Schreiben und Lesen im Altisländischen. Kevin Müller

Schreiben und Lesen im Altisländischen - Kevin Müller


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‚Geistlicher‘ oder notarius ‚Notar‘ hin (vgl. Halldórsson 1970: 288, Hødnebø 1960: 57). Ersterer kann sicher auch in einem administrativ weniger ausgebauten isländischen Kontext erwartet werden.

      Das Thema ist hingegen meistens eine Füllung mit verschiedenen Werten, so dass bei einer Reihe von Belegen nicht sicher entschieden werden kann, ob es für die Attribute SKRIPT oder INHALT steht. Dies betrifft die Werte ártíð ‚Jahrzeit‘, ekki ‚nichts‘, fleira ‚mehr‘, orð ‚Wort‘ und saga. Sie können ebenso zum zweiten Frame mit der Konstruktion rita/ríta e-t + Ort/Ziel gehören, wobei die thematische Rolle Ort/Ziel leer bleibt. Bei dieser Konstruktion steht das Thema für den INHALT und der Ort bzw. das Ziel für den SCHRIFTTRÄGER oder das SKRIPT.

      Eindeutige Werte für den INHALT sind draumr ‚Traum‘ und fyrirburðr ‚Vision‘. In den Kommentaren kommen zwei Attribute, STOFF (efni) im Präpositionalobjekt mit af und TEIL mit der Bezeichnung hlutr als Thema hinzu, mit denselben Werten wie beim Attribut INHALT. Rückblickend kann diese Aufteilung in TEIL, INHALT und STOFF auf die Jóns saga helga übertragen werden, wo ebenfalls das Lexem hlutr als Thema von rita in einem Kommentar belegt ist. Die Konstruktion rita e-t af e-u ist in der Sturlunga saga zwar nur in frühneuzeitlichen Abschriften erhalten, der Beleg rita sǫgu af vitran (vgl. Johnsen 1922: 80) ‚die Geschichte von der Vision schreiben‘ aus der Óláfs saga helga im ONP (rita) aus dem zweiten Viertel des 13. Jh. beweist aber, dass die Konstruktion durchaus in mittelalterlichen Texten vorkommt. Die Konstruktion steht im ONP (ríta) aber nicht nur für das Verarbeiten von Stoffen, sondern auch für das Abschreiben, wie ein Beleg aus einer undatierten Urkunde von ca. 1300 zeigt: „letom ver ríta af orð æftir orðe, ok her j. sætia a. þænna haatt“ (Hødnebø 1960: 126) ‚wir liessen es Wort für Wort abschreiben und hier auf diese Weise einsetzen‘ (Übers. KM). Es ist bei diesem Beleg allerdings nicht ganz sicher, ob af ein Adverb oder ein elliptisches Präpositionalobjekt af [bréfi] ‚vom Brief‘ ist. Wenn Ersteres zutrifft, handelt es sich um ein Partikelverb rita af e-t, das keine weiteren Belege hat und gesondert zu behandeln ist, bei Letzterem stünde das Präpositionalobjekt für ein Attribut VORLAGE oder QUELLE. Entscheidend wäre dann die Semantik des Werts.

      Die thematischen Rollen Ort oder Ziel verweisen nicht wie in der Jóns saga helga nur auf das Attribut SCHRIFTTRÄGER – die Sturlunga saga hat hierzu nur den in neuzeitlichen Abschriften überlieferten Wert vaxspjald ‚Wachstafel‘ im Präpositionalobjekt á e-t/-u –, sondern auch auf das SKRIPT mit dem Wert saga ‚Saga‘ im Präpositionalobjekt í e-t/-u. Beim Adverb hér ‚hier‘ kann nicht sicher entschieden werden, ob es sich auf den SCHRIFTTRÄGER oder das SKRIPT bezieht. Die Belege sind zwar spärlich, es scheint aber, dass die Konstruktion rita/ríta e-t á e-t/e-u SCHREIBER, INHALT und SCHRIFTTRÄGER und rita/ríta e-t í e-t/e-u die Attribute SCHREIBER, INHALT und SKRIPT verbindet. Obwohl die Werte für ein Attribut INHALT sprechen, ist in diesem Kontext das Attribut TEIL treffender, weil in das Skript ein neuer Teil eingefügt wird. Belege aus dem ONP (rita) mit den gleichen Konstruktionen führen zum gleichen Resultat. Im Präpositionalobjekt á e-t/e-u gibt es typische Werte für das Attribut SCHRIFTTRÄGER wie blað ‚Blatt‘ oder legsteinn ‚Grabstein‘ (vgl. Jónsson 1925: 15f.), während in í e-t/e-u typische Werte für das Attribut SKRIPT oder Text wie guðspjall ‚Evangelium‘ (vgl. Indrebø: 1931: 49) oder lǫg ‚Gesetze‘ (vgl. Unger 1877: 304) vorkommen. Bók ‚Buch‘ kommt in beiden Konstruktionen vor, was darauf hindeutet, dass á bókum (vgl. Unger 1874: 791) auf ein Konzept SCHRIFTTRÄGER und í bókum (vgl. Rindal 1981: 147) auf ein Konzept SKRIPT oder TEXT hindeutet.

