"Entscheidet Euch, eh' es zu spät ist!". Hardy Kerp


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der „Gottlosigkeit“.

      Diodorus Siculus spitzt seinen Vorwurf der Menschen- und Fremdenfeindlichkeit generalisierend zu, indem er dem Volk der Juden einen „Hass gegen die Menschen“ unterstellt, den es an seine Nachkommen weitergibt. Als äußere Merkmale nennt er die Einführung „ganz ausgefallener Bräuche“. Dazu gehört, dass sie die Tischgemeinschaft mit jedem anderen Volk ablehnen und „anderen Menschen keinerlei Wohlwollen entgegenbringen“.

      Der Hass gegenüber allen anderen Menschen äußere sich in ihren eigenen von ihrer jeweiligen Umwelt unterschiedenen Gesetzen, „die darauf ausgerichtet seien, die kulturelle und religiöse Identität der anderen Völker zu unterminieren.“ (ebenda S. 27 f)

      Die bisher geschilderten judenfeindlichen Stereotype im hellenistischen Ägypten veranlassen P. Schäfer, bereits von einem vorchristlichen Antisemitismus zu sprechen, der im 1. Jahrhundert n. Chr. mit dem ersten Pogrom in der jüdischen Geschichtsschreibung seinen Höhepunkt erreichte.

      Dazu berichtet der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien über die feindselige Reaktion der Ägypter auf den Besuch des judäischen Königs Herodes Agrippa I. in Alexandria im August des Jahres 38 n. Chr. Er hatte nach seiner Ernennung auf der „Durchreise“ von Rom in sein neues Königreich in Alexandria Station gemacht.

      In seinem Ärger über die Berufung eines Juden zum König instrumentalisierte der römische Präfekt A. Avillius Flaccus den judenfeindlichen alexandrinischen Mob gegen die Juden. Sie zerstörten die Synagogen, trieben die Juden in ein Ghetto und massakrierten sie. „Philos’ drastische Beschreibung des ersten antijüdischen Pogroms der Geschichte im orchestrierten Zusammenspiel von Staatsgewalt und aufgehetztem Pöbel liest sich wie das unheimliche Drehbuch der Massaker, denen die Juden durch die Jahrhunderte hindurch bis in die Gegenwart ausgesetzt sein sollten.“ (ebenda S. 39)

      Kurz nach dem Pogrom wurde Flaccus von Kaiser Caligula abgesetzt und hingerichtet.

      Der facettenreiche Judenhass der vorchristlichen Antike ist mit vielen der antijüdischen Vorurteilen und Stereotypen wirkungsvoll „in unser kulturelles Gedächtnis eingegangen.“ (ebenda S. 40) Eine Zusammenfassung findet sich in dem Werk Historiae bei Tacitus. Für ihn praktizieren die Juden anstelle einer der römischen religio vergleichbaren Religion einen abstoßenden Aberglauben. Abgesehen von einigen Sitten und Gebräuchen, die sich von der Vertreibung aus Ägypten herleiten lassen, bezeichnet Tacitus die meisten als „verkehrt und abstoßend“.

      Während sie untereinander stets loyal und mitfühlend seien, begegneten sie anderen Menschen mit feinseligem Hass. In ihren Lebensgewohnheiten wie z. B. Essen und Schlafen separierten sie sich von ihrer Umgebung, und ihre Beschneidung diene einzig der Abgrenzung von anderen Völkern. „Das alte hellenistische Motiv der grundlegenden und unüberbrückbaren Menschen- und Fremdenfeindlichkeit hat hier seine endgültige römische/westliche Ausprägung gefunden.“ (ebenda S. 41)

      Von hier aus war es kein Zufall, dass Tacitus in einem nächsten Schritt den angeblichen Menschenhass der Juden auf die sich von ihnen abspaltenden Christen übertrug. So bewertete er die Verfolgung der Christen unter Nero nicht als Bestrafung für ihre angebliche Brandstiftung Roms, „sondern wegen ihres Hasses auf das ganze Menschengeschlecht.“ (ebenda S. 42)

      Wir müssen unterscheiden zwischen dem jüdischen und dem antisemitischen Antizionismus. Nachdem sich Ende des 19. Jahrhunderts der politische Zionismus als internationaler Nationalismus formiert hatte, entstand als Gegenreaktion aus dem europäischen Judentum eine internationale und transnationale Ablehnungsfront. Die Vorbehalte innerhalb sowohl des liberalen wie des orthodoxen Judentums ließen Organisationen entstehen, die den Zionismus bekämpften.

      Liberale Juden befürchteten, dass der jüdische Nationalismus in Gestalt des Zionismus die Integration in die nicht-jüdische Gesellschaft behindere und den Antisemitismus befördere. Orthodoxe Juden dagegen lehnten den Zionismus als Versuch ab, das messianische Zeitalter durch Menschenhand herbeizuführen, statt darauf zu vertrauen, dass Gott mit dem Anbruch seiner Herrschaft die zerstreuten Juden aus aller Welt auf dem Zion Jerusalems versammeln wird.

