Nebel - Ein Reich ohne Schatten. Lisa Merkens
dich nichts an und du darfst nicht mitkommen.“
Es ist nicht zu überhören, dass ich ihr keinen Kompromiss abringen kann, trotzdem versuche ich es.
„Mama, kann mich nicht Fernando abholen?“, bettele ich.
Meine Mutter hat schon einen Widerspruch auf der Zunge liegen und hebt bereits an, mich streng zu ermahnen, wahrscheinlich gefolgt von einer Drohung, die sie wohl auch wahr machen wird, wenn ich jetzt nicht anständig bin.
„Resa, du hast es gehört, deine Mutter hat wichtige Geschäfte zu erledigen, bei denen du nicht dabei sein solltest. Bleib doch einfach hier. Das ist das Beste für alle Beteiligten.“
Mir steht der Mund offen! So ruhig und dennoch so entschieden habe ich meine Oma – Pardon, Großmutter – noch nie reden gehört. Das ist dermaßen entschlossen gewesen, dass ich es nicht wage, ihr auch nur ansatzweise zu widersprechen.
Meine Mutter nickt, steht nun endgültig auf, schultert ihre Umhängetasche und verabschiedet sich mit zwei Küsschen auf die faltigen Wangen bei meiner Großmutter und einer kurzen Umarmung bei mir.
Ich zucke zusammen, als die Tür mit einem Rums ins Schloss fällt. Ich habe Angst vor der alten Frau, die mich freundlich anlächelt. Mir kommt es vor, als wäre es das Lächeln einer Hexe, das heimtückische Grinsen einer Kannibalin, bevor sie ihr Opfer brutal verschlingt. Ich fürchte mich vor der Frau, die jetzt den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse schlürft, diese dann abstellt und sich mit einem kurzen Ächzen von ihrem Stuhl erhebt. Ich erzittere vor der Frau, die nun auf mich zukommt, die Hände ausgestreckt, als wolle sie mich gleich damit schnappen, festhalten, zerdrücken, zerfleischen, kurz gesagt, qualvoll töten. In diesem Moment habe ich die schlimmsten Gedanken. Ich befürchte, meine Großmutter könnte für mich nun lebensbedrohlich werden, und in diesem Moment überlege ich wirklich, ob ich entweder mit dem Teller, der vor mir auf dem Tisch steht, das Fenster einschlagen oder mir einen Weg in den Flur und damit zu meinem Handy freikämpfen sollte, um die Polizei zu rufen.
„Bei dem, über das ich mit der reden will, handelt es sich um eine überaus ernste Sache.“ Das eröffnet mir meine Großmutter, als sie auf ihrem schäbigen, alten, wie ich finde, äußerst ekligen und dreckigen Sofa sitzt, die Beine übereinander geschlagen, den Blick direkt in meine Augen gerichtet, während ich noch mit mir selbst kämpfe. Ich will unbedingt hier raus, kann aber keinen Ausweg finden. „Es handelt sich hierbei um dein Talent und um deine Bestimmung, um das, was du dir zu deinem Lebensziel machen solltest, um das, was deinen Lebensweg leiten und bestimmen soll, immer wenn du an einer Weggabelung stehst.“ Ich sehe meine Großmutter an wie ein Auto. Was hat sie das denn zu interessieren? Schließlich hat sie schon immer eine ausgeprägte Abneigung Klamotten, dem Beliebtsein und dem Großstadtleben allgemein entgegengebracht, und das halte ich ja für meine Bestimmung und mein Talent.
Der Blick, mit dem sie mich mustert, wird intensiver. Er nimmt mich gefangen, zwingt mich, ihr zuzuhören, sie anzusehen, mich auf das zu konzentrieren, was sie mir sagt, obwohl ich noch fürchte, sie könnte tatsächlich zu der verrückten, Kinder fressenden Hexe werden, für die ich sie schon immer gehalten habe.
„Es geht hier um das, weswegen ich vor so vielen Jahren verschwunden bin“, fährt sie fort. Den Blick hat sie dabei zwar auf meine Stirn gerichtet, aber sie scheint nicht meine makellos faltenfreie Haut betrachten, sondern etwas, von dem ich keine Ahnung habe. „Ich kann dir nicht erklären, wo ich war ...“ Meine Großmutter klingt wehmütig, traurig, gepresst, so als würde es ihr Schmerzen bereiten, über diese überaus mysteriöse Sache zu sprechen. „Das darf ich niemandem erzählen ... Du brauchst dich nicht davor zu fürchten, wirklich nicht.“
Mir ist, als hätte sie meine Gedanken und Gefühle gelesen, meine Angst auf meine Stirn geschrieben gesehen.
