MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág. Группа авторов
das er auf Marianne Steins Rat geschrieben hat, bereits in der ersten Avantgarde-Periode als »Reservoir« benutzte.43 Beispielsweise wurden die letzten drei Sätze der Acht Klavierstücke, die er als Teil einer Variationsserie konzipierte, auch vom Skizzenmaterial des Pariser Klavierstücks auf den nachfolgenden Zyklus übertragen.44 Die drei Sätze sind innerhalb der Acht Klavierstücke deutlich von den anderen Sätzen getrennt, und insbesondere die enge Verbindung zwischen dem 6. und dem 7. Satz ist klar. Der 7. Satz variiert nicht nur den 6., sondern die beiden Sätze sind attacca miteinander verbunden. Außerdem gibt Kurtág in dem 7. Satz nicht die Taktart an, sondern nimmt die achttaktige Komposition als Fortsetzung vom 6. Satz im 3/4-Takt. Das Variationsprinzip wird auch durch die thematische Beziehung verstärkt: Die kleinen scharfen Rhythmen des 6. Satzes kehren in den Vorschlägen des 7. wieder.45 Die im letzten Takt des 6. Satzes erscheinenden Zweiunddreißigstelnoten dienen als Auftakt für den 7. Satz. Die Sätze 7 und 8 werden durch einen »Ellbogenakkord« verbunden: Der »Ellbogenakkord«, der den 7. Satz schließt, wirkt wie Arnold Schönbergs »Variationsmotiv«,46 da sich die spätere Variation aus einem Motivelement der früheren Variation entfaltet. Gleichzeitig ist der Abschluss des 8. Satzes äußerst überraschend: Die heroisch-banale Schließung verweist auf Liszt und scheint nicht nur den letzten drei Sätzen, sondern auch dem gesamten Zyklus stilistisch fremd zu sein.
III Grundtypen der Sätze
Der 6. und 7. Satz passen auch nicht in die charakteristischen Satztypen der ersten Periode. Die fast 40 Sätze können in fünf Grundtypen eingeteilt werden (Tab. 2).
Tabelle 2: Satztypen in Kurtágs Werken
Schnell | Schnell | Schnell | Langsam | Langsam |
Agitato | Vivo | Risoluto | »Klänge der Nacht« | Periodisch |
Op. 1/1 | Op. 1/3 | Op. 1/2 | Op. 1/4 | Op. 2/1 |
Op. 2/2 | Op. 2/3 | Op. 1/5 | Op. 2/4 | Op. 2/6 |
Op. 2/8 | Op. 3/5 | Op. 3/1 | Op. 2/5 | Op. 2/7 |
Op. 3/8 | Op. 4/6 | Op. 4/3 | Op. 3/2 | Op. 3/3 |
Op. 4/2 | Op. 4/8 | Op. 5/2 | Op. 4/4 | Op. 3/4 |
Op. 5/1 | Op. 5/4 | Op. 5/6 | Op. 5/3 | Op. 4/2 |
Op. 6/1 | Op. 6/3 | Op. 6/4 | Op. 4/5 | |
Op. 4/7 | ||||
Op. 5/5 | ||||
Op. 6/2 |
Notenbeispiel 2: György Kurtág, Jelek op. 5, 6. Satz, © Universal Music Publishing Editio Musica Budapest, mit freundlicher Genehmigung
Die drei schnellen Typen – die basierend auf den Charakteranweisungen als »Agitato«, »Vivo« und »Risoluto« benannt werden können – überlappen sich häufig. »Agitato« und »Vivo« enden entweder mit einem endgültigen Abschluss oder mit einer Schwächung. Aber während sich die musikalischen Charaktere im »Agitato« sehr oft ändern, die sehr raschen »Vivo« neigen dazu, immer Ostinati und Wiederholungen anzuwenden.47
Die schnellen Musikprozesse werden oft aleatorisch entfaltet. Bei »Risoluto«-Sätzen hingegen spielt das rhythmische Element eine Schlüsselrolle, und diese Sätze haben immer einen eindeutigen Abschluss. Das Tempo ist jedoch bei keinem der drei Typen konstant: Es fällt auf, dass jeder Satz durch eine Art Tempo-Schweben gekennzeichnet ist. In ihnen passiert so viel, dass das metrische Denken – trotz Ostinati und rhythmischer Bewegungsformeln – nicht die Kontrolle übernehmen kann. Und obwohl Kurtág meistens Taktstriche verwendet – er lässt sie nur in elf unter den 40 Sätzen weg, und in zwei anderen mischt er die zwei Schreibweisen48 –, sehen wir kaum Taktzeiger in der Partitur: Kurtág kündigt nur die Grundeinheit an.
