Lebendigkeit entfesseln. Silke Luinstra

Lebendigkeit entfesseln - Silke Luinstra


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Das hatte nie jemand gefragt – weder Eltern noch Pfarrer oder Lehrer oder sonst irgendjemand. Das scheint heute noch immer keine gängige Frage zu sein, wie auch Kathrins Dialog mit ihrem Mitarbeiter vermuten lässt, von dem ich im letzten Kapitel erzählt habe. Egal, ob in Flint oder in Hamburg, die Menschen hatten immer nur funktioniert, und jetzt sollte es darum gehen, was sie »wirklich, wirklich tun wollen«?

      Wie sehr die Frage berührt, war auch an diesem Spätnachmittag im Jahr 2017 in Berlin spürbar. Trotz der vielen Menschen im Saal war nicht ein Mucks zu hören. Ich vermute, es waren nicht wenige im Raum, die sich diese Frage eben so noch nicht oder lange nicht mehr gestellt hatten, geschweige denn gestellt bekommen hatten, und die gerade etwas Ähnliches erlebten wie die Automobilwerker im Flint der späten 1970er-Jahre.

      Bergmann ging sogar noch weiter: Er habe immer wieder eine »Armut der Begierde« gespürt, als wenn Menschen verlernt hätten, etwas zu wollen. Das war ihnen, so seine These, durch ihre Erziehung abhandengekommen.

      Während ich das schreibe, muss ich wieder an das denken, was meine Tochter gesagt hatte: Sie habe in der Schule verlernt, etwas Besonderes zu sein. Im Saal in Berlin konnten Sie nach dem Satz mit der »Armut der Begierde« Stecknadeln fallen hören. Was die Leute denn nun »wirklich, wirklich wollen«, wurde Frithjof Bergmann gefragt. Seine Antwort war kurz: »To make a difference.« Etwas tun, das einen Unterschied macht – für sich selber und für andere. Von Menschen, die solche Unterschiede machen, wird in den nächsten Kapiteln noch ausführlich die Rede sein.

      Doch selbst das wäre Bergmann nicht genug. Ihm geht es außerdem darum, das Lohnarbeitssystem zu überwinden, so wie wir es seit 200 Jahren kennen. Es ist so gebaut, dass Menschen darin verkümmern. »Jobs machen abhängig, Jobs erniedrigen Menschen«, kritisierte Bergmann auf der Veranstaltung. Und doch geht es ihm nicht um die Abschaffung des Kapitalismus, sondern um dessen Weiterentwicklung. Oberflächliche Verbesserungen helfen dabei allerdings nicht, es geht um das System selbst. Das Gelächter war groß, als der Philosoph ganz pragmatisch formulierte, es käme ihm oft so vor, als sei New Work inzwischen für viele etwas, was Arbeit ein bisschen reizvoller macht, quasi Lohnarbeit im Minirock. Er redete uns, seinem Publikum, ins Gewissen, New Work nicht einfach in die Art und Weise einzubauen, wie wir die Dinge schon immer gemacht haben. Es ginge um nicht mehr und nicht weniger als eine andere Art zu leben. »Das wird großartig«, schloss Bergmann seine Ausführungen. Die neue Kultur werde wirklich, wirklich anders sein. Während es in der alten, zurzeit noch vorherrschenden Kultur darum ging, Menschen zu zähmen, würden in der neuen Kultur Menschen vor allem gestärkt werden. »Das ist, was wir brauchen.«

      Wissen Sie, was mich an dem Tag in Berlin am meisten ermutigt hat? Dass die Stimmung im Saal war, wie sie war, nämlich emotional und bewegend. Und dass Frithjof Bergmann mit frenetischem Applaus, mit nicht enden wollenden Standing Ovations gefeiert wurde. Er wurde nicht mehr ausgelacht, so wie am Anfang seines Engagements für New Work, oder ignoriert, so wie viele Jahre zwischen den späten 1970er-Jahren und dem Beginn dieses Jahrtausends.

      Es war schon spät, als ich nach diesem Vortrag in den ICE von Berlin nach Hamburg stieg. Dennoch war ich hellwach, und Züge sind für mich ohnehin gute »Denkorte«. Ich ließ meine Emotionen und Gedanken, die ich während der Rede von Frithjof Bergmann hatte, noch einmal Revue passieren. Wie schon beim Lesen seines Buches merkte ich, dass viel von dem, was er sagt, sehr an meine Sichtweisen anschließt. Menschen dabei zu unterstützen, herauszufinden, was sie »wirklich, wirklich tun wollen«, war viele Jahre lang auch ein Schwerpunkt meines beruflichen Tuns, und die Frage läuft auch in meinem heutigen beruflichen Wirken immer mit, weil ich sie für sehr zentral halte.

       Es geht um nicht mehr und nicht weniger als eine andere Art, zu leben.

      Was auch gut tat: Bergmann war irgendwie unaufgeregter als seine Vorredner, er stieg aus dem »höher, schneller, weiter, bunter, schöner« aus, das sich durch die gesamte Veranstaltung gezogen hatte. Mal auszuatmen, das war den ganzen Tag nicht wirklich vorgesehen, ein Vortrag über großartige Gründungen, verdiente Millionen und agile, hippe Abteilungen jagte den nächsten. Puh. Bergmann war da definitiv von einer anderen Sorte, er brachte neben dem Aspekt der eigenen Berufung so etwas wie Genügsamkeit, Ganzheit und Sinn in den Saal. Das tat gut, denn diese Aspekte kamen und kommen mir in vielen Vorträgen, Veröffentlichungen und Diskussionen rund um New Work zu kurz.

