Taugenixen. Isabel Rohner
verabschiedete sich Linn vom Fahrer und schnappte sich ihren Koffer.
»Das tu ich auch. Darauf kannst du einen lassen. In diesem Urlaub ist Trennkost angesagt. Und Sport.«
Linn musste sich Mühe geben, nicht laut loszulachen. »Als ob du in deinem Leben schon mal Sport gemacht hast!«
Die Barocke sah sie strafend an: »Aber natürlich. Ich war sogar mal Dritte bei den Bergisch Gladbacher Kreismeisterschaften.«
»Im Schnittchenschmieren?«
»Im Bodenturnen!«, rief Bettina Heidenreich empört. »Und jetzt halt die Klappe. Ich habe jedenfalls keine Lust, mit fünfzig Diabetes zu bekommen. Wir wissen ja, wohin das führen kann.«
»Bitte nicht!«, stöhnte Linn. »Diabetes schlägt aufs Gehirn und führt zu Mord und Totschlag. Ich habe keine Lust, wie die Pillerin zu enden!«
»Piller ist aber nur indirekt an den Folgen von Diabetes gestorben. Und das hatte ja auch sein Gutes. Jedenfalls für uns.«
Vor vier Jahren war Bettinas damalige Arbeitskollegin Gabriele Piller ermordet worden. Damals hatte Bettina noch als Assistentin im Bereich Oper und Theater der Kölner Künstleragentur Ars Artis gearbeitet und damit gehadert, ob sie ihr endlos langes Studium der Kunstgeschichte nicht vielleicht doch einmal abschließen sollte. Doch dann war sie in Pillers Nachfolge Bereichsleiterin geworden und schließlich sogar zur Geschäftsführerin aufgestiegen. Denn die Agenturchefin und ihre rechte Hand hatten sich bald darauf entschlossen, Deutschland den Rücken zu kehren und sich auf eine einsame Finca nach Mallorca abzusetzen. Bettina hatte vom Tod der ungeliebten Kollegin, die sie zärtlich »blöde Sumpfkuh« nannte, also durchaus profitiert. Mit der gut gehenden Agentur verdiente sie mehr als reichlich. Aber auch für Linn hatte der Mordfall sein Gutes: Zu der Zeit steckte sie in großen Schwierigkeiten mit ihrem Verlag, der nach dem Blitzerfolg ihres Erstlings Weiberherz endlich wieder ein Konzept sehen wollte. Verleger Jo Hartmann hatte ihr sogar ein Ultimatum gestellt: Wenn sie nicht innerhalb von drei Tagen eine neue Buchidee vorlegte, würde er sämtliche Verträge canceln. In einer Nacht- und Nebel-Aktion gelang es Linn, die neue Buchidee aus dem Mordfall Gabriele Piller zu entwickeln. Der Krimi Schöner Morden erschien sechs Monate darauf und ging durch die Decke. Immerhin fünf Wochen lang stand er auf der Spiegel-Bestsellerliste direkt hinter dem Alte-weiße-Männer-Buch von Sophie Passmann. Linns Zukunft als Autorin war damit mehr oder weniger gesichert.
»Pass auf, dass durch deine Sport- und Diätanfälle nicht auch deine Empathiefähigkeit abnimmt. Sonst bleibt da nichts mehr übrig.« Linn wischte sich den Schweiß von der Stirn. Jenseits des klimatisierten Taxis waren es auf dem Asphalt gefühlte sechzig Grad.
»Wer hat, der hat, Frau Bestseller. Und es geschieht der Pillerin ganz recht, dass wir durch sie haben. Wir haben lange genug unter ihr gelitten. Das nenne ich ausgleichende Gerechtigkeit.« Und nach einer kleinen Pause fügte Bettina irritiert hinzu: »Warum hat uns der Fahrer eigentlich nicht bis vors Hotel gebracht? Hier gibt es ja weit und breit gar nichts.«
»Liebe Frau Heidenreich, vielleicht könntest du das nächste Mal einfach mal zuhören – oder dich wenigstens umschauen. Siehst du hier etwa eine befahrbare Straße? Nein! Wir wohnen da drüben auf der kleinen Halbinsel, da kann man nicht mit dem Auto hin. Das hat der Taxifahrer doch gerade gesagt.« Linn zeigte in Richtung einer wild bewachsenen Klippe, einen knappen Kilometer vom Parkplatz entfernt.
»Mit dem ganzen Gepäck dauert das doch Stunden, bis wir da sind«, stöhnte Bettina. »Was ist das denn für ein Mist?«
Linn griff demonstrativ nach ihrem Koffer. »Erstens: Du wolltest doch Sport machen. Und zweitens: Wer hat denn das Hotel gebucht?«
»Das nächste Mal kannst du dich ja um alles kümmern, und ich leg mich bequem zurück. Da habe ich absolut nichts dagegen. Außerdem ist es ein Hostal und kein Hotel. Auf der Homepage stand auch, dass die nur ganz wenige Zimmer haben. Klein und schnuckelig.«
»Schnuckelig? Klingt in meinen Ohren echt schlimm … Na, wenigstens weiß ich jetzt, warum das hier Acantilado de las Olvidadas heißt. Kein Wunder, es ist ganz schön abgelegen hier!«
Bettina warf einen lustlosen Blick auf ihr Reisegepäck. »Wenigstens sind wir am Meer. Und gleich werde ich mich mit einem Cocktail auf die Terrasse legen.«
Das Duo Kegel und Heidenreich schleppte sich und ihre Habe über den schmalen, staubigen Küstenweg, der vom Parkplatz auf die Halbinsel führte.
