Die Unausstehlichen & ich - Die Welt ist voller Wunder. Vanessa Walder
Über das Pfeifen hab ich schon mit Geist geredet. Interessiert sie ’n feuchten
Aber auch wenn ich mich beim Schlafen anhören sollte wie ein Schwein beim Fressen – deshalb hab ich nicht das Zimmer im zweiten Stock gekriegt, wo sonst keiner wohnt, weil der zweite Stock noch nicht fertig renoviert is. Das war, damit ich Lilith nicht kille. In meiner ersten Nacht im Internat haben die mich nämlich in Liliths Zimmer untergebracht. Und ich war so
Eigentlich wollt ich nie Geschwister. In meiner Klasse in der Grundschule haben fast alle Geschwister gehabt und alle haben ihre Geschwister gehasst. Vor allem große Schwestern und kleine Brüder müssen das Allerletzte sein. Noah is nicht das Allerletzte. Noah is der einzige Mensch, dem ich nix erklären musste über mich. Der einfach so mein Freund sein wollte. Er wollte nix ändern an mir. Ich hab nich weniger fluchen müssen – nee: Noah hat sogar genauso viel geflucht! Er hat’s nich schlimm gefunden, dass ich manchmal rotsehe. Und meine Pläne – die hat er
Ich weiß auch nich, ob ich unbedingt in die Schweiz will. Schokolade mag ich nich so und vor Kühen hab ich irgendwie Schiss. Gut, die haben stumpfe Zähne und keine Krallen – aber sie sind einfach gigantisch groß. Wie grasende Wale. Gegen Wale hab ich auch nix, trotzdem will ich ihnen nich auf ’ner Wiese begegnen. Ich muss also nicht unbedingt in die Schweiz. Fair is es trotzdem nicht. Ich wollte doch bei Noah bleiben. Und Noah bei mir. Er is sogar von zu Hause abgehauen und hat sich bis nach Saaks durchgeschlagen. Hier hat ihn dann Polizist Dirk Marwick erwischt. Derselbe Polizist, der mich damals in Berlin verhaftet hat, weil ich angeblich einen Schokoriegel geklaut hab. Danach haben sie mich ins Saakser Internat geschickt und Noah in die Schweiz. Und da sind wir immer noch.
Trotzdem: Ich bin nicht mehr traurig darüber, weil ich Saaks ziemlich cool finde. Ich will hier nicht weg, im Moment jedenfalls nicht. Und ein Grund dafür klopft gerade an mein Fenster: Dante.
Das is nicht so ungewöhnlich. Dante spielt manchmal Spiderman. Auf der Innenseite vom Internat steht seit Jahren ein Gerüst. Das haben die mal aufgebaut, um die Holzbalkone und Fensterläden neu zu streichen. Dabei is ihnen wohl irgendwie das Geld, die Lust oder die Farbe ausgegangen. Jedenfalls steht das Gerüst immer noch da, nur arbeitet keiner mehr an irgendwas. Das Gerüst is aber voll nützlich. Weil es keinen Aufzug in den zweiten Stock gibt und Dante mit dem Rollstuhl nicht über die Treppe hochfahren kann, klettert er eben außen hoch.
Ich mach das Fenster auf.
„Irgendwann knallst du noch runter“, prophezeie ich ihm und trete zur Seite.
Dante schwingt sich rein und landet sportlich auf dem alten Polstersessel. Beim Aufprall staubt es durchs ganze Zimmer – Dreck aus mehreren Jahrzehnten: die Hautschuppen von Leuten, die längst gestorben sind. Dante hustet los und wedelt mit der Hand vor dem Gesicht.
„Mann, Enni, du solltest echt mal die Putzleute hier reinlassen“, keucht er.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich halt die nich ab. Ich glaub, die haben Angst vor Geist.“ Dabei kraule ich Geist zwischen den Ohren und setze mich wieder zu ihr aufs Bett.
