Péter Nádas' Parallelgeschichten. Группа авторов

Péter Nádas' Parallelgeschichten - Группа авторов


Скачать книгу
auch Phänomene in den Blick, die nicht ausschließlich sprachlich verfasst und daher nur bedingt zitierfähig sind:

      Zu meinem Vorhaben gehörte es auch, bestimmten historischen und philosophischen Zusammenhängen nachzugehen und bestimmte Fragen zur Zeitgeschichte in Bezug auf Architektur und Mode und zur Kriminologie zu klären. Diese Zusammenhänge bleiben zwar im Hintergrund, bilden aber das Gerüst des Buchs.1

      Neben „Architektur und Mode“ macht vor allem die ausführliche Darstellung von Körper- und Gewalterfahrungen innerhalb der Parallelgeschichten deutlich, dass schriftliche Zeugnisse lediglich einen Ausschnitt der Historie repräsentieren, deren Verwendung wiederum Historikerinnen wie Schriftstellerinnen vor besondere Probleme stellt. Geschichtliche Ereignisse lassen sich niemals vollständig in Begriffe übersetzen und können zudem nicht zeitgleich zu ihrem Geschehen zu Papier gebracht werden. Darüber hinaus erscheint die Sprache historischer Quellen bisweilen ähnlich fremd und entfernt wie die durch sie repräsentierten Ereignisse, da ihr Gebrauch und ihre Bedeutung einem geschichtlichen Wandel unterliegen, der nicht selten für Verständnisschwierigkeiten und Zitationsprobleme sorgt.

      In der Lektüre historischer Zeugnisse wird somit eine Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart erfahrbar, deren Konsequenzen Dominick LaCapra beschreibt:

      Ein Problem für die Geschichtsschreibung ist offenkundig das Verhältnis zwischen sympathetischer Beschäftigung mit der Vergangenheit, was eine gewisse Identifikation erfordert, und kritischer Distanz zur Vergangenheit im Interesse sowohl der Objektivität wie des Urteils.2

      Der Versuch, Geschichte zu schreiben verlangt vom Schreibenden eine Positionierung, die von der Perspektivität des Quellenmaterials in der Regel deutlich unterschieden ist. Eine zu große Nähe zum historischen Geschehen und Quellenmaterial mündet letztlich in sentimentale Erzählungen der Vergangenheit à la Walter Scott, die bereits Flaubert mit Spott überzieht:

      Allen diesen Werken gegenüber erhoben sie den Vorwurf, sie sagten nichts über das Milieu, die Epoche, die Sitten und Gewohnheiten der betreffenden Figuren aus. Nur die Herzensangelegenheiten seien wichtig, immer nur das Gefühl! Als ob es auf der Welt nichts anderes gäbe!3

      Doch nicht nur die Literatur, auch die Geschichtsschreibung ringt bereits zu ihren professionellen Anfängen im 19. Jahrhundert um die richtigen Ansprüche und Standpunkte, die einer ihrer prominentesten Vertreter folgendermaßen beschreibt:

      Die Historie unterscheidet sich dadurch von anderen Wissenschaften, daß sie zugleich Kunst ist. Wissenschaft ist sie: indem sie sammelt, findet, durchdringt; Kunst, indem sie das Gefundene, Erkannte wieder gestaltet, darstellt. Andere Wissenschaften begnügen sich, das Gefundene schlechthin als solches aufzuzeichnen: bei der Historie gehört das Vermögen der Wiederhervorbringung dazu.4

      Der Wille zur „Wiederhervorbringung“ geschichtlicher Ereignisse rückt für Leopold von Ranke Methode und Gegenstand der Historie in die Nähe der Literatur.

      Die geforderte Imaginationsleistung bedingt eine bewusste Gestaltung historischen Quellenmaterials durch den Historiker (Sammeln-Finden-Durchdringen), der so von einem objektiven Entdecker zum Erfinder historischer Wirklichkeit mutiert.

      3. Geschichts-Bilder

      Für die Gründungsväter moderner Geschichtswissenschaften wie Ranke bildet das aufgeklärte Subjekt kein Hindernis, sondern die Grundbedingung schlechthin für historisches Erkennen. Diese Idee wird in den Parallelgeschichten vor allem anhand der Rede vom Bild und seinen unterschiedlichen Gebrauchsweisen verfolgt:

      Im Esszimmer der Tante hing an der leeren Wand ein einziges Ölbild von Bedeutung und ansehnlichem Ausmaß, ein Leistikow, der zuweilen in Ausstellungen, Alben und Katalogen zu sehen war.1

