Lebendigkeit entfesseln. Silke Luinstra

Lebendigkeit entfesseln - Silke Luinstra


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zu setzen. »Ich habe keinen Bock mehr auf Urlaubsanträge, Arbeitszeiterfassung, Mitarbeitergespräche nach Leitfaden, 360°-Feedback, immer neue Leitbildprozesse, betriebliches Vorschlagswesen und Betriebsvereinbarungen, die Dinge regeln, die selbstverständlich sein sollten,« sagte sie, »das ist doch alles bloß Beschäftigungstherapie. Die Zeit und Energie, die wir auf all diese Prozesse verwenden, könnten wir besser zum Wohle unserer Kunden einsetzen.«

      Da ist sie wieder, die Beschäftigung. Keine Frage, es wird unglaublich viel getan in unseren Organisationen. Da das Tun, das Erfüllen der Vorgaben aber oft so wenig bewirkt, ruft es noch mehr Tun auf den Plan, um endlich Wirkung zu erzeugen. Die Hoffnung erfüllt sich wieder nicht, es wird noch mehr getan und das geht immer so weiter. Kein Wunder, dass der Frust steigt und das Gefühl der Lebendigkeit immer mehr abhandenkommt. Ich fragte Meike nach der Resonanz auf ihre Impulse. Ihre eben noch heitere Mine verfinsterte sich. »Das ist leider nicht einfach«, begann sie, »anfangs hat unser Geschäftsführer meine Gedanken gar nicht verstanden. Er hat ständig nur darauf verwiesen, dass wir es schon immer so gemacht hätten und es ja so schlecht offenbar nicht wäre, das würden die Zahlen schließlich zeigen.« Später, so erzählte Meike weiter, hatte der Geschäftsführer schon nachvollziehen können, was sie meinte. Getan hatte sich trotzdem wenig. Einsicht ist eben nicht dasselbe wie Handeln. Aufgeben wollte die engagierte Frau aber nicht.

      Das mit den guten Zahlen war jedoch offenbar nach unserem Gespräch nicht mehr lange der Fall. Als ich Meike zwei Jahre später wieder begegnete, war das Unternehmen aus einer drohenden Insolvenz heraus an ein großes Unternehmen der Branche verkauft worden, in dem es noch mehr Prozesse, Vorgaben und Kontrolle gab. Meike hatte gekündigt. So wollte sie nicht arbeiten. Es war eine Atmosphäre von Angst und Aggression entstanden, die die Personalleiterin nicht länger ertragen wollte. Ich konnte sehr gut nachvollziehen, was sie sagte, ich hatte so etwas auch mehrmals in meiner Karriere erlebt.

       Unvernünftige Verschwendung

      Als ich am Morgen nach der erneuten Begegnung mit Meike im Schwimmbad meine Bahnen zog und noch einmal an unser Gespräch zurückdachte, war ich traurig und wütend zugleich. Wütend, weil so viele engagierte Menschen unglaublich viel Energie einsetzen, die letztlich verpufft. Traurig, weil ich es schon so oft erlebt hatte, dass gerade diejenigen, denen die Fesseln der Lebendigkeit in Organisationen auffallen und die Impulse für eine andere Art zu arbeiten setzen, offenbar dabei häufig so sehr an ihre Grenzen kommen, dass sie keinen anderen Weg sehen, als zu gehen. Dabei bräuchten wir gerade sie, die einen scharfen Blick für die Verhältnisse haben, die ihre Organisationen gut kennen und die Ideen für hilfreiche Veränderungen haben.

      Das Gespräch mit Meike machte mir wieder einmal deutlich: Im Streben nach Effizienz und Kontrolle in unseren Unternehmen entstehen eine Reihe von Mechanismen, die Lebendigkeit fesseln: Abteilungen, Hierarchien und die mit ihnen verbundenen Meeting-Rituale stehen echter Zusammenarbeit im Weg, wuchernde Regeln und Vorschriften, Kontrollen – unter anderem von Arbeitszeit und Anwesenheit – feste Prozesse und Anreizsysteme programmieren unser Verhalten. Das ist menschenunwürdig, und diese Art und Weise, sich zu organisieren passt einfach nicht mehr in die Zeit.

      Dadurch fühlen sich irgendwie alle in ihrem Tun behindert: Unternehmer, Mitarbeiter, Vorstände, Werkstudenten, Geschäftsführerinnen, Auszubildende genauso wie Führungskräfte auf allen Ebenen. Viele sind davon erschöpft. Doch nicht nur die Menschen, auch die Organisationen sind systematisch überlastet, weil sie mit den dynamischen Umfeldern nicht mehr klarkommen, zu langsam sind und mit ungeeigneten Mitteln probieren, dem entgegenzuwirken.

      Paradoxerweise bleibt durch die Überlastung genau das auf der Strecke, was einen immer größeren Stellenwert hat: die Wirtschaftlichkeit. Sie gerät immer mehr aus dem Blick, obwohl sie doch bei Toyota, einem der großen Vorbilder effizienter Produktion, schon wussten, dass nicht nur Defekte, Überproduktion, Wartezeiten, ungenutzte Fähigkeiten oder Transport zu Verschwendung führen können, sondern eben auch Überlastungen. Dafür haben sie in Japan sogar ein Wort: Muri. Und das bedeutet nicht nur »Verschwendung«, sondern auch »unvernünftig«.

