Vermisst. Sam Hawken
Amando Armas war der diensthabende stellvertretende Inspector. Gonzalo winkte ihn zu sich. »Fax das bitte an alle Reviere«, bat er ihn. »Und schreib dazu, dass noch Fotos folgen.«
»Was ist das?«, fragte Armas.
»Nichts Aufregendes. Zwei Mädchen, die letzte Nacht nicht nach Hause gekommen sind. Das hat sich bis zum Feierabend sicher geklärt.«
Armas sah die Papiere durch. »Warum machen wir uns dann die Mühe, es rauszuschicken?«
»Die Väter sind in Sorge. Selbst wenn es nichts bringt, kann ich wenigstens sagen, wir haben unser Bestes getan.«
»Du hast ein zu weiches Herz, Gonzalo.«
»Verrat’s keinem.«
»Okay. Ich übernehme das.«
»Danke, Amando.«
Armas ging, und Gonzalo wandte sich wieder seinem Computer zu. Kurz kam ihm Iris Contreras in den Sinn. Gonzalo hatte ihren Vater kaum gekannt, aber er hatte sich bestimmt genauso gefühlt wie die beiden Männer eben, deren Töchter nicht nach Hause gekommen waren. Hoffentlich würde diese Sache anders ausgehen.
Er wollte nicht mehr daran denken. Er hatte immer noch die Berichte über die Schießerei zu schreiben. Wenn er Glück hatte, bekam er sie fertig, bevor der nächste Notfall reinkam.
4
Als sie am Truck ankamen, sah Bernardo aus, als würde er sich gleich übergeben. Jack stand neben ihm am Straßenrand und legte seine Hand auf Bernardos Schulter. Die neugierigen Blicke der Leute in den vorbeifahrenden Autos ignorierte er. Bernardo schien unter der heißen Sonne fast zu verwelken. Jack versuchte, ihm Halt zu geben.
»Es kommt alles in Ordnung«, sagte er. Es fühlte sich wie eine Lüge an, aber ihm fiel nichts anderes ein, um den Abgrund zwischen ihnen zu überbrücken. »Du hast den Inspector ja gehört. Das hier ist nicht Juárez. Vielleicht sind sie schon zu Hause.«
»Ich rufe an«, sagte Bernardo und richtete sich so weit auf, dass er sein Telefon aus der Tasche ziehen konnte. Während Bernardo telefonierte, schaute Jack auf sein eigenes Handy. Der Polizist hatte gesagt, er sollte Marinas Freunde anrufen. Er brauchte den Zettel vom Kühlschrank. Er hatte sich nie um solche Dinge kümmern müssen, denn Marina war immer verlässlich gewesen und nie zu lange weggeblieben, nie mit Fremden mitgegangen.
Bernardo beendete den Anruf. »Und?«, fragte Jack.
»Sie sind nicht da.« Bernardos Stimme klang hohl.
»Wir brauchen Fotos«, sagte Jack. »Hast du ein brauchbares auf dem Handy?«
»Ich glaube schon. Ich habe letzte Woche eins gemacht.«
»Ich habe keins. Ich muss Lidia anrufen.«
Lidia nahm beim zweiten Klingeln ab. »Ich habe versucht, sie zu erreichen, Jack«, sagte sie. »Immer geht nur die Mailbox an.«
»Du kannst erst mal aufhören«, sagte Jack. »Hast du Fotos von Marina auf deinem Handy? Neuere.«
»Ja, klar. Mehrere.«
»Die musst du mir mailen. Kannst du das? Mir die Fotos mailen?«
»Sicher, sobald wir aufgelegt haben.«
»Danke.«
»Was ist passiert, Jack?«
Jack sah Bernardo an, der wieder kurz davor war, die Fassung zu verlieren, sein Gesicht war grau. Wenn sie nicht irgendetwas unternahmen, würde er hier mitten auf der Straße weinend zusammenbrechen. Und in so einem Zustand, das wusste Jack, konnte er ihn nicht nach Hause bringen. »Ich erzähle dir später alles«, sagte er zu Lidia. »Wir tun, was wir können. Schick mir bitte die Bilder.«
»Okay, mache ich.«
Lidia legte auf, und Jack stellte sich dicht neben Bernardo. »Hey«, sagte er, »hey, hey, sieh mich an. Schick mir das Foto von Patricia. Dann müssen wir es irgendwo ausdrucken. Wir brauchen einen Internetladen. Weißt du, wo einer ist?«
Bernardo nickte. »Ja.«
»Bring uns hin.«
Sie stiegen in den Truck, und Bernardo zeigte ihm apathisch den Weg. Jack wollte ihn schütteln, ihm sagen, dass er auf die Polizei hören und die Ruhe bewahren solle, aber das ging im Fahren nicht. Schließlich erreichten sie einen kleinen Laden, eingeklemmt zwischen einem Lebensmittelmarkt und einem Schuhgeschäft. Jack parkte vor einem Hydranten.
