Wie aus einer Radtour eine Weltreise wurde. Vom Improvisieren und kleinen & großen Abenteuern.. Annika Wachter Roberto Gallegos Ricci
knappes Jahr der Fernbeziehung, aber wir wussten, wir würden nicht für immer auf verschiedenen Kontinenten leben. Sobald ich die Uni hinter mir hatte, würden wir auf Reisen gehen.
Reisen, das war meine Leidenschaft, so lange ich denken kann. In meinem ersten Schulatlas ist meine Weltreiseroute dick eingezeichnet. Sie verläuft allerdings auf dem Wasser, da ich damals dachte, ich würde mir sicher eine Jacht leisten können, mit der ich um die Welt segeln würde. Menschen, ihre Kulturen, Landschaften und Natur, das alles zog mich magisch an. Inspiriert von Abenteuergeschichten, Reiseerzählungen und meinem Atlas schmiedete ich Pläne und träumte vom großen Abenteuer.
Roberto ging es ähnlich, doch das Vorhaben, seinen Jugendtraum von Abenteuern à la Indiana Jones auch Wirklichkeit werden zu lassen, hatte er als Erwachsener hinter anderen Plänen zurückgestellt. Nun haben sich die Prioritäten gewandelt. Roberto überließ also die Designfirma seinen Mitgründern, gab die WG auf, kaufte einen Reiserucksack, packte seine Siebensachen und setzte sich in ein Flugzeug nach Europa. Angst vor Veränderungen konnte man dem Mann wirklich nicht vorwerfen.
Wir lebten ein paar Monate gemeinsam in Deutschland, er lernte Deutsch, ich schrieb meine Abschlussarbeit, und wir bereiteten uns auf die große Reise vor. Das Datum des ersten Reisetages hatten wir ein Jahr vor Reisestart gewählt, einfach, weil wir uns sonst auf nichts festlegen konnten und so zumindest eine feste Komponente hatten. Auch die Richtung Osten stand bald fest, der Rest jedoch nicht. Nun ging es ans Konkretisieren. Erst spät setzte sich das Fahrrad gegen die anderen möglichen Transportmittel durch. Es war ein enges Rennen. Zunächst sortierten wir alles aus, was unpraktisch war, schwer und teuer zu beschaffen oder bisher noch nicht existierte. Das waren Kamele, eine Kombination aus einem Klapprad und einem aufblasbaren Kajak, ein Van sowie eine Eigenkonstruktion eines Kanadiers aus Blech mit aufpumpbaren Rädern, die zum Tretboot umfunktioniert werden konnten. Kajaks, Pferde und Wanderstiefel hingegen lagen noch lange im Rennen. Die Gründe, die für das Rad sprachen, lagen auf der Hand: Man bewegt sich kostenlos aus Muskelkraft, schnell genug, jedoch nicht zu schnell, wir besitzen bereits Fahrräder, und wir haben keine große Investition für den Fall, dass uns das Leben unterwegs doch nicht taugen sollte. Als Nachteil sahen wir den sportlichen Aspekt (klingt anstrengend, ob wir das überhaupt packen?) und den Fakt, dass wir uns auf (kleine) Straßen und (Rad-)Wege beschränken müssten. In einen umfunktionierten Kinderanhänger platzierten wir die beiden Wanderrucksäcke und Wanderstiefel, bereit, die Räder gegen Schusters Rappen zu tauschen, sobald es uns zu anstrengend würde oder uns die sehr simplen Fahrräder unter den Hintern weg zerbröselten.
Als Ziel setzten wir uns Südostasien, genauer gesagt Malaysia, wo unsere Freunde Apit und Dila wohnten. Den zeitlichen Rahmen ließen wir komplett offen. Da eine unbekannte Reisedauer aber für die meisten Freunde, Verwandten und Bekannten eine absolut unmögliche Vorstellung war und sie doch zumindest so »uuuuungefähr« wissen wollten, was wir so anpeilen, gaben wir ein Jahr an. Dennoch, eine unter Zwang geforderte Aussage ist ungültig, und so fühlten wir uns auch in keiner Weise unter Druck, dieses Jahr füllen zu müssen.
Der anvisierte Starttag kam ... und verging. Wir waren einfach noch nicht fertig, es gab noch viel zu viel zu tun. Aus Zeitdruck strichen wir die bepackte Proberunde und legten mit zwei Tagen Verspätung – ohne Generalprobe – los. Am Vormittag war Roberto noch einmal losgefahren und hatte uns eine zweite wasserdichte Packtasche gekauft, weshalb wir dann auch noch einmal umpacken mussten. Verabschiedet hatten wir uns nach und nach von allen Freunden, und so ganz ohne Abschiedskomitee war es auch gar nicht schlimm, dass wir erst um 13 Uhr starteten. Die meisten wussten nicht einmal, dass wir den ursprünglichen Starttag nicht hatten halten können und wirklich immer noch in Bremen steckten, also war es uns ganz recht, dass wir uns so klammheimlich davonstehlen konnten.