      Ende 2019 verabschiedete das französische Parlament eine Resolution zum antisemitischen Zionismus. Es reagierte damit auf einen Zwischenfall am Rande einer Gelbwesten-Demonstration. Ein sechsunddreißig Jahre alter zum Islam konvertierter Mann attackierte den jüdischen Philosophen Alain Finkielkraut als „Scheißzionist“, „Drecksrasse“, „zionistische Lobby“ und rief: „Frankreich gehört uns!“

      Das französische Parlament stellte fest, dass zum „modernen und erneuerten Antisemitismus […] Manifestationen des Hasses gegenüber dem Staat Israel“ gehören. Die Resolution erteilt der Regierung den Auftrag, die staatlichen Instanzen für „Erziehung, Repression und Justiz“ zu sensibilisieren, um „antisemitische Attacken zu erkennen und zu verfolgen.“ (F.A.Z. v. 22.12.2019)

      Finkielkrauts Angreifer wurde zu zwei Monaten Gefängnis wegen Verleumdung und rassistischer Beschimpfung verurteilt.

      Emmanuel Macron versprach in diesem Zusammenhang anlässlich des Jahresessens des jüdischen Zentralrats, den Kampf gegen den Antisemitismus auf den Antizionismus auszuweiten. Frankreichs Parlament ist das erste in Europa, das den gegenwärtigen Antizionismus als eine Form des Antisemitismus verurteilt.

      Interessant ist dazu noch die Reaktion von Joël Mergui, dem Leiter des im Oktober 2019 in Paris eröffneten „Centre européen du judaïsme“. Er unterstützte die Resolution des Parlaments: „Die französischen Juden sind Zionisten, weil sie Israel beschützen wollen, einen ständig bedrohten Kleinstaat, der für alles, was er macht, kritisiert wird. Da, wo wir in Frieden unser Leben leben können, können es alle anderen auch.“ (ebenda)

      Außer in Israel, werden die antisemitischen Antizionisten einwenden und auf die Palästinenser verweisen. Aber es bleibt dabei: Jeder kann die Politik Israels wie die jedes anderen Staats kritisieren. Aber wer den Staat Israel als Ganzes ablehnt und ihm sein Existenzrecht abspricht, denkt antisemitisch. Er macht sich zurecht verdächtig, die Juden nirgendwo auf der Welt in Frieden und Freiheit leben lassen zu wollen.

      Am 19. Februar 2020 erschoss ein Attentäter in Hanau acht Männer sowie eine Frau aus Einwanderungsfamilien. Dabei verletzte er mehrere Personen. „Es liegt auf der Hand, dass sich auch andere Minderheiten nicht sicher fühlen können, wenn Juden mit hasserfüllten Parolen und Vorurteilen (oder sogar Mordversuchen wie in Halle) angegriffen werden; dass es bei den Juden bleibt, ist eher unwahrscheinlich. Und umgekehrt sollten die Juden sich nicht sicher fühlen, wenn Minderheitsgruppen mit Hass und Vorurteilen überzogen werden; es ist genauso unwahrscheinlich, dass es bei diesen Gruppen bleibt.“ (D. Lipstadt, S. 12)

      Lipstadt zeigt in diesem Zusammenhang einen weiteren entscheidenden Unterschied zwischen Antisemitismus und Rassismus auf. Dieser besteht ihrer Meinung nach darin, „dass Antisemitismus nicht einfach Hass auf etwas ,Fremdes‘, sondern der Hass auf das immerwährende Böse in der Welt“ ist. „Die Juden sind nicht ein Feind, sondern der ultimative Feind. Dieser Hass ist allgegenwärtig.“ (ebenda S. 33)

      Der Vorwurf einigen Juden gegenüber, sie seien unsoziale Kapitalisten, mag berechtigt sein, so wie dies auch im Blick auf andere nichtjüdische Menschen zutreffen mag. Aber zu sagen: „Natürlich ist X von Geld besessen, er ist doch Jude, oder etwa nicht?“ ist antisemitisch. „Antisemitismus ist nicht Hass auf Menschen, die ,zufällig‘ Juden sind. Es ist Hass auf sie, ,weil‘ sie Juden sind.“ (ebenda)

      Die aktuell zunehmende Zahl von antisemitischen Handlungen verbaler wie auch physischer Art ist nicht als Zeichen dafür zu werten, dass der Antisemitismus „wieder da“ ist. Vielmehr liefern sie lediglich die „empirische Evidenz“ dafür, dass es nach wie vor Menschen gibt, die anfällig für Verschwörungstheorien sind, die Juden dämonisieren und für alles Böse verantwortlich machen.

      Nach Lipstadt ist der „Antisemitismus eine Weltanschauung,


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