»Wie machen die das nur mit dem Essen und allem«, schnaufte Bettina schon nach wenigen Metern. »Auf dem Küstenweg kann ja noch nicht mal ein Smart fahren. Schleppen die alles täglich hier rüber?«
»Sieht so aus«, erwiderte Linn. Der Schweiß rann ihr aus allen Poren. »Wenn das meine Mutter sehen könnte. Die bekäme einen Schock, wenn sie wüsste, wo ich gelandet bin.«
»Sucht sie immer noch einen Mann für dich?«, fragte Bettina ungläubig.
Linn rollte mit den Augen und fuhr sich durch die roten Haare. »Kann ich dir sagen. Vor zwei Tagen hat sie mir noch mal viel Glück gewünscht: ›Chind, die meischtä Männer lernt ä Frau i dä Feriä kennä!‹ Aber ich glaube, in diesem Fall irrt sie sich. So einsam, wie das hier ist.«
»Na, hoffentlich auch! Männer können mir echt gestohlen bleiben. Ich will beim Sportmachen nicht auch noch Zuschauer haben. Und das eine Exemplar, das bei mir zu Hause faul auf dem Sofa rumhängt und meint, wenn es zum Fußballgucken einen Trainingsanzug anzieht, laufen die Spieler im Fernsehen schneller, reicht mir völlig.«
»Vielen Dank für dein Mitgefühl«, erwiderte Linn. »Und wer erklärt das meiner Mutter? ›Chind, du bisch jetzt denn vierädriißgi, jetzt sötsch aber mol vorwärts machä!‹«
Bettina musste grinsen. Aus ihrer Sicht war Schweizerdeutsch wie gemacht fürs Kabarett. Warum hatte das bislang nach Emil nur Hazel Brugger verstanden?
»Na, wir können ja mal schauen, wer im Hostal gleich so rumläuft! Vielleicht gibt es einen, der dich vor einem vierunddreißigsten Geburtstag als Single bewahren kann? Der Vorteil bei dieser geografischen Lage ist ja: Wenn man einmal dort ist, geht man da auch nicht mehr weg.«
Linn lachte kehlig: »Wenn das Hostal wirklich schnuckelig ist, wird mich da nichts halten.«
»Höchstens was Schuckeliges«, amüsierte sich Bettina, so gut es ihr Gepäck zuließ.
»Ach, halt doch die Klappe, Frau Heidenreich. Wir haben’s gleich geschafft.«
Das Hostal de las Rocas war ein schönes altes Gebäude, umgeben von Pinien und ganzen Hecken aus violett blühenden Oleanderbüschen. Es war offensichtlich erst vor kurzem renoviert worden. Die Fassade leuchtete blendend weiß, und überhaupt machte es einen Eindruck wie frisch geputzt.
Kurz vor dem Eingang kamen ihnen zwei Händchen haltende ältere Männer mit Gepäck entgegen, die offensichtlich gerade abreisten.
»Touché!« Linn lachte zufrieden. »Wenn’s mit dem Urlaub so weitergeht, wird meine Mutter arg enttäuscht sein.«
»Warum? Das waren gleich zwei Männer, die du hättest kennenlernen können«, feixte Bettina achselzuckend zurück. »Die sahen sehr nett aus.«
Sie schleppten sich und das ganze Gepäck weiter und betraten schließlich das Hotel. Der Empfangsraum war recht klein, aber angenehm kühl. Aufatmend ließen sie ihre Koffer und Taschen zu Boden fallen.
Hinter dem Rezeptionstresen stand eine adrette Frau Mitte vierzig, die die beiden sogleich merklich schwäbelnd begrüßte: »Herzlich willkommen im Hoschtal de las Rocas! Wenn das mal nicht die Frau Kegel und Frau Heidenreich sind! Ich bin Petra Knaus. Mir gehört das Hoschtal. Aber meine Freunde und alle Gäste nennen mich Pe.« Den Namen begleitete ein perlendes Lachen. »Ich hoffe, Sie hatten keine Schwierigkeiten, herzufinden. Der Weg über die Klippen ist ja für uns Deutsche durchaus etwas gewöhnungsbedürftig. Sie müssen sich mal vorstellen: Wir haben unseren ganzen Umzug über diesen kleinen Klippenweg gemacht!« Die Frau kicherte bei der Erinnerung daran. »Unsere Hausfee Daphne hat Ihr Zimmer gerade hergerichtet. Bitte schön: die Nummer