Dante grinst. „Ein Wunder, dass sie noch nicht umgezogen ist. Siebenschläfer sind eigentlich reinliche Tiere.“
„Witzig. Du solltest Comedian werden.“
Dante grinst. „Kein Stand-up …“
Ich sehe ihn überrascht an. Normalerweise reden wir nicht darüber, dass Dante nicht laufen kann. Oder stehen. Weil es einfach keine Rolle spielt. Er ist mit dem Rollstuhl schneller als wir anderen zu Fuß. Und wo er nicht hinfahren kann, da klettert er. Heute is irgendwas anders, das seh ich ihm an. Dante sieht, auch wenn er auf einem Staub-Sessel sitzt, aus wie ’n Prinz auf seinem Thron. Seine Haare sind goldblond und sogar seine Haut wirkt, als hätte jemand ein bisschen Goldpulver draufgepustet. Na ja, wenn ich jemandem Gold ins Gesicht machen würde, dann würd ich mir auch Dante dafür aussuchen.
Ich hab das Gefühl, Dante geht’s oft genug auf die Nerven, dass er so schön is. Vor allem dann, wenn ihn irgendwelche Leute dämlich anglotzen. Übel nehmen kannst du’s ihnen trotzdem nicht. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihn anstarre.
Da prustet Dante plötzlich los. Ich zucke zusammen. Ich hab wohl zu lang geglotzt, ohne was zu sagen.
„Was?“, fahre ich ihn an. Geist springt auf und quiekt empört. Sie mag keine lauten Geräusche, die sie nicht selber macht.
„Nichts“, sagt Dante. „Aber wir haben heute in Physik gehört, dass Röntgenstrahlen nich so super gesund sind. Also hör auf, mein Gehirn mit Röntgenblicken zu beschießen.“
Ich halte die Klappe. Noah hat mal was Ähnliches zu mir gesagt. Kann sein, dass ich wirklich so ’n Blick hab.
„Hat’s funktioniert?“, fragt Dante neugierig und macht es sich bequemer. „Weißt du, was ich denke?“
Ich schüttle den Kopf, weil ich leider keine Ahnung hab. Ärgert mich. Normalerweise fällt’s mir nicht schwer, zu erraten, was jemand denkt. Bei Dante ist es schwierig. Eigentlich mag ich Poker, weil’s da ganz viel um Mathe geht. Aber gegen Dante würd ich nich spielen. Sein Gesicht zeigt selten mehr, als er freiwillig zulässt. Angeblich ist das bei mir auch so.
„Ich hab nachgedacht“, fängt Dante an und das Lachen ist ganz raus aus seiner Stimme. „Über das, was du rausgefunden hast … dass jemand für dich und mich das Schulgeld bezahlt. Und dass es das Saakser Internat offiziell nicht gibt …“
Ich nicke. War klar, dass das irgendwann kommt. Nur, als Dante die letzten Wochen nix gesagt hat, hab ich gedacht, vielleicht will er nicht mehr drüber reden. Und ganz ehrlich: Wär auch okay für mich. Es geht mir gut in Saaks. Besser, als ich je gedacht hätte, dass es mir in dem Knast in den Bergen gehen könnte. Warum? Erstens is es doch keine Klapsmühle und zweitens is es auch kein Knast. Kühe gibt’s auch nicht, obwohl wir auf’m Berg sind, und das Essen is herrlich! Seit ’ner ganzen Weile hab ich auch keinen Ärger mehr gekriegt. Also wär’s doch total bescheuert, wenn ich mich jetzt auf die Suche nach neuem Ärger mache, oder?
„Und dann sind da die Sachen, die du in meiner Schülerakte gefunden hast“, fährt Dante fort.
„Über Ahmet Armut?“, frage ich und er nickt.
Ahmet Armut war unser Hausmeister. So ein ganz typischer Schulhausmeister: voller Narben und Tätowierungen, mit dem Blick eines