2 Jahre später. Regina Mars

2 Jahre später - Regina Mars


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gedehnter, der Wind in den Pappeln rauschte dröhnend träge und das Lächeln, das sich auf dem Gesicht des Gentlemans ausbreitete, erschien im Zeitlupentempo. Erst tauchten blitzende, gerade Zähne auf, dann tiefe Grübchen, und dann verengten sich seine Augen zu leuchtenden Schlitzen.

      Er sah so schmerzhaft vollkommen aus. Wie alt mochte er sein? Kaum älter als Kai. Kaum älter als fünfzehn.

      Er wurde sich bewusst, dass er den Kerl anstarrte. Aber ihm fiel nichts ein, was er sagen konnte. Sein Kopf, in dem sonst hundert Rädchen gleichzeitig ratterten, war wie leergefegt.

      Zum Glück sagte der Gentleman etwas. Etwas Magisches.

      »Hallo.«

      Kais Knie verwandelten sich in Gelee.

      

      2. Arthur, 15

      »Fahr schon mal vor«, hatte seine Mutter gesagt. »Wir kommen nach, sobald wir können.«

      Irgendeine wichtige Besprechung mit dem Label. Arthur kannte das schon. Trotzdem konnte er nichts gegen die Leere in seinem Bauch tun. Hunger war das nicht. Das war etwas anderes. Seit er klein war, war er seinen Eltern hinterhergerannt. Erst auf rundlichen Stummelbeinchen, dann auf immer längeren. Aber sie waren nie lang genug geworden, um die beiden einzuholen. Immerzu sah er nur ihre Rücken.

      Er kannte es nicht anders. Besprechungen, Termine, wichtige Meetings. Arbeit rund um die Uhr. Selbst in den Sommerferien. Selbst jetzt.

      Drei Tage lang hatte er sie für sich gehabt. Klar hatten sie jede Mahlzeit durchtelefoniert, aber zwischendurch, für eine oder zwei Stunden, waren sie eine Familie gewesen.

      Sie hatten ihn aus der Sprachschule, die er als Zweitbester abgeschlossen hatte, abgeholt und noch ein paar Tage in Paris verbracht. Dann wollten sie in das Ferienhaus weiterziehen, das sie im letzten Jahr gekauft hatten. Das im Schwarzwald, umringt von Bäumen und gewärmt von der süddeutschen Sonne. Heimaturlaub lag voll im Trend, behauptete seine Mutter. Urlaub zuhause waren die neuen Malediven, das sagten auch all ihre Freunde.

      Aber so toll hatten sie es im letzten Sommer wohl doch nicht gefunden. Als Arthur abreisebereit die Stufen ihrer Pariser Suite herunterkam, hatten sie ihm eröffnet, dass sie sich noch um etwas kümmern mussten. Eine Besprechung halt. Wie immer.

      Er war alleine geflogen, hatte alleine ein Taxi genommen, alleine einen horrenden Betrag dafür gezahlt und war schließlich vor ihrer Ferienvilla gelandet. Villa Blau hieß sie.

      Der Kies knirschte unter seinen italienischen Lederschuhen, als er ausstieg. Die Nachmittagssonne wärmte seine Kopfhaut und die Ruhe hier überraschte ihn. Nach drei Tagen Paris war es beinahe unheimlich. Der Wald hinter dem Gebäude war so dicht, dass sich alle Details in Schwärze verloren.

      Als das Taxi hinter ihm startete und Steinchen verspritzend abfuhr, beschloss Arthur, das Beste daraus zu machen. Das Beste daraus, dass er ganz allein hier festsaß. Vielleicht gab es andere Leute in seinem Alter. Im angrenzenden Dorf oder der nahen Kleinstadt. Vielleicht fand er in der Bibliothek ein Buch auf Französisch oder gar Tschechisch und niemand würde ihn davon abhalten, etwas derart Nutzloses zu lesen.

      Vielleicht würde er den Luchs wiedersehen.

      Letztes Jahr, als sie das erste Mal hier Urlaub gemacht und seine Eltern beide während des Frühstücks am Telefon gehangen hatten, hatte er ein leises Geräusch vernommen. Aus den Bäumen, die die Villa umgaben.

      Der Mischwald begann direkt hinter dem hohen Holzzaun, der die Terrasse einrahmte. In einer der dichten Kronen hatte sich etwas bewegt. Fast unmerklich, aber da war eindeutig ein Geräusch gewesen.

      Zwei helle Augen. In einer Eiche, umgeben von dunklem Blattwerk. Arthur war zu Stein erstarrt. Die Kaffeetasse halb zum Mund gehoben, hatte er da gesessen und den Luchs angeglotzt.

