übrige müssen die Studenten selbst kaufen und mit Schildchen versehen, wenn sie es im Kühlschrank aufbewahren wollen. Da ich noch nichts zum Frühstücken habe, sagt er, ich soll mir von seinen Sachen nehmen, und fügt hinzu, dass die Läden hier am Sonntag zu haben, weshalb ich heute auf dem Rückweg vom Schloss unbedingt noch einkaufen sollte. Der Tucumaner hat unter anderem Schinken, Frischkäse und Süßkartoffelgelee anzubieten. Er öffnet eine Tupperdose und zeigt mir die dick mit Mayonnaise bestrichenen Sandwichs darin. Er sagt, er hat sie für unseren Ausflug gemacht, schon ganz früh heute Morgen, als ich noch schlief.

      Das Schloss liegt hoch über der Stadt, der Weg vom Wohnheim bis dorthin dauert etwa eine Stunde. Der Tucumaner geht mit seiner Kamera voraus. Alle zehn Schritte dreht er sich um, kommentiert etwas oder macht ein Foto von mir. Während er durch den Sucher blickt, lässt er sich über meine Frisur aus, er sagt, die langen Haare hätten mir viel besser gestanden. Ich sage mir, dass wir uns noch kaum kennen, eigentlich dürfte er nicht so offen mit mir sprechen, aber die Umgebung ist viel zu schön, als dass ich meinem Begleiter irgendetwas übelnehmen könnte. Auf halber Strecke fühle ich mich plötzlich sehr müde und muss eine Pause einlegen. Miguel Javier macht sich über mich lustig. Eine amerikanische Familie, die ein kleines Stück entfernt hinter uns herging, holt uns ein und fragt, ob wir sie fotografieren können. Die Eltern sind um die vierzig, ihre drei Kinder irgendwas zwischen fünf und zwölf. Sie posieren wie professionelle Fotomodels. Als ich ihre Kamera zurückgebe, umarmt der Jüngste mich. Die Mutter zerrt ihn am Arm fort, und sie gehen weiter. Ich muss an den Traum von der Ankunftsnacht denken, an die kleine Hand des Kindes, das sich immer wieder losriss, während wir vor dem Bauern davonrannten, der meine Brüste anstarrte. Der Tucumaner sieht mich an und sagt, ich sei ganz blass. Er öffnet den Rucksack, holt die Tupperdose raus und bietet mir ein Sandwich an. Ich sage, dass ich nichts möchte, dass mir nicht gut ist – und trete an den Wegrand und übergebe mich. Der Tucumaner hält mir die Stirn, und als ich alles von mir gegeben habe, reicht er mir seine Wasserflasche und eine Serviette, damit ich mich saubermachen kann. Eine Weile sitzen wir schweigend da. Von hier oben sieht man den Fluss, der durch Heidelberg fließt, die roten Dächer und die Kirchenkuppeln. Schließlich sage ich zu dem Tucumaner, dass es mir wieder besser geht, und stehe auf, um den Weg fortzusetzen. »Wenn du mich fragst, bist du in anderen Umständen«, sagt er und erhebt sich. »In was für Umständen?«, frage ich wie gelähmt. »Du bist schwanger«, erwidert er und spricht auf dem restlichen Weg kein Wort mehr mit mir.

      Der Eintritt ins Schloss kostet zehn Euro, die wir ein wenig geknickt bezahlen. An der Tür erklärt man uns, die Führung auf Spanisch beginne in zehn Minuten, wir sollten bitte warten. Miguel Javier sieht mich nicht an und sagt weiterhin nichts, man könnte meinen, er kennt mich überhaupt nicht inmitten all der Touristen. Ich breche das Schweigen.

      »Woher weißt du das?«

      »Was?«

      »Woher weißt du beziehungsweise wie hast du gemerkt, dass ich schwanger … sein könnte?«

      Der Tucumaner sieht mich auf einmal ganz anders an. Sein Gesicht, das mir im ersten Moment etwas kindlich vorkam, wirkt jetzt reif, als wäre er ein Träger uralten Wissens.

      »Ich habe sechs Schwestern und fast zwanzig Nichten und Neffen. Bei jeder und jedem habe ich die Schwangerschaft mitbekommen, mit allem, was dazugehört, ich weiß, wie das abläuft. Und du hast dich nicht nur gerade übergeben, man sieht es dir auch am Blick an.«

      »Was ist denn mit meinem Blick?«

      »Deine Augen glänzen irgendwie, als wärst du betrunken.«

      »Du kennst mich doch gar nicht, vielleicht sehe ich ja immer so aus.«

      »Kann sein, aber an deiner Stelle würde ich schleunigst einen Test machen und dem Vater Bescheid geben.«

      Da kommt der Touristenführer und sagt, wir sollen uns bitte im Halbkreis vor ihm aufstellen, weil es jetzt losgeht.

