Lockdown 2020. Rolf Gössner
in Österreich: ein unveröffentlichtes Sitzungsprotokoll der „Task Force“ vom 12. März 2020, siehe: https://orf.at/stories/3163480/
Chuang-Blog1
Soziale Ansteckung
Der Hochofen
Umgangssprachlich gilt Wuhan als einer der »vier Hochöfen« Chinas. Den bedrückend feuchtheißen Sommer teilt es mit Chongqing, Nanjing und Nanchang, quirlige Städte mit einer langen Geschichte, am Yangtse gelegen oder nah an seinem Flusstal. Unter den Vieren glänzt Wuhan aber auch mit echten Hochöfen. Der massige urbane Komplex stellt eine Art Kern der Stahl-, Beton- und bauorientierten Industrie Chinas dar, sein Stadtbild ist gesprenkelt mit den langsam kühlenden Gebläsehochöfen der verbleibenden Stahl- und Eisenschmelzen im Staatseigentum, die nun geplagt von Überproduktion2 in eine weitere umstrittene Phase von Rückbau, Privatisierung und Umstrukturierung gezwungen werden – dies allein schon Ursache für mehrere große Streiks und Proteste in den letzten fünf Jahren. Auf den Punkt gebracht ist Wuhan die Hauptstadt der chinesischen Bauindustrie. Als solche hatte die Stadt eine besonders hervorgehobene Rolle in der Phase nach der (letzten) ökonomischen Krise, denn in dieser Zeit wurde das Wachstum durch Immobilien- und Infrastruktur-Projekte zunehmend angeregt. Diese Blase hat Wuhan nicht nur mithilfe seines Überangebots an Baumaterialien und Ingenieuren im Staatsdienst aufgebläht, sondern wurde selbst zu einem Produkt des Immobilienbooms. Nach unseren Berechnungen entsprach die Summe aller Baugründe in Wuhan von 2018 bis 2019 der Gesamtfläche der Insel Hongkong.
Inzwischen scheint dieser Antriebsofen der chinesischen Nach-Krisen-Ökonomie abzukühlen, ganz ähnlich denen der Stahl- und Eisenkocher. Obwohl dieser Vorgang schon seit einer Weile lief, trifft die Metapher neuerdings nicht nur im einfachen ökonomischen Sinn zu. Seit mehr als einem Monat ist die einst hektische Stadt abgeriegelt, sind ihre Straßen auf Regierungsanweisung entleert. »Der wichtigste Beitrag, den Sie leisten können, lautet: Versammeln Sie sich nicht, verursachen Sie kein Chaos« – so stand es groß gedruckt in der Guangmin-Tageszeitung3, die unter der Leitung der Propaganda-Abteilung der KP Chinas steht. Die glitzernden Stahl- und Glasbauten in den neuen Prachtstraßen Wuhans liegen nun kalt und leer, während der Winter übers Neujahrsfest vergeht und die Stadt unter den Beschränkungen der Quarantäne stagniert. Sich zu isolieren, ist ein kluger Ratschlag in China, wo das Ausbrechen des neuen Corona-Virus (kürzlich umbenannt in »Sars-CoV-2« und die von ihm ausgelöste Krankheit in »Covid-19«) bereits mehr als 2000 Menschen das Leben gekostet hat – mehr als die Sars-Epidemie im Jahr 2003. Das ganze Land steht unter Ausgangssperre, wie schon bei Sars. Die Schulen sind geschlossen, und landesweit bleiben die Leute zusammengepfercht in ihren Wohnungen. Fast die gesamte Wirtschaftstätigkeit kam im Rahmen des Neujahrsfestes am 25. Januar zum Erliegen, aber die Unterbrechung wurde auf einen Monat verlängert, um die Ausbreitung der Epidemie zu verhindern. Es scheint, als hätten die Hochöfen Chinas aufgehört zu brennen, oder als würden sie nur noch schwach glühen. In gewisser Weise ist die Stadt aber zu einer anderen Art von Ofen geworden, denn das Coronavirus brennt sich durch die Masse der Bevölkerung wie ein heftiges Fieber.
Das Virus für den Regimewechsel
Das Ausbrechen der Krankheit ist fälschlich allem Möglichen zugeschrieben worden: vom verschwörerischen und/oder zufälligen Freisetzen einer Virengeneration aus dem Institut für Virologie in Wuhan4 – eine zweifelhafte Unterstellung, die über soziale Netzwerke, vor allem über paranoide Facebook-Posts aus Hongkong und Taiwan verbreitet, aber inzwischen von konservativen Pressestellen und militärischen Nutznießern5 weiter unterfüttert wird – bis hin zur (angeblichen) Neigung der chinesischen Bevölkerung »unsaubere« oder »abartige« Nahrungsmittel zu verzehren. Letzteres vor allem, weil die Virenausbreitung auf Fledermäuse oder Schlangen zurückgeführt wird, die auf halblegalen »wet markets«6 angeboten werden, die auf wilde und seltene Tiere spezialisiert sind (obwohl das nicht der tatsächliche Ursprungsort ist7). Beide Narrative verdeutlichen offensichtliche Kriegstreiberei und Orientalismus, die die Berichterstattung über China generell kennzeichnen, und die schon von einigen Medienartikeln8 hervorgehoben wurden. Doch auch diese Stellungnahmen beschränken sich meist nur auf die Wahrnehmung des Virus in der kulturellen Sphäre – und beschäftigen sich weniger mit den weit brutaleren Dynamiken, die hinter dem Medienzirkus im Verborgenen wirken.
