Palmengrenzen. Gerhard Köpf
als trüge ich ihn schon seit Jahren. So muss es sein. Auch der feine Herr hinter der Ladentheke war mit meiner Wahl einverstanden, was ein ironisches Lächeln verriet, das über seinen Mund huschte. Hatte der Verkäufer wirklich soeben Humphrey Bogart gemurmelt? Oder bildete ich mir das nur ein? Ironie, verpackt als Kompliment, ist eine italienische Spezialität. Der Signore verstand sich auf Schmeicheleien, um mir das Bezahlen zu erleichtern. Bei dem Preis hätte mir eigentlich schwindlig werden müssen. Als ich den Laden verließ, merkte ich, dass ich irgendwie anders ging. Mein Schrittmaß hatte sich verändert. Mir war zumute wie nach einem Kinobesuch, der einem den Rücken stärkt und die Gangart verändert. Das kam von dem, was ich da auf dem Kopf trug. Jedes Schaufenster nützte ich, um mich zu überzeugen, dass ich in Wirklichkeit aus einem Film stammte. Erst drei Straßen weiter merkte ich, dass mir ein bekanntes Gesicht folgte. Man spürt so etwas instinktiv.
Der Mann, der mich seit Monza beschattete, war gut gekleidet, um die Vierzig, circa eins achtzig, drahtig und muskulös, wie ich aus den Augenwinkeln feststellen konnte. Er verlor mich – ob absichtlich oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis – zuletzt im Menschengewimmel. Es war nicht schwer, sich zu verlieren. Milano Centrale ist einer der größten und zugleich wichtigsten Bahnhöfe Europas. Seine imposante Erscheinung verdankt er Mussolini. Heute zählt der Hauptbahnhof zu den Grandi Stazioni Italiens. In der Haupthalle herrscht ein schier unüberschaubares Gewusel, man könnte sich tagelang darin aufhalten und Studien betreiben. Doch ich musste zurück nach Hause.
Die italienischen Züge waren überraschend sauber und pünktlich. In Milano Centrale nahm ich den Frecciarossa nach Venezia Santa Lucia, stieg aber in Verona Porta Nuova um und fuhr mit dem aus Bologna kommenden EC über den Brenner Richtung München. Meine Forschungen im Archivio di Stato di Milano zur Kulturgeschichte der Henkersmahlzeit waren abgeschlossen, sämtliche mir wichtigen Materialien gesammelt und gesichtet. Jetzt fehlte nur noch die Reinschrift, die ich in aller Ruhe zu Hause vornehmen würde. Nachdem ich mich im leeren Abteil ausgebreitet, das Gepäck verstaut, den Mantel an den Haken gehängt, die Schuhe abgestreift und meine Beine auf dem gegenüberliegenden Sitz ausgestreckt hatte, überließ ich mich dem Dahingleiten des Zuges und schickte meine Gedanken auf Freiflug hinaus aus dem Fenster, um entspannt noch einmal all jene Ereignisse zu rekapitulieren, die mich in letzter Zeit auf so eigenartige Weise beschäftigt hatten. Den Hut behielt ich auf und schob ihn lediglich ein wenig ins Genick.
Ich schloss die Augen und war sogleich in einem Film, der vor mir ablief. Dabei muss ich wohl vor lauter Kopfkino eingenickt sein. Als ich wieder erwachte, zückte ich, einer alten Gewohnheit folgend, mein Notizbuch. Schon begann mein Stift wie von selbst über das Papier zu gleiten und die Seiten zu füllen. Ich fühlte in mir den Drang, jene Dinge skizzenhaft noch einmal gedanklich zu durchleben, die in mein bis dahin bestens eingerichtetes, notariell geordnetes Leben getreten waren, in dem ich mich durchaus wohl gefühlt hatte. Erfahrungsgemäß gelang mir das Rekapitulieren immer am besten, wenn ich es aufschrieb. Ich legte sozusagen gewohnheitsmäßig eine Aktennotiz an. Dabei war mir, als suchten die Geschehnisse ihren Weg aus meinem Kopf über meinen rechten Arm in meine Hand, und von dort, verlängert über meinen Bleistift, in mein Notizbuch. Es war eine Art Automatismus, verbunden mit dem Bedürfnis, meine jüngsten Erfahrungen einer Institution mitzuteilen. Aber wer kam dafür infrage? Für „Innere Sicherheit“ ist das Innenministerium zuständig. In Bayern gibt es außerdem das Staatsministerium der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat: eine Fächerverbindung, die wie von der Mafia ersonnen scheint. Finanzen und Heimat! Kernkompetenzen der Ehrenwerten Gesellschaft. Die höchste Institution für mich war freilich immer noch mein Notizbuch, dem ich meine Gedanken, meine Erfahrungen und Erlebnisse anvertraute und auf das ich jederzeit zurückgreifen konnte. Ich halte mich an die eiserne Regel: Nulla dies sine linea.