      4

      Ich warte noch drei Tage, bis ich den Schwangerschaftstest mache. Ich stelle idiotische Berechnungen an – wenn der Juli einunddreißig Tage hat und der August auch, hätte die letzte Menstruation … Keine Ahnung. Vom letzten Monat mit Santiago erinnere ich so gut wie nichts, bloß die Streitereien, die verletzenden Äußerungen, das dunkle Zimmer, Santiagos Körper auf mir, wir sehen uns aber nicht an, alles ist viel zu traurig. Ich weiß auch nicht mehr, wann ich das letzte Mal meine Tage hatte. Dafür weiß ich noch genau, wie ich eines Nachts zu Leonardo kam, wir haben eine Unmenge Wodka getrunken, und ich habe ihm erzählt, dass ich dabei bin, mich zu trennen, da hat er gesagt, ich soll bei ihm übernachten, irgendwann saß ich dann auf ihm, in seinem Bett, und als es draußen langsam wieder hell wurde, lag er neben mir und schnarchte, und ich wollte bloß noch fort, an einen Ort nur für mich, weit weg von allem.

      Ich gebe mir große Mühe, mich daran zu erinnern, wann ich zum letzten Mal mit Blutflecken, Binden und Ibuevanol zu tun hatte, aber ich komme einfach nicht darauf. Ich ärgere mich, dass ich lauter Sachen aus dem Gedächtnis hervorkramen soll, ich bin doch gerade deshalb so weit weggefahren, damit ich mich von alldem erholen kann. Dann sage ich mir, kann ja sein, dass es bald losgeht. Am Morgen bleibe ich ewig lang im Bett, fürs Frühstück ist es deshalb zu spät, mittags mache ich einen Spaziergang, und danach lege ich mich gleich wieder hin. Einmal komme ich mit einer Japanerin aus dem Wohnheim ins Gespräch, sie ist sympathisch, studiert deutsche Philologie und heißt Shanice. Sie ist fast die einzige Person, mit der ich mich in diesen Tagen unterhalte. Ich merke, dass auch sie auf der Flucht ist, allerdings hat sie die Sache viel besser organisiert. Ein Studium in Deutschland ist für Japaner offenbar so etwas wie eine große Party. Wie die meisten Studenten hier im Wohnheim ist auch Shanice mehrere Jahre jünger als ich. Einmal erzählt sie, dass sie beschlossen hat, aus Japan fortzugehen, nachdem zwei Studienkollegen von ihr Selbstmord begangen hatten. Lächelnd sagt sie: »Es ist so einfach, sich vor einen Zug zu werfen, das ist ganz leicht, auch wenn es einem eigentlich gut geht, kann man das machen.«

      Miguel Javier steht sehr früh auf und verbringt fast den ganzen Tag in der Universität, wir laufen uns kaum noch über den Weg. Ich lasse also drei Tage verstreichen, aber es tut sich immer noch nichts. Ich weiß nicht, wie ich hier an einen Schwangerschaftstest kommen soll. Ich frage Shanice, ob sie mir helfen kann. Sie hört aufmerksam zu und übernimmt die Sache, als handelte es sich um einen Geheimauftrag, bei dessen Erledigung uns nicht der geringste Fehler unterlaufen darf.

      Schon bald steht sie wieder vor mir in meinem Zimmer und übergibt mir eine Schachtel, die sie in der Apotheke gekauft hat. Zusammen lesen wir die dreisprachige Gebrauchsanweisung – in das Döschen pinkeln, den Teststreifen reinlegen, drei Minuten warten, ist anschließend nur ein Strich zu sehen, ist das Ergebnis negativ, sind es zwei Striche, heißt das: positiv. Ganz einfach, also, los geht’s. Ich bedanke mich bei Shanice, aber sie bleibt vor mir stehen. Sie sieht mich an und erwartet offensichtlich, dass ich jetzt ins Bad gehe und ihr danach sage, was rausgekommen ist. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und sage, sie soll mich bitte allein lassen. Nein, erwidert sie, in so einer Situation lässt sie mich doch nicht allein. Sie steht da wie ein japanischer Soldat, und ich habe das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein. Andererseits weiß ich nicht, wie ich ihr in diesem Augenblick etwas klarmachen soll, was auch immer, mir fehlt die Kraft dazu. Schließlich nehme ich die Schachtel mit dem Test und gehe ins Bad. Ich mache alles genau, wie es in der Gebrauchsanweisung steht: Ich pinkle in das Döschen, stelle es auf den Boden und lege den Streifen hinein. Dann warte ich, wie angegeben, drei Minuten. Währenddessen versuche ich, mich mit meinem Spiegelbild abzulenken. Ich werde meiner Mutter immer


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