Wir rollten los, einfach vorwärts. Ließen die kleine Dachgeschosswohnung hinter uns, dann unsere Straße und unser Stadtviertel. Wir fuhren durch die Stadt, an Domsheide und Schnoor vorbei, über die Weser und bogen links auf den Weserradweg ab. Ziemlich schnell befanden wir uns auf bisher unbekannten Wegen, und gar nicht so viel später fuhren um uns herum Autos mit DH-Kennzeichen. Wir hatten den niedersächsischen Landkreis Diepholz erreicht!
Endlich waren wir unterwegs. Alles, was hinter uns lag, der Stress der letzten Wochen, die Unsicherheiten von vor ein paar Stunden schien plötzlich so klein, so unbedeutend. Es ging alles sehr schnell und fühlte sich so natürlich und richtig an, als wäre es nie anders gewesen. Wir waren unterwegs, frei und glücklich. Nichts konnte uns mehr stoppen.
Nach fünf Jahren sind wir im Endspurt. Wir sind wohl die einzigen Radler, die mit einer besseren Ausrüstung wiederkommen als am Anfang der Reise.
Tag 1 von 1934 Tagen. Das Radeln mit Gepäck und Anhänger ist zunächst etwas befremdlich, aber wir gewöhnen uns schnell daran.
Zentral- und Osteuropa
Nostalgie in Skopjes Haupt- und Nebenstraßen.
»Wo geht es hier bitte nach Malaysia?«
Tag 1, Kilometer 30, Bremen und Niedersachsen
POSITIV Flache fahrradfreundliche Landschaft, die Leute sagen »Moin«, gut ausgeschilderte Wege (wenn man drauf bleibt), viele Märchenstädte NEGATIV Wind und Nieselregen GELERNT Einfach mal machen, es muss auch nicht alles ausgereift sein
Es fängt gerade an zu tröpfeln, da sehen wir einen Fußgänger mit seinem Hund an der nächsten Kreuzung. Wir fahren langsam weiter und halten direkt neben ihm. »Entschuldigung, wo geht es denn bitte zurück zum Weserradweg?«, frage ich. Er mustert uns kurz, zeigt nach links und erklärt uns grob den Weg. Ein typisch wortkarges, aber hilfsbereites Nordlicht. Neugierig, aber zurückhaltend. Wir bedanken uns und wollen schon weiterziehen, da gibt der Spaziergänger sich einen Ruck und fragt, wo wir denn hinwollen mit alldem Gepäck. »Nach Malaysia!«, antworten wir stolz. Da ist er aber baff. Verlorenen Fernradlern läuft man im niedersächsischen Lunsen wohl nicht alle Tage über den Weg. Sein Blick schweift von meinem mit Kabelbindern am Lenker befestigten Fahrradkorb über die nagelneuen, aber sehr einfachen Fahrradhelme und bleibt schließlich an meiner orangenen einzelnen Fahrradtasche aus Stoff hängen. »Und wo seid ihr gestartet?«, fragt er weiter. Kurz wechseln Roberto und ich einen betretenen Blick. »In Bremen«, antworte ich schließlich etwas kleinlauter. Es kostet den guten Herrn sichtlich alle Kraft, ein spontanes Lachen zu unterdrücken. »Jo, na denn. Gute Fahrt!«, sagt er, zieht kurz an der Hundeleine und lässt uns links liegen. Bremen liegt genau 30 Kilometer weiter nördlich, und der gute Lunsener hat uns kein Wort geglaubt und uns sicherlich für Spinner gehalten. Und wer kann es ihm schon verübeln?
Es ist eigentlich alles ganz gut gelaufen, bis wir uns den Bogen über Verden sparen und lieber die direkte Strecke fahren wollten. Auf der Fahrradkarte sah das ganz einfach aus. In der Theorie sieht aber vieles einfach aus.
Wir treten an diesem Tag noch weitere 25 Kilometer lang in die Pedale und zelten schließlich vorm Ortsschild von Hoya zwischen zwei Maisfeldern. 55 Kilometer im Sattel, das ist meine persönliche Bestleistung. Meine längste Fahrradtour. Meine erste Mehrtagestour. Das erste Mal wild zelten in Deutschland. Und heute ist erst der Anfang. Es ist Tag eins von einer Reise, die uns in über fünf Jahren um die Welt führen würde. Aber als wir an diesem Abend auf unseren Isomatten sitzend die müden Beine massieren und uns ein einfaches, aber kalorienreiches Abendessen zubereiten, wissen wir das natürlich noch nicht.
Unser erster gelb-grün-blauer Weserradweg-Wegweiser! In Jeans und mit einem Secondhand-Discounter-Fahrrad zu 75 Euro sehen wir aus wie Tagesausflügler.