Augmented Intelligence. Wie wir mit Daten und KI besser entscheiden. Thomas Ramge
zur Entscheidungsfindung zurück, das rund 100 Jahre zuvor vom amerikanischen Gründungsvater Benjamin Franklin populär gemacht worden war, die Pro-und-Kontra-Liste.
In seinem Tagebuch katalogisierte Darwin die Vor- und Nachteile der Ehe in einer zweispaltigen Tabelle. Auf der Habenseite der Ehe verbuchte er unter anderem: »Jemand, der sich für einen interessiert. Jemand zum Liebhaben. Besser als ein Hund. Eigenes Heim und jemand, der den Haushalt führt. Charme von Musik und weiblichem Geplauder.« Dieses alles sei gut für die Gesundheit. Ehe bedeute aber leider auch, Verwandte zu besuchen – »eine schreckliche Zeitverschwendung«.
Für das Szenario des Nicht-Heiratens fand der Forscher zunächst ein starkes Gegenargument: »Keine Kinder, kein zweites Leben also. Niemand, der sich im Alter um einen kümmert.« Ein Pluspunkt für das Junggesellenleben sei freilich die »Freiheit hinzugehen, wohin man will« und die »Gesellschaft kluger Männer in Clubs«. Gut auch, dass der lästige Zwang wegfalle, Verwandte zu besuchen. Keine Kosten und Sorgen um Kinder notierte er als weiteres Pro-Argument gegen die Ehe, gefolgt von »kein Streit«. Doch ein Single zu sein bedeute leider auch: »Man wird fett und faul und Angst vor Verantwortung kommt auf.«
Das Für und das Wider
Benjamin Franklin hatte für sein Entscheidungstool eine Art Betriebsanleitung mitgeliefert, nämlich möglichst viele Pro- und Kontra-Argumente in zwei Spalten einander gegenüberzustellen und diese dann gegeneinander zu gewichten. Gleichgewichtige Argumente strich er auf beiden Seiten der Abwägung aus. Hatte er den Eindruck, dass ein Pro-Argument so wichtig war wie zwei Gegenargumente (oder umgekehrt), strich er summarisch diese drei weg. So fand Franklin heraus, »wo die Balance liegt«, und nannte seine Methode »eine moralische oder überlegte Algebra«. Computerwissenschaftler würden heute von einem einfachen Algorithmus sprechen.
Darwin hat die Franklin-Methode des wechselseitigen Ausstreichens von Argumenten nicht nach Anleitung durchgeführt, wie in der Originalhandschrift von Darwins Tagebüchern erkennbar ist. Die Pros und Kontras systematisch im Tagebuch vor Augen, fiel dem Wissenschaftler eine klare Entscheidung leicht: »Mein Gott, es ist unerträglich sich vorzustellen, dass man sein Leben wie eine geschlechtslose Arbeitsbiene verbringt. Stell dir den ganzen Tag in einem schmutzigen Haus vor. Halte das Bild einer sanften Frau dagegen. Also: heiraten, heiraten, heiraten. Q. e. d. – quod erat demonstrandum.«
Zukünfte simulieren
Entscheidungsfindung ist eine Simulationsübung. Bei wichtigen Entscheidungen stellen wir uns vor, wie die Zukunft aussehen könnte. Wir projizieren uns – und im Unterschied zu Darwin hoffentlich auch andere von der Entscheidung Betroffene – in verschiedene Szenarien hinein. In der simulierten Zukunft versuchen wir dann, die voraussichtlichen Konsequenzen unserer Wahl abzuschätzen, um eine, wie wir umgangssprachlich dann sagen, »gute Entscheidung« zu treffen. Die Entscheidungsforschung sagt: Es gibt keine guten Entscheidungen. Es gibt nur gute und schlechte Entscheidungsprozesse. Das ist keine sprachliche Haarspalterei, sondern grundlegend wichtig zum Verständnis, was Entscheidungsfindung im Allgemeinen und Entscheidungen im Daten- und Informationszeitalter im Besonderen ausmachen.
Ob wir bei einer Entscheidung eine gute Wahl treffen, können wir, konsequent betrachtet, nie wirklich beurteilen. Schon gar nicht können wir das zum Zeitpunkt der Entscheidung, denn wir kennen ja die Zukunft nicht. Zudem gilt: Die spätere Erfahrung wird uns verändern. Kann ich vorher wissen, ob Kinder mein Leben bereichern werden – oder ob ich als Single besser gefahren wäre? Vielleicht bin ich am Ende jemand, der plötzlich Kinder liebt – was ich mir vor der Entscheidung, Kinder zu kriegen, so überhaupt nicht hatte vorstellen können. In der Philosophie nennt man das eine transformative Erfahrung: Die Erfahrung verändert uns, wir sind nicht mehr dieselben. Die Philosophin L. A. Paul empfiehlt: Wir sollten uns nicht die Frage stellen, ob wir Kinder haben wollen oder nicht, denn diese Frage können wir nicht begründet entscheiden –, sondern ob wir uns in eine Situation begeben wollen, in der wir uns völlig verändern können, etwa indem wir Kinder bekommen.
