Irrungen und Wirrungen Europas. Slavko Leban

Irrungen und Wirrungen Europas - Slavko Leban


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außergewöhnlich, es ist aber auffällig und gewiss merkwürdig, dass diese Vorwürfe intensiver werden, je weiter die liberale Demokratie entwickelt ist und je üppiger die Libertinage auf dem Feld des Apolitischen wird. Ohne dass man an die Frage der philosophischen oder theologischen Erklärung des Begriffs „Freiheit“ näher herangeht, genügt es, festzustellen, dass der heutigen liberalen Demokratie, in deren Rahmen sich die politische Freiheit in der Moderne entwickelt und entfaltet, genug Werkzeuge zur Verfügung stehen, um jedem einzelnen Menschen die Partizipation am politischen und vorpolitischen Leben der Gesellschaft zu ermöglichen. Wir wollen an dieser Stelle nicht die Frage näher erörtern, ob das zeitgenössische Individuum an der aktiven Gestaltung der politischen Freiheit in seiner Gesellschaft und an der Übernahme der Verantwortung, die aus diesem Unternehmen hervorgeht, überhaupt wirklich interessiert ist; es genügt vorerst, festzustellen, dass das oben Erwähnte die zeitgenössische Gesellschaft Europas von den unfreien Systemen der Vergangenheit unterscheidet. Es unterscheidet die zeitgenössische pluralistische und liberal-demokratische Gesellschaft Europas von den tyrannischen, diktatorischen oder autoritären Systemen der Vergangenheit. Aber unabhängig von dem Lobgesang auf den Reichtum des Arsenals der erwähnten theoretischen Werkzeuge muss betont werden, dass das gegenwärtige Europa eine Gesellschaft der einseitigen Freiheit ist, ein Raum des geistigen Vakuums unter dem Etikett des Konsums, eine Welt in Erwartungen gefangener Menschen. Von diesem Standpunkt aus gesehen, ist die kritische Einstellung des Menschen gegenüber dem Stand der Freiheit in der heutigen liberal-demokratischen Massengesellschaft verständlich und nachvollziehbar. Das ist allerdings nur eine Seite der Wirklichkeit. Nimmt man die Motive der Kritik wie auch die Kritik selbst ernst und geht man von der Annahme aus, dass sich der heutige Mensch der Funktion der erwähnten Werkzeuge bewusst sei, dann ergibt sich zwangsläufig folgende Frage: Sind die Resignation und die Unzufriedenheit des heutigen Menschen Ausdruck seiner Trägheit beziehungsweise seines Desinteresses an engagiertem öffentlichen politischen Tun oder aber ein äußeres, sichtbares Zeichen seines mutlosen Gehorsams, sozusagen die Widerspiegelung seiner freiwilligen Unterwerfung? Als Begriffskonstrukt ist eine vollkommene politische Freiheit zwar möglich, als politische Wirklichkeit bleibt sie aber eine Utopie. Das gilt genauso für das Fehlen der politischen Freiheit; es gibt keine vollkommen freiheitslose Gesellschaft. Im Falle der politischen Freiheit geht es lediglich um die mehr oder weniger stark ausgeprägte Präsenz dieses hohen Wertes in einem Gemeinwesen. Es klingt zwar befremdlich, wenn man über die unterwürfige Verhaltensweise des Menschen in einer liberal-demokratischen und pluralistischen modernen Gesellschaft sinniert, da es in einer solchen Gesellschaft eine unterwürfige Verhaltensweise eo ipso nicht geben kann beziehungsweise sie nur als eine exotische Ausnahmeerscheinung möglich sein sollte. Die Europäische Union ist offiziell eine solche Gesellschaft, allerdings eine, in der die freiwillige Unterwerfung keine Ausnahme darstellt, sondern sogar die Regel ist. Über die Ursache des demütigen Verhaltens des zeitgenössischen massendemokratischen Menschen, die Diskrepanz zwischen dem politischen Gesagten und der politischen Wirklichkeit wie auch die Entfremdung des modernen Menschen von den Imperativen und Tugenden der Natur im zeitgenössischen Europa wollen wir in dieser Abhandlung nachdenken, um der Substanz des Habitus des heutigen Homo politicus näherzukommen.

      Nach der heute allgemein geltenden Auffassung liegt die Grundaufgabe der Politik in der Gestaltung der Ordnung und dem Ausgleich der unterschiedlichen Interessen in der Gesellschaft. Um diese Aufgabe zu bewältigen, sind verbindliche Entscheidungen durch eine allgemein anerkannte und mit der politischen Autorität ausgerüstete Gewalt im Geltungsbereich öffentlicher Raum nötig. Die Durchsetzung politischer Pläne und Visionen wickelt sich in der Praxis durch die gezielte Einflussnahme verschiedener gesellschaftlichen Gruppen ab, die entschlossen sind, ihre Ziele als Modus Vivendi in der Gesellschaft durchzusetzen. Diese zweckorientierte Tätigkeit darf aber nicht mit dem Verfahrensmuster im verwaltungstechnischen Sinne verwechselt werden. In vergangenen Zeiten wurde die Politik hauptsächlich mit dem Begriff Staat in Verbindung gebracht; heute ist sie begrifflich auch teilweise privatisiert: Es gibt die Politik des Vereines, Verbandes, Unternehmens usw. Vorab muss betont werden, dass für diese Abhandlung nur die Politik im klassischen Sinne von Belang ist.

