Die Schatzinsel (Illustriert & mit der legendären Schatzkarte). Robert Louis Stevenson
Handschrift die kurze Botschaft:
»Du hast Zeit bis heute Abend zehn Uhr.«
»Er hatte Zeit bis zehn, Mutter,« sagte ich; und gerade in diesem Augenblick begann unsere alte Uhr zu schlagen. Das plötzliche Geräusch jagte uns einen furchtbaren Schrecken ein; aber es war eine gute Neuigkeit: es war erst sechs Uhr.
»Nun, Jim,« sagte meine Mutter, »den Schlüssel!«
Ich suchte in allen seinen Taschen. Ein paar kleine Münzen, ein Fingerhut, etwas Nähfaden, ein paar grosse Nadeln, ein Stück Kautabak, der an dem einen Ende abgebissen war, sein Schiffermesser mit dem gekrümmten Heft, ein Taschenkompass und eine Zunderdose – das war alles, was sie enthielten, und ich begann den Mut zu verlieren.
»Vielleicht trägt er ihn um den Hals,« sagte meine Mutter.
Ich überwand meinen starken Widerwillen, öffnete sein Hemd am Halse – und richtig, an einem geteerten Bindfaden, den ich mit seinem eigenen Messer durchschnitt, fanden wir den Schlüssel.
Dieser glückliche Fund erfüllte uns mit Hoffnung, und wir liefen sofort, ohne eine Sekunde zu verlieren, nach der kleinen Stube hinauf, in der er so lange geschlafen hatte und wo seit dem Tage seiner Ankunft seine Kiste an der Wand gestanden hatte.
Sie sah von außen genau wie jede andere Seemannskiste aus; auf dem Deckel war mit einem glühenden Eisen der Buchstabe B eingebrannt; die Ecken waren etwas zerstoßen, wie wenn sie lange Dienste getan hätte und viel herumgeworfen worden wäre.
»Gib mir den Schlüssel!« sagte meine Mutter.
Das Schloss ging etwas schwer, aber im Nu hatte sie den Schlüssel umgedreht und den Deckel zurückgeschlagen.
Ein starker Geruch nach Tabak und Teer schlug uns entgegen, aber obenauf war nichts zu sehen als ein sehr guter Tuchanzug, der sauber gebürstet und sorgfältig zusammengelegt war. Die Kleider waren niemals getragen worden, wie meine Mutter mir sagte. Darunter aber lag ein Haufen von Gerümpel: ein Quadrant, ein Zinnkännchen, mehrere Stücke Tabak, zwei Paar sehr schöne Pistolen, ein Silberbarren, eine spanische Taschenuhr und einige andere Schmucksachen von geringem Wert und meistens von ausländischer Herkunft, ein Paar Kompasse in Messinggehäusen und fünf oder sechs seltene westindische Muscheln.
Ich habe später oft darüber nachgedacht, warum er wohl diese Muscheln in seinem Verbrecherleben überall mit sich herumgeschleppt hätte.
Wir hatten nichts von irgendwelchem Wert gefunden, außer dem Silber und den Schmucksachen, und diese konnten uns alle nichts nützen. Unterhalb dieses Gerümpels lag ein alter Schiffermantel, der in mancher Sturmnacht von Seesalz weiss geworden war. Meine Mutter riss ihn ungeduldig heraus, und da lag vor uns ein Bündel, das in Wachstuch eingewickelt war und dem Anschein nach Papier enthielt, und daneben ein Leinenbeutel, der wie von Goldstücken klirrte, als meine Mutter ihn aufhob.
»Ich werde diesen Schurken zeigen, dass ich eine ehrliche Frau bin,« sagte sie. »Ich nehme, was mir zukommt, und nicht einen Heller mehr. Halte Frau Crossleys Beutel!«
Sie begann den Betrag der Rechnung des Kapitäns aus seinem Beutel in den hineinzuzählen, den ich hielt.
Es war ein langwieriges, schwieriges Geschäft; denn es waren Münzen von allen Größen und aus allen möglichen Ländern – Dublonen und Louisdors und Guineen und Piaster, und ich weiss nicht was sonst noch, und sie lagen alle bunt durcheinander. Außerdem kamen Guineen am seltensten vor, und nur mit diesen konnte meine Mutter ihre Rechnung machen.
Als wir mit unserem Geschäft halb fertig waren, legte ich plötzlich meine Hand auf ihren Arm; denn ich hatte in der stillen, kalten Winterluft einen Ton gehört, bei dem mir das Herz in die Kehle kam – das Tap-tap von dem Stock des Blinden auf der gefrorenen Landstraße.