      Ich bin da ganz bei den Japanern: Diese Art Überlastungen in Kauf zu nehmen, ist unvernünftig. Doch es lohnt sich ein zweiter Blick. Was genau ist da unvernünftig? Ich sehe es so: Jeder in einem Unternehmen etablierte Prozess, jede Vorgehensweise ist der Versuch, ein Problem zu lösen. Das ist erst einmal weder unvernünftig noch dumm. Doch jeder Versuch, ein Problem zu lösen, hat auch seine Preise. Nehmen wir einmal die Planung der Produktion. Sicher nützlich, um effizient zu arbeiten. Doch an der Geschichte von Doris einige Seiten zuvor haben wir deutlich gesehen: Zu enge und zu starre Pläne im Dienste der Effizienz können dazu führen, Kunden zu verlieren. Das ist ein hoher Preis.

      Inzwischen haben wir in unseren Organisationen sehr viele Prozesse mit sehr hohen Preisen. Das führt zu Zynismus, Polemik, Frust. Der – vermeintliche – Schwachsinn in unseren Unternehmen taugt zwar prima für Lästerrunden in der Kaffeeküche, launige Reden und lustige Fernsehserien à la Stromberg, doch dabei sollten wir es nicht belassen. Denn die fehlende Lebendigkeit in den Organisationen schadet den Menschen und den Unternehmen. Es wird, nein, es ist bereits längst Zeit für Alternativen.

       Naturgesetze?

      Doch weshalb halten wir so oft die Funktionsweise von Unternehmen für alternativlos? Neben den Fesseln, die der Lebendigkeit durch unpassende Strukturen angelegt werden, gibt es wohl auch Fesseln in unseren Köpfen. Woher kommt bloß die Idee, dass unsere Unternehmen nur so und nicht anders funktionieren könnten? Dass es Pläne, Budgets, Zielvereinbarungen, Abteilungen, Meetings einfach geben muss, damit es läuft? Wenn ich mit der Bahn unterwegs bin – was ziemlich oft der Fall ist – werde ich häufig Zeugin von Gesprächen, die genau von dieser gefühlten Alternativlosigkeit erzählen. So auch gerade wieder letzte Woche, irgendwo zwischen Frankfurt und Hamburg. Da diskutieren zwei Kollegen sehr engagiert über die Planzahlen für das kommende Jahr. Eine Dame im Businesskostüm bespricht am Telefon die Beurteilung eines Mitarbeiters und die daran geknüpfte Bonuszahlung. Keiner von ihnen hinterfragt, welchen Sinn die Zahlen und Beurteilungen erfüllen. Solche Systeme aus Planung, Zielerfüllung, Beurteilung und Bonus sind offenbar selbstverständlich geworden.

      Im Zug ging es noch weiter: Eine junge Frau klagt einer Freundin ihr Leid. »Bei uns gibt es nur den Fall, dass du funktionierst.« Sie fühle sich als Produktionsfaktor, fährt sie fort, der eben funktionieren muss. »Wenn ich weg bin, kommt die nächste, ich bin austauschbar.« Das System ist extrem auf Leistung ausgerichtet, gerade viele junge Kollegen arbeiten sehr lange, weit über jede Belastungsgrenze hinaus. Der Druck ist groß, der Chef scheint davon auszugehen, dass nur etwas leistet, wer unter einem gewissen Zwang steht. »Aber«, sagt die junge Frau, »so ist es überall. Das ist eben so, egal, wo du arbeitest.« Puh, ganz schön was los in unserer Wirtschaftswelt, denke ich bei mir, setze mir Kopfhörer auf, mache Musik an und schlage die Zeitung auf. Dort geht es in einem Artikel passenderweise um die Deutsche Bahn und die Tendenz, dass dort – nach Analyse des Autors – der staatliche und politische Einfluss zu- und das betriebswirtschaftliche Denken abnimmt. Dabei, so stellt der Autor fest, legt doch das Grundgesetz fest, dass die Bahn als Wirtschaftsunternehmen zu führen ist. Und dazu gehört ihm zufolge das Prinzip der Gewinnmaximierung. Und wer Gewinne nicht maximiert, denkt nicht betriebswirtschaftlich.

      Nachdenklich lege ich die Zeitung weg, schließe die Augen, lasse Gesprächsfetzen und den gerade gelesenen Artikel Revue passieren. Erinnern Sie sich an den jungen Mann, der versuchte, mir seine Software noch am 31. Januar zu verkaufen? Bereits in dem Start-up, das gerade mal zwei Jahre am Markt war, hatten diese Vorgehensweisen Einzug gehalten. Die Menschen im Zug, die Aussagen in dem Artikel über die Bahn und der junge Mann aus dem Start-up – sie sind für mich Zeichen, wie sehr das alles verinnerlicht ist, ja als »professionell« gilt, dass wir die Nebenwirkungen solcher Praxis in Kauf nehmen müssen und daran eben nichts zu ändern ist. Es ist gerade so, als seien es Naturgesetze. Doch das sind sie doch gar nicht, sie sind menschengemacht. Weshalb in Gottes Namen ist es so schwierig, die Strukturen und Prozesse zu verändern? Es liegt sicher daran, dass viele gar nicht merken, wo sie da drinstecken, so sehr sind sie an die Abläufe gewöhnt.

      Doch


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