Elemente einer Theorie der Menschenrechte. Amartya Sen

Elemente einer Theorie der Menschenrechte - Amartya  Sen


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Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten«) eindeutig von einem Glauben an bestimmte, immer schon gegebene Rechte aller Menschen inspiriert. Dies gilt sogar für die Verabschiedung der Verfassung der Vereinigten Staaten, einschließlich der Bill of Rights, die (wie bereits bemerkt wurde) mit der normativen Vision der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verbunden war. Die schwierigen Fragen im Hinblick auf den Status und die Stellung der Menschenrechte erheben sich im Bereich der Ideen, vor ihrer Verankerung im positiven Recht. Wir müssen außerdem untersuchen, ob die Gesetzgebung der vorrangige oder gar ein notwendiger Weg ist, durch den Menschenrechte umgesetzt werden können.

      II. Zu beantwortende Fragen

      Eine Theorie der Menschenrechte muss insbesondere auf folgende Fragen eingehen:

       (1) Welche Art von Aussage trifft eine Menschenrechtserklärung?

       (2) Weshalb sind Menschenrechte wichtig?

       (3) Welche Pflichten ergeben sich aus den Menschenrechten?

       (4) Durch welche Handlungen und Maßnahmen können Menschenrechte gefördert werden, und muss insbesondere die Gesetzgebung das vorrangige oder gar ein notwendiges Mittel zur Umsetzung von Menschenrechten sein?

       (5) Können wirtschaftliche und soziale Rechte (die sogenannten »Rechte der zweiten Generation«) begründet zu den Menschenrechten gehören?

       (6) Und zu guter Letzt: Wie können Vorschläge für Menschenrechte verteidigt oder in Frage gestellt werden, und wie sollte ihr Anspruch auf einen universellen Status, besonders in einer Welt mit großen kulturellen Unterschieden und sehr vielfältigen Praktiken, bewertet werden?

      Auf diese Fragen wird im Folgenden der Reihe nach eingegangen. Doch da es sich hier nicht um eine Detektivgeschichte handelt, sei es mir vielleicht gestattet, bereits vorab die vorgeschlagenen Antworten zu umreißen, in der Hoffnung, dass dies dazu beitragen könnte, diesem langen und nicht ganz unkomplizierten Aufsatz zu folgen (auch wenn jede zusammenfassende Formulierung ein gewisses Risiko einer zu groben Vereinfachung mit sich bringt).

      (1) Menschenrechte können als in erster Linie moralische Ansprüche verstanden werden. Sie sind nicht vornehmlich »legale«, »proto-legale« oder »ideal-legale« Gebote. Obgleich Menschenrechte die Gesetzgebung inspirieren können und dies auch oft tun, stellt dies eher eine weitere Tatsache als ein konstitutives Merkmal der Menschenrechte dar.

      (2) Die Bedeutung der Menschenrechte hängt mit der Bedeutsamkeit der Freiheiten zusammen, die den Gegenstand dieser Rechte bilden. Sowohl der Möglichkeitsaspekt als auch der Prozessaspekton Freiheiten kann bei Menschenrechten eine Rolle spielen. Um sich als Grundlage der Menschenrechte zu qualifizieren, müssen die Freiheiten, die verteidigt oder gefördert werden sollen, gewisse »Schwellenbedingungen« der (i) besonderen Bedeutung und (ii) sozialen Beeinflussbarkeit erfüllen.

      (3) Aus Menschenrechten ergeben sich Gründe zum Handeln für Akteure, die in der Lage sind, bei der Förderung oder dem Schutz der zugrunde liegenden Freiheiten Hilfe zu leisten. Die resultierenden Pflichten umfassen in erster Linie die Pflicht, angemessen über die Gründe zum Handeln und deren praktischen Auswirkungen nachzudenken und dabei die relevanten Parameter des Einzelfalls zu berücksichtigen. Die Gründe zum Handeln können sowohl »vollkommene« Pflichten als auch »unvollkommene« Pflichten, die weniger genau beschrieben sind, stützen. Obgleich sie sich hinsichtlich ihres Inhalts voneinander unterscheiden, korrelieren unvollkommene Pflichten auf ganz ähnliche Weise mit den Menschenrechten wie vollkommene Pflichten. Vor allem geht die Akzeptanz von unvollkommenen Pflichten über freiwillig geleistete Spenden oder optionale, nicht unbedingt notwendige Tugenden hinaus.