      Das politische Handeln ist – dem deutschen Politikwissenschaftler Gerhard Lehmbruch zufolge – grundsätzlich darauf ausgerichtet, gesellschaftliche Konflikte über Werte verbindlich zu regeln. Ziel der Politik ist die Herstellung der Ordnung im Staate, wozu genaue Verfahrensregelungen vorgesehen sind. Im politischen Wesen der zeitgenössischen europäischen Gesellschaft, die sich in Bezug auf das Verfahrensmuster als eine parlamentarische Demokratie deklariert, stellt die Rechtsstaatlichkeit einen der wichtigsten Faktoren dar. Nach dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit müssen alle staatlichen Akte auf gesetzlicher Grundlage beruhen, und jeder Staatsbürger ist vor dem Gesetz als gleichwertig anzusehen. Formell stimmt das in der Praxis ohne Weiteres, es wird dabei nur eine Kleinigkeit übersehen: Die Gesetze, vor denen alle gleich sind, werden ausschließlich von der herrschenden politischen Klasse verabschiedet, nicht von der Bevölkerungsmehrheit, wiewohl die Gefühlslage der Bevölkerung von den Herrschenden in Betracht gezogen wird. Kommt die Verdrängung des Politischen hinzu, ist ein Konflikt grundsätzlich unausweichlich.

      Ein unumgänglicher Faktor der Politik ist die Macht. Sie ist mit der Politik keinesfalls identisch, ist mit ihr aber sehr eng verbunden. Der Begriff „Macht“ ist offensichtlich schwer zu definieren. Jeder redet von Macht, doch eine allgemein akzeptierte Definition dieses Begriffes gibt es bis heute nicht. Eines ist allerdings unumstritten: Die Macht ist immer auf etwas oder auf jemanden bezogen. Der Begriff „Macht“ ist also ein bedingter. Es muss immer zwischen Macht als Möglichkeit durch Fähigkeit und Macht als Ausführung der erwähnten Möglichkeit unterschieden werden. In Bezug auf Politik ist diese Eigenschaft bedeutend. Mit dem Begriff Macht ist der Begriff Wille eng verknüpft. Ein willenloser Mächtiger in der Politik stellt nur Wortakrobatik dar, niemals die Wirklichkeit. In diesem Sinne bedeutet Macht die Herrschaft, was für die Zwecke dieser Abhandlung erheblich ist. Das Kratische gehört zu den wichtigsten Faktoren der Politik, da ohne Macht sowohl die grandiosesten Ideen als auch die allerbesten Sachkenntnisse immer leeres Potenzial bleiben. Macht ist natürlich kein Ziel der Politik, jedoch oft das eines Politikers. Sie bleibt stets ein unumgänglicher Faktor des politischen Handelns. Macht ist nicht gleich Gewalt, aber die Letztere, ultima ratio der Macht, ist zu gegenwärtig, um geleugnet zu werden. Obwohl die Mehrheit der Angehörigen der zeitgenössischen politisch-intellektuellen Elite – die sich ansonsten im Wolkenreich der Theorien üppig auslebt – von einer geschichtlichen Endsynthese spricht, kann sie mittlerweile niemanden mehr ernsthaft überzeugen, da die Erosionen des liberal-demokratischen Staates unübersehbar sind. Das Verhalten der Masse soll deshalb kratisch beeinflusst und gestaltet werden; es ist aber völlig ungewiss, ob die erwähnte Elite angesichts ihres ausgeprägten Antitraditionalismus fähig sein wird, den Horizont des jetzigen Politischen zu überschreiten und das Kratische auf das Niveau der Disposition zu zähmen.

      Auf der anderen Seite interessiert sich der durchschnittliche Bürger in der heutigen Massengesellschaft kaum für die theoretische, wissenschaftliche Definition des Begriffes Macht. Es ist indessen unumstritten, dass die Frage der Macht jeden Menschen unmittelbar berührt, sowohl auf der geistigen als auch auf der physischen Ebene. Das Individuum ist sich mit Sicherheit der Tatsache bewusst, dass ihm bezüglich der Frage der Macht im Rahmen der Politik die Rolle einer Taube zukommt. Es träumt ohne Weiteres von der Transformation in die Rolle des Falken, was das Individuum, wenn es einen Wahlzettel in die Urne einwirft, theoretisch auch ist. Die Reflexion des Einzelnen über die Macht fußt auf einer biologischen Grundlage und ist vor allem emotional; seine Gruppenverhaltensweise ist sicherlich vorhanden, allerdings hauptsächlich fiktiv und ausschließlich formal normativ. Da der Politik in der Spätmoderne der Faktor Moral hinzugefügt worden ist, schmückt sich der moderne Massendemokrat mit der Rolle des Gerechten; der Begriff des Politischen setzt demnach den der Gerechtigkeit voraus. Die erwähnte Gerechtigkeit ist allerdings äußerst einseitig und ausschließlich utilitaristisch. Die Wurzeln dieses menschlichen Verhaltens liegen in seiner biologischen Fähigkeit, die Handlungsfolgen der Macht abzusehen, ohne sie direkt und konkret erfahren zu müssen. Die Breite seiner Verletzlichkeit kann er problemlos abschätzen und versucht, sie zu minimalisieren.


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