       Einer oder alle?

      Während ich auf dem Rückweg von Berlin in die mecklenburgische Nacht hinausschaute, fragte ich mich, was wohl noch zu dem beeindruckenden Echo auf den Vortrag des alten Philosophen beigetragen haben mag. Mir gingen einige Thesen durch den Kopf, darunter eine besonders deutlich: Die Resonanz war Ausdruck einer großen Sehnsucht, einer Sehnsucht nach einer anderen, sinnstiftenden und selbstbestimmten Arbeit. Diese Sehnsucht ist mir in den letzten Jahren immer wieder begegnet. So auch bei intrinsify, dem Netzwerk für Neue Arbeit mit dem so einprägsamen Slogan »Happy Working People«.

      Nicht nur den beiden Gründern, Lars Voller und Mark Poppenborg, waren und sind glückliche und zufriedene Menschen am Arbeitsplatz ein Anliegen, sondern auch den vielen Mitgliedern und Teilnehmern an den Veranstaltungen des Netzwerks. Nur bei dem Weg, wie dies zu erreichen sei, tauchten spürbare Unterschiede auf. Immer wieder haben wir lange Diskussionen darüber geführt, ob für mehr Glück der Einzelne oder das gesamte System in den Blick zu nehmen sei. Kurz gesagt: Psychologie oder Soziologie? Während die einen glauben, dass sich das System verändert, wenn sich Menschen und deren Verhalten verändern, denken die anderen, ein anderes System würde zu anderem Verhalten führen.

      In der öffentlichen Diskussion und in unseren Unternehmen dominiert gefühlt die individuelle Sicht. Weshalb gibt es all die Führungskräftetrainings, die den Chefs eine andere Haltung, ein neues Verhalten antrainieren sollen? Weshalb die gut gemeinten Hinweise im alljährlichen Mitarbeitergespräch? Weshalb die Selbstmanagement- und Achtsamkeitstrainings? Weshalb der Austausch des CEO, weil die Zahlen nicht stimmen? Weshalb der neue Teamleiter, weil es in der Montage immer wieder zu Verzögerungen kommt? Diesen Maßnahmen liegt die These zugrunde, dass anderes Verhalten oder gleich andere Menschen zu anderen, besseren Ergebnissen führen werden.

      Mit dieser Argumentation können Sie die beiden intrinsify-Gründer und noch einige mehr so richtig auf die Palme bringen. Kurz gefasst lautet deren Botschaft: »Wer anderes Verhalten will, muss das System ändern, nicht die Menschen. Lasst die Menschen in Ruhe!« Vielleicht sind also gar nicht die Führungskräfte kaputt und müssen in Trainings repariert werden, sondern das Spiel, das sie im sozialen System namens »Unternehmen« spielen (müssen), taugt nicht? Dieser Blick auf soziale Systeme, zuerst von dem Soziologen Niklas Luhmann eingeführt, entlastet die Menschen in – großen und kleinen – Organisationen. Das finde ich ausgesprochen wichtig. Mir wird manchmal ganz schwindelig bei dem, was Führungskräfte – und Mitarbeiter überhaupt – alles sollen. In den Tagen, in denen ich dieses Kapitel schreibe, geht gerade ein Aufruf von Helmut Diess, Chef des VW-Konzerns, durch die Presse. Er forderte in einer Ansprache seine Führungskräfte auf, die Denkmäler des Alltags beiseitezuräumen, wenn aus Volkswagen kein Industriedenkmal werden soll. »Das«, so der VW-Boss, »habe ich zu unseren Azubis gesagt. Und das sage ich auch zu Ihnen.« In derselben Rede beklagt Diess fehlende Schnelligkeit und fehlenden Mut zu radikalem Umsteuern.

      Wer rein systemtheoretisch argumentiert, dem geht bei diesen Klagen und Forderungen die Hutschnur hoch – weil der Blick darauf fehlt, wie das System ein beobachtetes Verhalten hervorbringt. Davon habe ich in der Zusammenarbeit mit großen Unternehmen auch immer wieder Kostproben bekommen: Da dauert es ein halbes Jahr, bis die Nutzung einer Online-Plattform im Rahmen eines Ausbildungsprogramms vom Datenschutz geprüft wurde, dort verhindert der Betriebsrat aus gut gemeintem Schutzinteresse ein bis Samstagmittag gehendes Seminar – obwohl alle Teilnehmer damit einverstanden sind. Das tun aber nicht, oder zumindest nicht nur, die einzelnen Datenschützer oder Betriebsräte, sondern das tut das System, in dem diese Menschen agieren. Sie können quasi nicht anders. Jedenfalls nicht ohne einen hohen Preis zu zahlen, wenn sie sich gegen das herrschende System stellen. Wer nicht nach den Regeln spielt, ist schnell draußen – wie bei »Mensch ärgere dich nicht«.

      Dieser Systemblick ist ausgesprochen


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