      Zweifellos handelt es sich bei dem Gemälde um ein (kunst-)historisch bedeutsames Objekt. Für diese Einschätzung bürgt neben der Prominenz des Urhebers, eines wichtigen deutschen Vertreters des bildnerischen Impressionismus, auch die Tatsache seiner Repräsentation in „Ausstellungen, Alben und Katalogen“. Dementsprechend rücken in den Parallelgeschichten nicht allein (historische) Bilder, sondern auch das Problem ihrer Entstehung, Erhaltung und Zirkulation und die Rolle der daran beteiligten Subjekte in den Fokus:

      Selbstverständlich enthielten die Kataloge die wesentlichen Angaben zum Bild, seine Maße, seinen Titel, die Tatsache, dass das Werk signiert war, aber auf Verlangen der Tante hieß es jeweils nur, dass es sich in Privatbesitz befinde. Döhring hatte als Kind oft und lange über dieses Wort nachgedacht. Da gab es auf der Welt einen wertvollen Gegenstand, für Fremde meist unzugänglich, und sogar sein Ort wurde geheim gehalten.

      Die Reproduktion des Kunstwerks in Katalogen bietet nicht nur Informationen zu seiner Provenienz, sondern dient auch einer Bewahrung des Bildes, das unabhängig vom Ort seiner Entstehung und Ausstellung betrachtet und mit anderen Menschen geteilt werden kann. Trotzdem legt der Kontakt mit dem Originalgemälde vermutlich andere Gebrauchsweisen und Interpretationen nahe als seine Reproduktion. Die Differenz zwischen Original und Abbildung mündet schließlich in grundlegende Fragen nach dem Ort der Bilder und ihrer Bedeutung für das kulturelle und individuelle Gedächtnis:

      Das war ihm sehr wichtig, er kultivierte Bilder. Bilder begleiteten ihn, besser, er begleitete Bilder und bewahrte sie in sich auf.2

      In diesem Zusammenhang erzählen die Parallelgeschichten nicht allein von Bildern in ihren unterschiedlichen materiellen Verfasstheiten und ihrer geschichtlichen Bedeutung. Sie handeln auch von Bildern der Imagination und ihrer Wirkungen auf Individuum und Gesellschaft. Ihre Aussagekraft beziehen die Bilder nicht allein aus ihrer Historizität, sondern auch aus ihrer Unergründbarkeit, wie sie in folgender Passage beschworen wird:

      Bestimmt hätte er später nicht Philosophie belegt, wenn sich in seinem Denken nicht solche Fragen festgesetzt hätten. Das Bild war rätselhaft genug, seine Phantasie anzuregen.3

      Die Bilder geben ihren Betrachterinnen zu denken und werden geradezu körperlich erfahrbar. Ihre Erscheinung wirkt direkt auf die Selbstwahrnehmung des Individuums und seine Erkenntnisfähigkeit:

      Es tat weh, ein scharfer Schmerz, doch hatte er fast vor Erstaunen aufgeschrien; er stand mitten in Leistikows Gemälde. Immer hatte er gemeint, es sei bloß ein Bild. Nie hätte er gedacht, dass es auf der Welt wirklich einen solchen Himmel, eine solche Spiegelung, ein solches Helldunkel gab.4

      Das Bild mutiert zum Symptom, die Bildbetrachtung mündet in einen Kontrollverlust, vor dem man buchstäblich nicht die Augen verschließen kann. Der Zusammenfall der so genannten wirklichen Welt mit ihrer Repräsentation auf der Leinwand vermag feststehende Gewissheiten zu erschüttern. Wer in Bildern lediglich Abbilder historischer Wirklichkeit erkennen mag, geht darum fehl. Vielmehr bringen die Bilder ihre eigene Realität hervor, deren Betrachtung gerade deshalb die geschichtliche Wirklichkeit zu erhellen vermag. So wenig das Individuum über seine Geschichte verfügt, kann es über die mit ihr verbundenen, bisweilen nur unbewusst beschworenen Bilder gebieten:

      Schon am Abend desselben Tags konnte Döhring diese Bilder nicht mehr heraufbeschwören. Er hörte noch das brüllende Gähnen, sah es aber nicht mehr.5

      Trotz ihrer existenzerschütternden Wirkung erweisen sich die Bilder als flüchtig und schwer fassbar. Darin gleichen sie Walter Benjamins Idee einer Historie im ständigen Entzug:

      Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. […] [E]s ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.6

      Wie im Fall des Bildes wird auch der Sinn historischer Ereignisse maßgeblich von den Erkenntnissinteressen einer in ständigem Wandel begriffenen Gegenwart bestimmt:

      Sie sammelte nur bestimmte Maler, und ausschließlich Bilder von lebenden Zeitgenossen. Wer gestorben war, existierte für sie nicht mehr, mit ihm starb ja auch die Möglichkeit eines aufregenden Austausches.7

      Das Historische und seine bildlichen Repräsentationen erweisen sich als dynamischer und letztlich unbeherrschbarer Gegenstand,


Скачать книгу