Es kam näher und immer näher, und wir saßen da und hielten den Atem an. Dann gab es einen scharfen Schlag gegen die Haustür, und dann konnten wir hören, wie die Klinke gedreht wurde und wie der Riegel klirrte. Offenbar versuchte der Kerl ins Haus zu kommen. Dann war es lange Zeit totenstill, drinnen und draußen. Schließlich begann wieder das Tap-tap und entfernte sich zu unserer unbeschreiblichen Freude und klang immer leiser, bis es endlich ganz aufhörte.
»Mutter,« sagte ich, »nimm das Ganze und lass uns gehen!«
Ich war überzeugt, dass die verriegelte Tür Verdacht erregt haben müsste und dass uns bald das ganze Hornissennest um die Ohren schwirren würde. Aber wie zufrieden ich war, dass ich die Tür verriegelt hatte, das kann niemand sich vorstellen, der diesen fürchterlichen Blinden nicht gesehen hat.
Meine Mutter wollte jedoch, so gross auch ihre Furcht war, keinen Heller mehr nehmen, als was ihr zukam; sie wollte sich aber auch nicht mit weniger zufrieden geben; denn sie war eigensinnig.
Sie sagte, es sei ja noch lange nicht sieben; sie kenne ihr Recht, und ihr Recht wolle sie haben. Sie stritt noch mit mir darüber, da hörten wir einen kurzen, leisen Pfiff, in ziemlich weiter Entfernung vom Berge her. Das war für uns beide mehr als genug. Sie sprang auf und rief:
»Ich will nehmen, was ich habe!«
»Und ich will dies nehmen, um die Rechnung auszugleichen,« sagte ich und griff nach dem Wachstuchpaket.
Im nächsten Augenblick tasteten wir beide uns im Dunkeln die Treppe hinunter; denn wir ließen die Kerze neben der leeren Kiste stehen. Und dann hatten wir schon die Tür geöffnet und waren in vollem Rückzug.
Wir waren keine Sekunde zu früh gegangen. Der Nebel zerteilte sich schnell; der Mond schien bereits ganz hell über die ganze Landschaft, und nur gerade unten auf dem Grunde des Hohlweges und bei der Haustür unseres »Admiral Benbow« hing noch ein dünner Schleier, der die ersten Schritte unserer Flucht verhüllte. Noch lange nicht auf halbem Wege nach dem Dorf, ganz dicht am Fuß des Berges, mussten wir in das helle Mondlicht hinaustreten. Und noch mehr: der Schall von Schritten mehrerer schnell laufender Menschen war bereits zu hören, und als wir uns umsahen, zeigte uns ein Licht, das hin und her schwankte und schnell näher kam, dass einer von den Leuten eine Laterne trug.
»Liebes Kind,« sagte meine Mutter plötzlich, »nimm das Geld und laufe! Mir wird übel.«
Da dachte ich, jetzt sei es sicherlich mit uns beiden zu Ende. Wie verwünschte ich die Feigheit der Nachbarn! Wie tadelte ich meine arme Mutter wegen ihrer Ehrlichkeit und ihrer Geldgier, wegen ihrer vorigen Waghalsigkeit und jetzigen Schwäche!
Zum Glück waren wir grade an der kleinen Brücke; ich führte sie, die an allen Gliedern bebte, bis an das Geländer; und da stieß sie einen Seufzer aus und sank gegen meine Schulter.
Ich weiss nicht, woher ich die Kraft nahm, und ich fürchte, ich habe sie hart angefasst, – aber es gelang mir, sie über den Uferrand zu schleppen und noch ein Stückchen unter den Brückenbogen zu ziehen. Weiter konnte ich sie nicht bekommen; denn die Brücke war zu niedrig, so dass ich kriechen musste.
Hier mussten wir nun bleiben – meine Mutter lag kaum versteckt, und wir waren noch in Hörweite vom »Admiral Benbow«.
Kapitel 5 – Der Tod des Blinden
Meine Neugierde muss wohl stärker gewesen sein als meine Furcht; denn ich konnte nicht bleiben, wo ich war, sondern kroch wieder die Böschung hinauf, wo ich meinen Kopf hinter einem Busch Heidekraut verbarg; von dort aus konnte ich die Landstraße vor unserem Hause übersehen.
Kaum lag ich in diesem Versteck, da begannen auch meine Feinde schon sichtbar zu werden. Es waren sieben oder acht Männer; sie liefen schnell, ihre Schritte klangen laut auf der Landstraße, und der Mann mit der Laterne war den anderen um ein Stückchen voraus. Drei von ihnen liefen mit angefassten Händen, und ich konnte trotz dem Nebel sehen, dass der Mann in der Mitte der blinde Bettler war.
Im nächsten Augenblick gab seine Stimme mir die Gewissheit, dass meine Vermutung richtig gewesen war; denn er schrie:
»Schlagt die Tür ein!«
»Jawohl, Herr!« antworteten