„Mafia“ ist ein inflationär gebrauchtes Wort, das angeblich vom arabischen mafya stammt mit der Bedeutung von „Ort des Schattens“. Andere nennen ein Theaterstück namens I mafiusi di la Vicaria aus dem neunzehnten Jahrhundert als Ursprung. Mögen sich darüber die Gelehrten streiten … Fest steht: Kein Mafioso nennt sich Mafioso, und keiner spricht von der Mafia. Es geht immer nur um die gemeinsame Sache: La Cosa Nostra.
Mein Bleistift trieb mich weiter, die Worte flogen nur so aufs Papier, sie ließen sich nicht länger zurückhalten. Mich erfasste eine Art Schreibrausch, und mich überraschte, was sich da wie von selbst formulierte und unter der Hand zugleich ein Ich entwarf, in dem das Subjekt vom Ego separiert war.
Nicht, wo du die Bäume kennst, sondern wo die Bäume dich kennen, ist Heimat, hörte ich einst auf einer Reise durch die Mandschurei. Der jüngst wieder in Mode gekommene, seiner angebräunten Ränder notdürftig entkleidete und von höchsten Stellen erneut in ideologische Umlaufbahnen geschossene Begriff der Heimat ist mir alles andere als fremd. Allerdings hat sich in meiner Heimat seit vielen Jahren etwas festgesetzt, das mittlerweile nicht mehr wegzudenken oder wegzudiskutieren ist, weil es dieser Region ihr zeitgenössisches Profil verschafft.
Ich spreche von der Ehrenwerten Gesellschaft, der Mafia, die von ihren Mitgliedern nie so genannt wird. Sie sprechen je nach Region von der Cosa Nostra, der ’Ndrangheta, Camorra oder der Sacra Corona Unita. Und diese gehören zum Allgäu wie Laptop und Lederhose zu Bayern, fast möchte ich sagen: Dieses lodenversiegelte Allgäu ist der Club Méditerranée der Mafia!
Die Ursache dafür ist die Verschiebung der Palmengrenze. Diese Theorie geht auf den sizilianischen Schriftsteller Leonardo Sciascia zurück. Wie sich die Palmen immer weiter nach Norden ausbreiten, breitet sich auch die Mafia immer weiter aus. Palmen wachsen heute auch an Orten, an denen sie gestern noch undenkbar waren. Und genauso verhalte es sich, so Sciascia, mit der Verbreitung der Mafia. Mittlerweile wachsen Palmen und Mafia nicht nur in den industriellen Zentren, sondern auch im Allgäu.
Aus dem Sammelordner
Die Henkersmahlzeit ist weit mehr als eine ironische Generosität des Rechts. Alle Zeiten kennen sie, und auf allen Erdteilen ist sie zu finden. Lange herrschte die Meinung, das Henkermahl befriedige mehr den „Appetit der Massen für sentimentale Erregung“ als den Hunger des Delinquenten.
Die Geräuschlosen
Ich glaube an Italien. Für eine Weile habe ich in Italien gelebt und war mit einer Italienerin verheiratet, die in Umbrien, genauer gesagt in Gubbio, geboren wurde, der Stadt der Quaranta Martiri. Maria kam vor Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Die erste italienische Stadt, die ich kennenlernte, war Brescello. Der Flecken liegt in der Emilia-Romagna und erschien mir immer wie ein Abbild von ganz Italien, wenn auch in Schwarz-Weiß. Ich kannte die Menschen dieser Stadt, vor allem aber die Kirche, das Pfarrhaus sowie die Casa del Popolo, und ich kannte den katholischen Pfarrer und den kommunistischen Bürgermeister: Don Camillo und Peppone.
Am Ende meiner Tage möchte ich in Italien sterben und dort begraben werden. Ich trinke italienischen Kaffee, liebe italienische Weine, esse italienische Pasta, verwende in meiner Küche ausschließlich italienisches Olivenöl. Jeden Tag frühstücke ich bei einem Italiener, ohne Italien ist mir mein Leben nicht vorstellbar, obwohl ich in der privilegierten amerikanischen Besatzungszone aufwuchs und meine Sozialisation zunächst den Ikonen des Siegers geschuldet war. Doch mit dem ersten italienischen Eis, das ich in einer Gelateria namens Dolomiti lutschte, änderte sich schlagartig alles. Von da an zählte nur noch Italien!
Nichts ist mir widerlicher als die deutschen Vorurteile gegen Italiener: Sie seien allesamt kriminelle Katzelmacher, zu faul zum Arbeiten, hätten nichts als Dolce vita und Makkaroni im Kopf und außerdem die Deutschen im Weltkrieg verraten. Bestenfalls von Autos und Mode verstünden sie etwas, aber das sei auch schon alles. Dummes Geschwätz, sonst nichts. Jetzt bin ich alt und denke immer noch viel über Italien und die Italiener nach. In Italien gab es schon eine Hochkultur, als die Germanen noch auf den Bäumen hockten. Das wenige, das die Deutschen an Sinn für Eleganz und Schönheit haben, verdanken sie den Italienern. Für die Deutschen war Italien nie nur ein Nachbarland unter vielen, es war immer das Land der Sehnsucht und der Selbstfindung. Alle bedeutenden Künstler zog es nach Italien. Goethe erlebte in Rom seine „Wiedergeburt“, und selbst Thomas Bernhard ist auf der Piazza