Drinnen hatte sich ein Seniorentrio vor einem Computer versammelt, und in einem Metallregal hinter dem Tresen standen Kopierer und Drucker. Ein Schild verkündete, dass die Benutzung der Computer dreißig Pesos für fünfzehn Minuten kostete. Der Mann hinter dem Tresen legte seine Zeitschrift weg und nahm Jacks Dollars entgegen.
Die Computer waren alt, hatten aber Internetzugang. Jack rief sein Mailkonto auf und fand die Fotos im Posteingang. »Kann ich von hier ausdrucken?«, fragte er den Mann am Tresen.
»Ein Peso pro Seite.«
»Ich brauche Farbausdrucke.«
»Dann zwei Pesos.«
Der Mann sagte ihm, an welchen Drucker er die Bilder schicken sollte. Als sie fertig waren, loggte Jack sich aus und zahlte. Er betrachtete die Ausdrucke. Lidia hatte ein gutes Foto geschickt, auf dem Marina sich halb von der Kamera abgewandt hatte und nachdenklich wirkte. Patricias Bild war voller Lachen und Leben. »Gracias«, sagte Jack zu dem Mann am Tresen, dann gingen sie nach draußen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Bernardo.
»Ich bringe dich nach Hause. Dann fahre ich zum Konsulat, danach bringe ich der Polizei die Bilder.«
»Ich habe Angst, Jack.«
»Ich weiß. Aber wir tun das einzig Richtige. Sobald sie die Bilder haben, können sie verteilt werden. Irgendjemand muss etwas gesehen haben. Wie der Inspector gesagt hat: Morgen um diese Zeit –«
Bernardo packte Jacks Arm mit überraschender Kraft. Sein Gesicht war angespannt. »Wir müssen sie finden!«
»Wir werden sie finden. Steig ein.«
Bernardo blieb auf der Fahrt nach Hause stumm, Jack sah ihn nicht an. Einmal meinte er, einen leisen Schluchzer zu hören, wegen der Klimaanlage kaum vernehmbar, aber er war nicht sicher. Als sie zu Hause ankamen, waren Bernardos Augen noch roter als zuvor. Jack merkte, dass er ihn nicht länger ertrug. Er hielt vor dem Tor, ließ den Motor laufen und hoffte, Bernardo würde aussteigen.
»Jack, es tut mir leid.« Bernardos Stimme war fest.
»Ich rufe an, sobald ich fertig bin«, erwiderte Jack. »Bis dahin halt dich an das, was der Inspector gesagt hat: Ruf Patricias Freunde an. Ruf ihr Handy an. Wenn es was Neues gibt, bevor ich wieder da bin, dann ruf mich an.«
»Buena suerte.«
»Es wird alles wieder gut«, sagte Jack. »Geh zu deiner Familie.«
Bernardo stieg aus dem Truck und warf die Tür zu. Jack wartete, bis er im Hof war, und fuhr dann los. Im Rückspiegel überprüfte er, ob Bernardo wieder herausgekommen war, sah ihn aber nicht.
Er griff zu seinem Handy, das im Becherhalter steckte, und rief Marinas Nummer an. Es klingelte fünf Mal, dann sprang die Mailbox an. Er hörte Marinas Stimme. »Marina, ich bin’s«, sagte er nach dem Ton. »Ich werde dich finden, Liebling. Wo immer du bist, pass auf dich auf, ich komme dich holen.«
Er legte auf und steckte das Handy in den Becherhalter zurück, wo er es im Blick hatte. Niemand rief an.
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