      (4) Die Umsetzung der Menschenrechte kann weit über die Gesetzgebung hinausgehen, und eine Theorie der Menschenrechte lässt sich vernünftigerweise nicht auf das juristische Modell beschränken, in das es häufig gepresst wird. So können beispielsweise öffentliche Anerkennung und öffentliches Engagement (einschließlich des Monitorings, d. h. der Überwachung und Beobachtung von Verstößen) Teil der – häufig unvollkommenen – Pflichten sein, die sich aus der Anerkennung der Menschenrechte ergeben. Außerdem werden einige anerkannte Menschenrechte idealerweise nicht gesetzlich verankert, sondern besser mit anderen Mitteln gefördert, unter anderem mit öffentlicher Diskussion und Bewertung sowie mit einem öffentlichen Eintreten für sie (ein wesentlicher Punkt, der Mary Wollstonecraft7 nicht weiter überrascht hätte, deren A Vindication of the Rights of Woman. With Strictures on Political and Moral Subjects [Eine Verteidigung der Rechte der Frau] 1792 veröffentlicht wurde).

      (5) Die Menschenrechte können wichtige und beeinflussbare wirtschaftliche und soziale Freiheiten einschließen. Wenn sie auf Grund einer unzureichenden Institutionalisierung nicht umgesetzt werden können, dann kann es Teil der sich aus der Anerkennung dieser Rechte ergebenden Pflichten sein, auf eine Erweiterung oder Reform der Institutionen hinzuarbeiten. Die Tatsache allein, dass sich irgendein akzeptiertes Menschenrecht, das durch institutionelle oder politische Veränderungen gefördert werden kann, aktuell noch nicht umsetzen lässt, verwandelt diesen Anspruch noch nicht in ein Nicht-Recht.

      (6) Die Universalität der Menschenrechte hängt mit der Idee der »Überlebensfähigkeit« bzw. des »Standhaltenkönnens« in einer ungehinderten Diskussion zusammen – einer Diskussion, die auch der Teilnahme von Personen über nationale Grenzen hinaus offensteht. Parteilichkeit wird weniger dadurch verhindert, dass man entweder eine Verbindung oder Schnittmenge der Ansichten bildet, die von den jeweils dominanten Stimmen in den verschiedenen Gesellschaften (einschließlich sehr repressiver Stimmen) weltweit vertreten werden, als vielmehr durch einen interaktiven Prozess, indem man insbesondere prüft, was einer öffentlichen Diskussion standhalten würde, wenn der Informationsfluss angemessen frei wäre und die uneingeschränkte Möglichkeit bestünde, verschiedene Meinungen zu diskutieren. Adam Smiths8 Beharren darauf, dass eine moralische Überprüfung erfordert, dass man moralische Überzeugungen unter anderem mit »einem gewissen Abstand« überprüft, wirkt sich unmittelbar auf den Zusammenhang zwischen den Menschenrechten und dem globalen öffentlichen Diskurs bzw. öffentlichen Vernunftgebrauch [public reasoning9] aus.

      III. Menschenrechte: Ethik und Recht

      Welche Art von Aussage wird in einer Menschenrechtserklärung getroffen? Ich würde behaupten, dass Verkündungen von Menschenrechten als Artikulationen moralischer Ansprüche verstanden werden müssen. Sie sind insofern vergleichbar mit Behauptungen der utilitaristischen Ethik, obwohl ihre jeweiligen wesentlichen Inhalte natürlich sehr verschieden sind. Wie bei anderen moralischen Ansprüchen, die Anerkennung verlangen, wird bei Behauptungen, die man über Menschenrechte aufstellt, implizit angenommen, dass die zugrunde liegenden moralischen Ansprüche einer offenen und fundierten Überprüfung standhalten. Die Berufung auf ein solches interaktives Verfahren der kritischen Überprüfung, das sowohl offen für Informationen (einschließlich solcher über andere Gesellschaften) als auch für Argumente von nah und fern ist, stellt ein zentrales Merkmal der Theorie der Menschenrechte, wie sie hier vorgeschlagen wird, dar. Sie unterscheidet sich sowohl (i) von dem Versuch, die Ethik der Menschenrechte in Bezug auf geteilte – und bereits etablierte – universelle Werte zu rechtfertigen (die unkomplizierte »unparteiliche« Ansicht), als auch (ii) von dem Verzicht auf jedweden Anspruch, an universellen Werten festzuhalten (und insofern jeglichen Anspruch auf »Unparteilichkeit« aufzugeben) zugunsten einer bestimmten politischen Konzeption, die an die gegenwärtige Welt angepasst ist.10

      Diese Themen, die die Grundlagendisziplin der moralphilosophischen Kritik betreffen, werden später in Abschnitt IX in Beantwortung der Frage (6) untersucht. Doch zunächst ist in Beantwortung der ersten Frage festzuhalten, dass Behauptungen, die man über Menschenrechte aufstellt, durch und durch moralische Artikulationen sind, und dass sie insbesondere keine vermeintlichen Rechtsansprüche darstellen, trotz beträchtlicher Verwirrungen hinsichtlich dieses Punkts, die nicht zuletzt durch Jeremy Bentham hervorgerufen wurden, der wie besessen auf die aus seinen Augen rechtlichen Anmaßungen eindrosch. (Ich werde später in diesem Abschnitt auf die Art der damit verbundenen Fehleinschätzung zurückkommen.)

      Eine Behauptung, die man zu Menschenrechten


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