Der letzte Prozess. Thomas Breuer

Der letzte Prozess - Thomas Breuer


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ein.

      Gina Gladow winkte noch kurz zu Hermann-Josef Stukenberg hinüber, der immer noch hämisch grinste, und stieg dann hinter das Steuer. Sie startete den Wagen und gab Gas. Die Reifen drehten auf dem vereisten Kopfsteinpflaster durch. Als sie schließlich packten, schoss der Passat über den Platz und zwischen Museum und Kirche hindurch auf den Burgwall.

      2

      Stefan Lenz’ erster Eindruck von Paderborn lautete: irgendwie unübersichtlich.

      Er hatte die Autobahnabfahrt Paderborn Zentrum genommen und war so auf der B1 gelandet. Hier ging es zu wie am Kamener Kreuz, nur erkannte er auf die Schnelle keine Struktur: Die Abfahrt von der A33 und Auf- und Abfahrten von Bundesstraßen aus und in alle Richtungen folgten dicht aufeinander. Lenz vermisste einen Dauerstau wie auf der A2, der es ihm ermöglicht hätte, sich in Ruhe zu orientieren. Hinzu kam, dass der zweispurige Zubringer unter Brücken hindurchführte und eine dritte, rechte Spur häufig gleichzeitig dem Ein- und Ausfädeln zu- und abströmender Fahrzeuge diente, was die Sache für Ortsunkundige wie ihn nicht gerade übersichtlicher machte.

      Von links und rechts schossen die Fahrzeuge durcheinander. Lenz hatte Mühe, seinen Opel Astra Kombi heile auf die Fahrspur zu manövrieren, die geradeaus in die Paderborner Innenstadt führte. Kaum hatte er sich aber richtig eingefädelt, zog ein schwarzer Porsche Cayenne links an ihm vorbei und scherte dann direkt vor ihm auf seine Spur, nur um sofort scharf zu bremsen. Lenz wich im letzten Moment nach links aus und gab Gas. Das könnte dem Mistbock so passen. Wofür hatte sein Diesel schließlich 136 PS? Wenn der glaubte, dass er einen Stefan Lenz ausbremsen konnte, nur weil er Porsche fuhr, hatte er sich aber geschnitten.

      Lenz zog direkt vor der Brücke an ihm vorbei, zeigte ihm den Mittelfinger und wunderte sich noch über das hämische Grinsen des geschniegelten Rüpels, als es auch schon blitzte. Deshalb also hatte der Drecksack so scharf gebremst! Lenz spürte das Adrenalin aufkochen. Am liebsten hätte er gleich hier angehalten und den Porschearsch aus seiner Karre geprügelt. Diese Schnösel hatte er ohnehin schon gefressen, aber so etwas schlug dem Fass ja wohl den Boden aus. Rüpel wie der hatten eine gehörige Abreibung verdient.

      Im Rückspiegel sah Lenz, dass der Cayenne sich nun nach rechts in Richtung Bad Driburg einordnete. Der Fahrer winkte noch lachend, bevor er aus dem Blickfeld des Spiegels verschwand. Wütend donnerte Lenz beide Handflächen auf das Lenkrad und erblickte erst jetzt die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 70. Seit wann galt die denn? Wie schnell war er eben eigentlich gewesen? 100? 120? Er konnte es nicht sagen. Auf jeden Fall viel zu schnell. Scheiß Porsche!

      3

      Fabian Heller war spät dran. Er hatte mit Mühe einen Abstellplatz für sein Auto im Detmolder Industriegebiet gefunden und hastete nun durch die Nebenstraßen, wo – Heller traute seinen Augen nicht – die Reiterstaffel der nordrhein-westfälischen Polizei patrouillierte. Sein Ziel war das Gebäude der Industrie- und Handelskammer. Dorthin war der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Reinhold Hanning vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Detmold verlegt worden, da mit großem öffentlichen Interesse zu rechnen war und die Säle des Landgerichts nicht genügend Platz boten. Schließlich handelte es sich nicht nur um einen der seltenen Auschwitz-Prozesse in der deutschen Nachkriegsgeschichte, sondern angesichts des hohen Alters von Opfern und Tätern und der notwendigen Vorlaufzeit möglicherweise sogar um einen der letzten seiner Art – sicher aber um den letzten Prozess in Nordrhein-Westfalen.

      Als Chefredakteur Brenner vom Westfälischen Anzeiger in Hamm ihm diesen Auftrag zugeschanzt hatte, hatte Heller sich erst einmal einlesen müssen. Was Nazi-Prozesse anging, hatte er überhaupt keine Ahnung gehabt. Das hatte er Brenner natürlich nicht verraten. Der hätte es fertiggebracht und den Auftrag Rogalski zugeschoben. Und bevor Rogalski einen Auftrag bekam … Jedenfalls hatte Heller eine Woche lang seine Wohnung und das Internet nicht mehr verlassen und war auf faszinierende Informationen gestoßen.