„Ich war früher genauso wie du, stets darauf bedacht, total angesagt zu sein, immer auf der Suche nach dem bestaussehenden Jungen, ständig musste ich im Mittelpunkt stehen.“ Ihre Augen sind erneut abgeschweift. Ihr Blick klärt sich jedoch auch rasch wieder. „Doch das änderte sich, wie du ja siehst ...“ Sie weist mit einer Kopfbewegung zunächst auf sich selbst und dann auf den ganzen Raum, an dem man deutlich erkennen kann, dass sie sich nicht wirklich etwas aus den Dingen macht, die angesagt sind.
„Es änderte sich, als ich damals verschwand ...“ Sie klingt wehmütig, so als ob der Ort, an dem sie damals gewesen ist, ein schöner war. Dabei kann sie sich doch angeblich gar nicht daran erinnern. Doch ich wage es nicht, sie zu unterbrechen, in der Hoffnung, ihr Monolog halte sie davon ab, wieder verrückt zu werden.
Nun bohrt sich ihr trauriger Blick fest in meine Augen. „Resa, du bist eine würdige Erbin für das, was dieser Ort dir zeigen wird. Deine Mutter war es nicht. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich spüre, dass sie nicht dasselbe Talent hat wie du. Sie ist ... anders ...“
Jetzt hat sie wirklich den Verstand verloren! Wovon schwafelt sie da? Und was soll ich erben?
Ich habe schon den Mund geöffnet, um sie das zu fragen, als sie sich zu mir vorbeugt, meine Hand nimmt, sie öffnet – ich habe sie aus lauter Angst zu einer festen Faust geballt –, etwas hineinlegt und sie wieder schließt. Dann sieht sie mir in die Augen und ich bemerke zum ersten Mal, wie traurig diese sind. Aber ich mache mir nichts daraus, mir ist egal, ob sie traurig ist oder nicht, und ich will ihr das, was sie mir in die Hand gelegt hat, am liebsten gleich wieder zurückgeben, wenn nicht sogar ins Gesicht schleudern. Doch der Blick meiner Großmutter zwingt mich dazu, zu schweigen und mich nicht zu rühren. Ich weiß nicht, woran es liegt.
„Resa, ich kann dir nicht viel darüber sagen, worum es hier geht. Du musst es selbst herausfinden, so wie ich damals, nur dass es bei mir aus reinem Zufall geschah. Du sollst ein bisschen besser darauf vorbereitet sein, denn“, sie macht eine kurze Pause, „es handelt sich hierbei um etwas, das noch wichtiger ist als dein Leben ... oder zumindest wichtiger als dein Tod ...“
Also damit kann ich rein gar nichts anfangen. Wieso denn mein Tod? In meinem Herzen verstärkt sich wieder der Drang, meiner Großmutter die Augen auszukratzen. Ich will einfach nichts hören, das wichtiger ist als ich selbst. Und dennoch gehorche ich. Ich weiß selbst nicht, warum. Vielleicht ist es die Entschlossenheit, mit der sie spricht, vielleicht die Traurigkeit in ihren Augen, vielleicht die Leidenschaft in ihrer Stimme, als sie sagt: „Sieh dir an, was ich dir gegeben habe, und denk darüber nach.“
Ich öffne meine Faust und sehe eine kleine Spiegelscherbe.
***
Sie sieht aus dem Fenster in ihren Garten, so wie immer, wenn sie etwas bedrückt.
Es ist geschehen! Es ist passiert! Sie hat es tatsächlich getan! Ja, sie hat Resa wirklich die Spiegelscherbe gegeben!
Sie ist sich nicht sicher, ob sie darüber den Kopf schütteln oder das vollkommen in Ordnung finden soll. Doch es ist geschehen, es lässt sich nun nicht mehr ändern. Beinahe kann sie Lunas Stimme hören, wie sie dieselben Worte sagt. Aber hat sie recht? Kann sie es nun wirklich nicht mehr ändern? Und was ist mit ihr selbst? Hat sie das Richtige getan, indem sie ihrer Enkeltochter die Spiegelscherbe gegeben hat?
Die Antwort weiß einzig und allein die Zukunft.
Auch das hat sie Luna schon mehrfach sagen hören. „Du musst den Dingen vertrauen, und außerdem findet sogar ihr Menschen manchmal den richtigen Weg, manchmal entscheidet sogar euer Instinkt richtig!“
Aber ist es wirklich ihr Instinkt gewesen, der sie geleitet hat? Und wenn ja, ist es wirklich die richtige Entscheidung gewesen?
*
Die Scherbe
Auf der Rückfahrt im Auto schweige ich. Meine Mutter ist gekommen, direkt nachdem ich gesehen habe, was mir meine Großmutter zuvor gegeben hat.
Ich muss nachdenken – das kommt bei mir eigentlich nie vor.
Ich grübele über das, was mir meine Großmutter gesagt hat, darüber, was sie mir gegeben hat, aber eigentlich verstehe ich nur Bahnhof. Ich habe keine Ahnung, wie