Der 6. Satz von Jelek (op. 5) ist ein sehr einfaches Beispiel dafür, wie ein solcher schnell-dichter, aber metrisch schwebender Satz aufgebaut sein kann (Notenbeispiel 2).49 Pausen und musikalisches Geschehen wechseln einander ab. Das musikalische Geschehen selbst verwendet immer konstante und variable Elemente: Die Bewegung wird immer aus Sechzehnteln gebaut, aber die Anzahl dieser Sechzehntel ändert sich stets. Während in der zwei- oder dreistimmigen Struktur eine Note immer als Orgelpunkt fungiert, ändern sich seine Höhe und Position – sogar seine Position innerhalb des Akkords – ständig. Es ändern sich die Strichart sowie die Dynamik, der Stimmumfang und die Länge der Pausen. Die verwendeten musikalischen Parameter sind sehr einfach, und der Rezipient erkennt sehr bald die Logik des Spiels, weiß aber nie genau, was als Nächstes passieren wird.
Übrigens beruht die überwiegende Mehrheit der Formen von Kurtág auf dieser Unvorhersehbarkeit. Anders formuliert, Kurtág baut auf die Erwartungen des Rezipienten und die Nichterfüllung dieser Erwartungen. Beispielsweise verwendet der 5. Satz des Streichquartetts Ostinati. Trotzdem erklingt nicht immer dieselbe Formel, da sich der musikalische Prozess ständig verändert; während immer das Gleiche passiert, ändert sich immer etwas. Darüber hinaus ist ein Prozess des Zerfalls deutlich spürbar: Die Entschlossenheit des Anfangs wird durch die Zersplitterung des Endes ersetzt. Der Schluss des Satzes – die durchkomponierte Zersplitterung – spielt eine herausragende Rolle in der Komposition: Die Formel wird mehrfach wiederholt, und die Wiederholungen werden mit langen Pausen getrennt. Der Prozess lässt den Rezipienten in Unsicherheit, wann die Bewegung endlich aufhört oder wie lange das Motiv noch wiederholt wird. Auf diese Weise schuf Kurtág eine der Grundtypen seiner Kompositionsabschlüsse: die unendliche Beendung, die ein wiederkehrendes Element seiner späteren Kompositionen sein wird: Beispielsweise ist der Schluss vom Rondo-Satz der Szenen aus einem Roman (op. 19, 7. Satz) sogar thematisch mit dem Ende des 5. Satzes verwandt. Diese Parallele zeigt, dass Kurtág in der ersten Avantgarde-Periode mit solchen kompositorischen Lösungen experimentierte, die später in seinem Œuvre grundlegende Bedeutung erlangten sollten. Was jedoch noch wichtiger zu sein scheint, ist die psychische Anwendung der unendlichen Beendung, nämlich, dass der Rezipient es nicht wagt, beim Zuhören sich zu bewegen. Das heißt, wenn Kurtág seine Komposition schreibt, rechnet er mit den Reaktionen des Rezipienten.
Eine der beiden Arten von langsamen Satztypen ist der »Klänge der Nacht«-Typus, der im ungarischen Komponieren eine lange Tradition hat und der sich auf Bartóks Klavierzyklus Im Freien (1926) und dessen Klänge der Nacht-Satz zurückführen lässt. Kurtág konzentriert sich hauptsächlich auf Geräuschelemente, daneben aber auch auf Melodien, die sich auf ungarische Volksmusik beziehen. Es war bereits bekannt, dass der 4. Satz des Streichquartetts Vogelstimmen verwendet, die die Erinnerungen an Kurtágs Alltag in Paris wachrufen.50 Die Verwendung von Vogelstimmen, die vielleicht auch als Messiaen-Hommage interpretiert werden kann, und die Verarbeitung von Geräuschelementen machen deutlich, dass dieser Grundtypus für Kurtág einerseits eine entscheidende Rolle bei der Erneuerung bei der Anwendung von Kammermusikinstrumenten spielt. Andererseits schaffen diese Elemente die Möglichkeit, improvisatorische Mittel zu benutzen, die sich dann in Richtung von Aleatorik bewegen. Während sich der 3. Satz von Jelek – der wie im Falle von Bartóks Klänge der Nacht in drei Stimmen notiert ist – ausschließlich auf die Geräuschelemente konzentriert, bauen der 4. Satz von Acht Duos und das Bläserquintett sowie der Abschlusssatz von Szálkák auf die Kombination von Geräuschelementen und Melodien. Diese Melodien alludieren einerseits auf die Vierzeiligkeit ungarischer Volkslieder, andererseits aber auf Wendungen der instrumentalen Volksmusik Ungarns.
Aleatorik erscheint bloß in den ersten drei Werken mit Opus-Zahl,51 von denen nur ein Satz zum Typus »Klänge der Nacht« gehört. Im 5. Satz des Bläserquintetts spielen