      Dieser Prozess war überhaupt erst möglich geworden, weil sich in der deutschen Rechtsprechung ein Paradigmenwechsel ereignet hatte. Nach den großen Auschwitz-Prozessen in Frankfurt in den Jahren 1963 bis 1965 hatten einem ehemaligen SS-Mann konkrete einzelne Mordfälle nachgewiesen werden müssen, was in der Konsequenz bedeutete, dass eine Verurteilung wegen Massenmordes in Auschwitz nahezu unmöglich war und es schon deshalb gar nicht erst zur Anklage kam. Tausende alter Nazis hatten so jahrzehnte­lang unbehelligt überall in Deutschland leben und arbeiten können. Seit Kurzem reichte jedoch der Nachweis, dass ein Täter durch seine Arbeit im Konzentrationslager das System des Massenmordes in Auschwitz ermöglicht und unterstützt hatte. Man musste also nur noch beweisen, dass ein SS-Mann zu einer bestimmten Zeit im Konzentrationslager tätig gewesen war, und konnte ihn so mit den zu dieser Zeit begangenen Morden in Verbindung bringen.

      Diese Neuausrichtung der deutschen Justiz war mit dem Fall John Demjanjuk im Mai 2011 eingeleitet worden. Der KZ-Wachmann war wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen im Lager Sobibor zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Skandalös wenig, wie Heller fand. Aber es war immerhin ein Anfang gewesen, denn im Zuge der Ermittlungen nach diesem Urteil hatte die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Dortmund fünf weitere ehemalige SS-Männer aufgespürt und Anklage erhoben. Im Sommer 2015 war dann der SS-Unterscharführer Oskar Gröning, ›der Buchhalter von Auschwitz‹, in Lüneburg wegen Beihilfe zum Mord an 320.000 Juden im Konzentrationslager Auschwitz zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das waren knappe sieben Minuten Strafe pro ermordetem Juden, wie Heller fassungslos nachgerechnet hatte.

      Und nun lief in Detmold das Verfahren gegen den SS-Mann Hanning. Entsprechend groß war das Interesse der internationalen Medien. Zum Glück konnte sich Fabian Heller als akkreditierter Journalist in die Presseschlange einreihen, in die bereits Bewegung gekommen war, als er um die letzte Ecke hastete. Die um einiges längere Besucherschlange musste noch warten. In Fünfergruppen wurden die Medienvertreter, die aus ganz Europa kamen, eingelassen. Alle bedeutenden Fernsehsender und Polit-Magazine waren hier vertreten. Heller erblickte Kolleginnen und Kollegen, die er bislang nur aus dem Fernsehen kannte, und einige der regionalen Presseorgane. Der Kollege vom Westfälischen Volksblatt nickte ihm zu. Sie hatten sich vor einiger Zeit beim Landesparteitag der Linkspartei kennengelernt und, wie Heller sich erinnerte, anschließend höchst unterschiedlich darüber berichtet. Der Konkurrent von der Neuen West­fälischen tippte hinter dem Mann vom Volksblatt auf seinem Handy herum. Die beiden standen so weit vorne, dass sie das Gebäude mit dem nächsten Schub betreten durften.

      Heller rückte fünf Schritte vor und blickte sich um. Eine Gruppe uniformierter Polizisten stand etwas abseits und beobachtete das Geschehen. Sie wirkten geradezu unbeteiligt, als fühlten sie sich überflüssig. Allerdings schien man hier auf alles vorbereitet zu sein: Feuerwehr war vor Ort, Notarzt- und Rettungswagen standen am Straßenrand. Und die stolze Kavallerie aus Düsseldorf präsentierte hochherrschaftlich die Entschlossenheit des Rechtsstaates. Wozu so eine Reiterstaffel doch gut sein konnte!

      Während die Journalisten sich nur verhalten austauschten und allenfalls etwas zu erfahren versuchten, ohne selbst ein Quäntchen preiszugeben, wurde in der Besucherschlange rege diskutiert. Ein älterer Mann und eine junge Frau stritten über den Sinn des Prozesses »so viele Jahre nach dem Krieg«, wie der Mann meinte. Die Frau argumentierte, Mord verjähre nun einmal grundsätzlich nicht und außerdem verstehe sie überhaupt nicht, was die Judenverfolgung mit dem Krieg zu tun haben sollte. Der Mann verwahrte sich gegen die Wortklauberei, was wiederum den Protest der jungen Frau hervorrief: Den industriellen Massenmord mit dem Zweiten Weltkrieg in einen Topf zu werfen, reduziere Auschwitz auf ein Kriegsgeschehen, für das man möglicherweise noch Verständnis aufbringen sollte. Derartige Verharmlosungen seien völlig unangemessen und würden den Opfern nicht gerecht.

      »Im Krieg hat es auch Opfer gegeben«, murrte der Alte, »auch auf deutscher Seite. Und von den Millionen Vertriebenen will ich gar nicht erst reden.«

      »Der ist doch unbelehrbar«, presste die junge Frau zwischen wütend zusammengebissenen Zähnen hervor und wandte sich kopfschüttelnd ihrer Begleiterin zu.

      Heller rückte fünf Schritte vor. Hinter ihm hatten sich inzwischen weitere Journalisten angestellt.

      Am Ende der Besucherschlange wurde es laut. Eine alte


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