Eine etwas komplexere Variante begreift wenigstens die ökonomischen Folgewirkungen, auch wenn die möglichen politischen Nachspiele für den rhetorischen Effekt aufgebauscht werden. Hier begegnen uns die üblichen Verdächtigen, von den bekannten drachentötenden Kriegsfalken bis hin zu den aufgeregten Wohlhabenden des »gehobenen« Liberalismus: Pressefirmen vom National Review bis hin zur New York Times9 orakeln bereits darüber, wie der Virenausbruch zur Legitimitätskrise der KP Chinas führen könnte, obwohl bisher kaum ein Hauch von Aufstand zu spüren ist. Doch das Körnchen Wahrheit solcher Voraussagen liegt in der Einschätzung der wirtschaftlichen Dimensionen der Quarantäne – ein Aspekt, der Journalisten mit einem Aktien-Portfolio, das schwerer wiegt als sie selbst, kaum entgehen kann. Denn Tatsache ist, dass die Leute, trotz der Regierungsappelle zum Abstandhalten, bald gezwungen sein werden, sich zu »versammeln«, um den Bedürfnissen der Produktion zu dienen.
In China selbst ist der Verlauf dieser Ereignisse schwer vorauszusagen, doch hat der Moment bereits einen raren, kollektiven Prozess des Nachdenkens über »Gesellschaft« ausgelöst. Die Epidemie hat (nach den vorsichtigsten Schätzungen) nahezu 80.000 Menschen direkt infiziert. Doch sie versetzte dem Alltagsleben im Kapitalismus einen Schock, der 1,4 Milliarden Menschen traf und sie zu einem Augenblick der Selbstreflexion zwang. In diesem Moment der Verunsicherung stellten sich alle zeitgleich eine Reihe tief greifender Fragen: Was wird mit mir geschehen? Mit meinen Kindern, meiner Familie, meinen Freunden? Wird es für uns genug zu essen geben? Wird mein Einkommen gezahlt? Werde ich meine Miete bezahlen können? Wer trägt für all das die Verantwortung? Auf seltsame Weise entspricht die Einzelerfahrung im Großen und Ganzen der eines Massenstreiks – aber eines solchen, der in seiner nicht-spontanen, von oben verordneten und insbesondere unfreiwilligen Total-Atomisierung die Grundrätsel unserer strangulierten politischen Gegenwart ebenso klar hervortreten lässt, wie die Massenstreiks des letzten Jahrhunderts die Widersprüche ihrer Ära erhellten. Die »Quarantäne« erscheint somit wie ein Streik, der zwar seiner gemeinschaftsbezogenen Charakteristika beraubt, aber gleichwohl geeignet ist, sowohl der Psyche als auch der Volkswirtschaft einen tief greifenden Schock zu versetzen. Schon allein aufgrund dieses Umstandes, ist sie es wert, genauer darüber nachzudenken.
Selbstverständlich handelt es sich bei Spekulationen über den bevorstehenden Sturz der KPCh – ein beliebter Zeitvertreib des New Yorker und des Economist – um vorhersehbaren Unsinn. Inzwischen rollen die normalen Medienunterdrückungsrituale ab, in denen offenkundig rassistische Leitartikel in den Massenmedien von Kommentaren auf Web-Plattformen gekontert werden, die gegen Orientalismus und andere Ideologie-Facetten polemisieren. Doch fast die gesamte Diskussion bleibt auf der Ebene der Darstellung – oder befasst sich bestenfalls mit der Eindämmungspolitik und den wirtschaftlichen Folgen der Epidemie – ohne jegliche Auseinandersetzung mit den Fragen, wie solche Krankheiten überhaupt produziert, und noch seltener, wie sie verbreitet werden. Doch nicht einmal dies wäre genug. Überflüssig ist der »Eins-Zwei-Drei«-Marxismus, der dem Schurken die Maske abreißt, um festzustellen: Ja, es war wirklich der Kapitalismus, der das Coronavirus hervorgebracht hat. Das wäre auch nicht scharfsinniger als die Auslandskommentatoren, die einem Regimewechsel auf der Spur sind. Selbstverständlich ist der Kapitalismus schuld, aber wie genau findet die Verzahnung der sozioökonomischen Sphäre mit der biologischen statt, und welche Lehren sind aus der Gesamterfahrung zu ziehen?
In diesem Sinne eröffnet uns der Ausbruch der Epidemie zwei günstige Möglichkeiten zur Reflexion: Zunächst bietet sich ein lehrreicher Durchblick, in dem wir substanzielle Fragen