      Der Luchs war natürlich kein echter Luchs, sondern ein Junge in seinem Alter. Vierzehn war Arthur damals gewesen. Ungeschickt, unsicher, auf verzweifelte Art freundlich und mit Babyspeck an Wangen und Bauch. Der Junge, der da oben auf dem Ast hockte, geduckt wie eine sprungbereite Katze, hatte keinen Babyspeck. Er war schlank, nein, mager. Ungepflegt wie ein wildes Tier, mit einem ausgebleichten Pullover und einer Löwenmähne, die nach allen Seiten abstand.

      Arthur hatte ihn nur angaffen können. Er hatte noch auf den Ast gestarrt, als der Luchs längst zusammengezuckt und im Blattwerk verschwunden war. Arthur hatte ein Rascheln auf der anderen Seite des Stamms gehört, als er weggelaufen war. Über den Blätterteppich, durch den düsteren Wald. Den Wald, vor dem Arthur sich fürchtete.

      Aber der Luchs hatte sich nicht gefürchtet. Der war Arthur wie eine Wildkatze erschienen, ungezähmt und … frei. Etwas an ihm ließ ein wildes Sehnen in Arthur entstehen. Ein hartes Ziehen, einen Wunsch nach … Er wusste es nicht.

      Aber als er sich umgesehen hatte, auf seine Eltern geschaut hatte, die immer noch telefonierten, die gepflegte Terrasse, den Zaun, der sie umgab … Da war er sich vorgekommen wie ein fetter Welpe, der sein Leben in einer Wohnung verbracht hatte. Ein Schoßhündchen. Irgendwie war er das auch.

      In den nächsten Tagen hatte er versucht, seine Furcht zu überwinden und den Wald zu erforschen, stets in der Hoffnung, den Luchs wiederzusehen. Hatte er nicht. Und immer, wenn die Villa außer Sichtweite geraten war, hatte es ihn in der düsteren Stille des Waldes gegruselt. Also hatte er jedes Mal kehrtgemacht und war zurück in die Zivilisation geflüchtet.

      Aber nun war er fünfzehn. Fast erwachsen. Arthur straffte sich und sah an der verschnörkelten Fassade der staubblauen Villa empor. Riesige Hängepflanzen ergossen sich aus jedem der orientalisch anmutenden Fenster. Die waren einer der Gründe gewesen, aus denen seine Mutter das Gemäuer gekauft hatte. Sie ließen die Villa exotisch wirken, mehr als die anderen Gebäude in der Gegend. Auch der Pool im Innenhof, der mit türkisblauem Mosaik gekachelt war, trug zu diesem Eindruck bei.

      Arthur holte tief Luft. Diesmal würde er sich nicht vor dem Wald fürchten. Und vielleicht würde er den Luchs-Jungen wiedersehen, wenn er sich weit genug hineinwagte.

      Mit hoch erhobenem Kopf ging er auf die Eingangstür zu. Herr Petersen war da und würde ihn empfangen, hatte seine Mutter gesagt. Der Gärtner. Wenn Arthur sich so umsah, schien der den Kampf gegen das wuchernde Gestrüpp zu verlieren. Aber Herr Petersen war im letzten Jahr schon krumm und recht schwächlich gewesen, also …

      Es war nicht Herr Petersen, der die Tür öffnete. Es war der Luchs.

      Arthur erkannte ihn sofort. Er war größer und noch magerer geworden, aber seine Augen waren so hell wie eh und je. Und seine Haare noch chaotischer. Und der Luchs erkannte ihn. So, wie dessen Augenbrauen nach oben wanderten, wie sein schmaler Mund sich öffnete … Er erinnerte sich an Arthur! Das machte ihn seltsam stolz. Er hielt sich nicht für sehr erinnernswert. Bevor er es verhindern konnte, breitete sich ein dämliches Lächeln auf seinem Gesicht aus.

      »Hallo«, sagte er.

      Der Luchs schwieg einen Moment lang. Er wirkte wieder wie eine Wildkatze, bereit zur Flucht. Als könnte er jederzeit die uralte Tür zuschlagen. Oder in einem Sprung über Arthur hinwegsetzen und in den Wald türmen. Aber er blieb.

      »Hallo«, entgegnete er schließlich. Seine Stimme war rau, als wäre er erkältet.

      »Ich …« Arthur wusste nicht genau, was er sagen sollte. »Ich bin Arthur von Hasslach. Ich bin schon von Paris aus vorgefahren. Meine Eltern kommen nach.«

      Was laberst du da für einen Blödsinn?, dachte er. Du klingst wie ein Kleinkind. Du bist ein Mann, reiß dich zusammen!

      »Du bist den ganzen Weg allein gefahren?«, fragte der Luchs und legte den Kopf schief. Er schien tatsächlich beeindruckt davon, dass Arthur seinen rundlichen Hintern erst in einen Flugzeugsitz und dann in ein Taxi verpflanzt hatte.

      »Keine große Sache.« Arthur versuchte, mit jeder Faser seines Seins cool zu wirken. »Ich bin auch


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