Unabhängig von der transformativen Qualität: Im Nachhinein erscheinen uns dann Entscheidungen mitunter als gut oder richtig, die durch die Brille eines Statistikers betrachtet zum Zeitpunkt der Entscheidung vollkommen irrational sind. Wer ein Lottoticket für zehn Euro kauft, trifft am Zeitungskiosk eine statistisch ausgesprochen dämliche Kaufentscheidung, denn die Gewinnchance ist deutlich geringer, als es der Kaufpreis rechtfertigt. Wer mit diesem Zehn-Euro-Ticket dann den Zehn-Millionen-Euro-Jackpot knackt, wird den Kauf dann im Rückblick »zur besten Entscheidung seines Lebens« erklären.
Vielleicht ist dem Lottogewinner klar, dass er mit einer irrationalen Entscheidung das Glück herausgefordert und im Unterschied zu den Millionen Verlierern der Ziehung auch erzwungen hat. Dann war sein Entscheidungsprozess zumindest eine bewusste Abwägung. Und doch können wir konsequent betrachtet nicht einmal im Nachhinein beurteilen, auch nicht im Fall eines Lottogewinns, ob wir eine gute oder schlechte Entscheidung getroffen haben. Denn Entscheidungsbewertung im Rückblick ist ebenfalls nur eine Simulationsübung.
Wenn wir uns an einer bestimmten Wegkreuzung im Leben für eine Option A entscheiden, wissen wir auch später nicht, ob Option B nicht die bessere Wahl gewesen wäre. Die Lehrerin weiß nicht, ob sie als Ärztin nicht glücklicher geworden wäre oder umgekehrt; es fühlt sich im Nachhinein, bei erneuter Simulation mit neuen Informationen, nur offenkundig oft so an. Eine Umfrage der Jobbörse Monster hat ergeben, dass rund die Hälfte aller Berufstätigen einen vollkommen anderen Beruf ergriffen, wenn sie nur nochmals die Chance dazu bekämen. Nur sieben Prozent der Befragten sagen, sie würden sich wieder für den gleichen Karrierepfad entscheiden. Diese Zahlen liefern gewiss ein bedrückendes Stimmungsbild der modernen Arbeitsgesellschaft, aber eben nur ein Stimmungsbild. Wir können nicht in eine Parallelwelt switchen, in der wir verschiedene Entscheidungsoptionen ausprobieren könnten. Entsprechend können wir auf den Zwischenstationen im Leben auch nicht sicher beurteilen, dass wir Optionen gewählt haben, mit denen wir glücklicher geworden sind, als mit denen, die wir nicht gewählt haben.
Kontrafaktenlos
Ohne Parallelwelt gibt es keine kontrafaktische Beurteilung der Qualität von Entscheidungen. Das führt uns zur eigentlichen Natur der Entscheidung. Der austro-amerikanische Kybernetiker Heinz von Foerster beschreibt sie so: »Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.« Wenn alle Informationen vorhanden sind und die Konsequenzen klar, treffen wir keine Entscheidungen. Wir handeln dann in einem Umfeld der Sicherheit und der Berechenbarkeit.
»Ent-scheiden« heißt, die Etymologie deutet es an, dass wir Alternativen oder mehrere Optionen voneinander trennen müssen, und zwar unter den Bedingungen von unvollständigen Informationen, von Unsicherheit und von Unberechenbarkeit. Hierin liegt der eigentliche Grund, warum es uns oft so schwerfällt, rational wie emotional, Entscheidungen zu treffen. Warum wir selbst bei kleinen, für unser Lebensglück vollkommen unerheblichen Entscheidungen wie dem Kauf einer neuen Handtasche oder einer Trinkflaschenhalterung für das Rennrad überraschend viel Zeit im Instagram-Feed von Fashion-Influencern oder mit Produktrezensionen bei Amazon verplempern. Und warum wir bei wichtigen Entscheidungen wie einem Jobwechsel (oder gar einem Partnerwechsel) nächtelang wachliegen, uns beim Abwägen der Optionen unter Einbeziehung aller verfügbaren Informationen – es sind immer zu viele oder zu wenige – oft die Analyse-Paralyse ereilt, wir uns ob der vielen Zielkonflikte im Leben einfach nicht entscheiden können und wir uns dabei so schlecht fühlen, als hätten wir Liebeskummer.
Entscheidungsfindung ist der mühsame Versuch, auf Basis der Informationen aus Vergangenheit und Gegenwart die Zukunft zu erahnen und zu überlegen, bei Wahl welcher Option sich unsere Wünsche oder Ziele voraussichtlich erfüllen. Diesen Prozess können wir besser strukturieren, als wir das in der Entscheidungspraxis heute meist machen. Wir können Entscheidungsprobleme genauer erfassen, unsere Werte, Wünsche und Ziele besser definieren, systematischer nach relevanten Informationen suchen und eine durchdachtere Bewertung der Optionen in Rückbindung an unsere Ziele durchführen. Dann werden wir im Wortsinn keine besseren Entscheidungen treffen, aber besser informierte. Systematisch informierte Entscheidungen erhöhen in den meisten Kontexten die Wahrscheinlichkeit, dass wir im Rückblick subjektiv zufrieden mit der gewählten Option sind.