      Die Konstruktion rita/ríta e-t í e-t/e-u gibt eine neue Perspektive auf TEIL und SKRIPT, welche so in der Jóns saga helga nicht vorkommt. Dies hängt mit der Rolle des Kompilators in der Sturlunga saga zusammen, welcher den Stoff auswählt und Inhalte weglassen kann. Eine weitere syntaktische Möglichkeit, SKRIPT und INHALT zu verbinden, repräsentiert in der Sturlunga saga die Konstruktion rita/ríta e-t um e-t. SKRIPT ist hier rolla und der INHALT skipti ‚Händel‘. Diese ist im ONP (rita, ríta) mehrfach belegt – alternativ mit der synonymen Präposition of (vgl. Benediktsson 1944: 10, Bjarnarson 1878: 33, 55) – und erfüllt die gleiche Funktion wie in der Sturlunga saga. Ein weiterer Beleg mit der Konstruktion rita hluti um líf e-s (vgl. Unger 1877: 588) ‚Teile über jds. Leben schreiben‘ aus der Marteins saga biskups verbindet die Attribute TEIL und INHALT. Dabei lässt sich INHALT nicht klar von STOFF abgrenzen, denn líf e-s ist Inhalt dieser Teile und zugleich der Stoff, dem diese Teile entnommen werden.

      Der Stoff wiederum entstammt einer Quelle. Obwohl diese wie auch die Vorlagen bei einer Kompilation eine zentrale Rolle spielen, ist das Attribut QUELLE oder VORLAGE nur einmal als Ergänzung im Präpositionalobjekt eptir e-u belegt. Der Wert lautet bók ‚Buch‘. Anhand dieses einen Beleges kann nicht entschieden werden, welches Attribut besser zutrifft. Da rita in der Jóns saga helga in einer Paarformel mit setja saman ‚zusammensetzen, verfassen‘ vorkommt, trifft dort das Attribut QUELLE besser zu, weil der Text vermutlich zuerst kompiliert und dann aufgeschrieben wurde. Für das Attribut Quelle sprechen auch Belege im ONP (rita), wie etwa jener aus der Ólafs saga helga, welcher dem aus der Jóns saga helga gleicht: „En þo rita ec flest eptir þvi sem ec finn i kveþum scallda þeirra er varu með Olafi konungi“ (Johnsen/Helgason 1941: I, 5). ‚Doch schreibe ich das meiste gemäss dem, was ich in den Gedichten der Skalden finde, die bei König Óláfr waren‘ (Übers. KM). Der Relativsatz im Präpositionalobjekt eptir e-u enthält wie in der Jóns saga helga Werte für die Attribute TEXTSORTE (kvæði ‚Gedicht‘) und ZEUGE bzw. AUTOR (skáld ‚Skalde‘). Ob es sich um eine Quelle oder Vorlage handelt, ist schliesslich von der Situation abhängig, denn der Schreiber kann schriftliche Vorlagen abschreiben oder Informationen aus mündlichen Quellen aufschreiben. Die Vorlage ist nur eine besondere Form der Quelle. Es lässt sich auch nicht immer sicher entscheiden, ob die Quelle mündlicher oder schriftlicher Natur ist. Deshalb trifft die semantisch breitere Bezeichnung QUELLE besser auf dieses Attribut zu. Ein im ONP (rita) aus der Barlaams saga ok Josafats fügt dem Attribut Quelle noch einen weiteren Aspekt hinzu:

      Her er nu komet til ennda oc lykta þessarar sagu. er ec ritaða eptir minni kunnastu. sua sem ec hevi sannazt nomet. af virðulegom monnum er sannlega. oc firir vttan fals. sagðu mer. með hinum sama hætte (Rindal 1981: 195).

      Hier sind nun das Ende und der Schluss dieser Geschichte gekommen, die ich nach meiner Kenntnis schrieb, wie ich es wahrhaft von den ehrwürdigen Leuten vernommen habe, die es mir wahr und ohne Fehler auf die gleiche Weise erzählten (Übers. KM).

      Das Präpositionalobjekt eptir minni kunnustu ‚nach meiner Kenntnis‘ verweist nicht auf eine mündliche oder schriftliche Quelle, sondern auf die Kenntnis des Schreibers. Er nennt zwar im nachfolgenden Komparativsatz seine Quellen, die Primärquelle ist aber sein eigenes Wissen. In der Ólafs saga helga kommt das ek ‚ich‘ des Schreibers zwar auch im Präpositionalobjekt eptir e-u vor, jedoch als Subjekt des Verbs finna ‚finden‘, d.h. der Schreiber findet die Informationen in den Quellen und übernimmt sie. Die Kenntnis des Schreibers steht nicht so sehr im Zentrum wie in der Barlaams saga ok Josafats, auch wenn es am Schluss des Satzes wieder mit með hinum sama hætti ‚auf die gleiche Weise‘ relativiert wird, indem der Schreiber seine Kenntnis doch den Quellen gleichsetzt. Die Kenntnis beruht auf dem Gedächtnis, so dass im Beleg aus der Barlaams saga ok Josafats das Attribut GEDÄCHTNIS indirekt als Ergänzung nachgewiesen werden kann. Das Gedächtnis des Schreibers steht immer zwischen Quelle und Skript, weil er sein Wissen wie auch den Text der Vorlage oder das Diktat darin über kürzere oder längere Zeit abspeichert.

      Das Schreiben geschieht in vielen Fällen im Auftrag einer Person, die sich im Frame von rita/ríta als Attribut AUFTRAGGEBER bestätigen lässt. Der AUFTRAGGEBER, welcher in der Jóns saga helga als Dativobjekt ergänzt wird, kommt in der Sturlunga saga als Subjekt in Kausativkonstruktionen


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