Maigret und der Mann auf der Bank. Georges Simenon
Arbeit trägt.«
Maigret zog das Tuch ganz zurück.
»Ist das sein Mantel?«
»Ja.«
»Sein Anzug?«
»Ja, auch sein Anzug. Aber nicht seine Krawatte. Eine so grelle hätte er nie getragen. Die da ist ja knallrot.«
»Führte Ihr Mann ein geregeltes Leben?«
»Ein geregelteres kann man sich gar nicht vorstellen; meine Schwester wird es Ihnen bestätigen. Morgens stieg er an der Straßenecke in den Bus zum Bahnhof, wo er den Zug um acht Uhr siebzehn nahm. Er fuhr immer zusammen mit Monsieur Beauduin, unserem Nachbarn. Der ist beim Finanzamt. An der Gare de Lyon nahm er die Metro und fuhr bis zur Station Boulevard Saint-Martin.«
Der Beamte des Gerichtsmedizinischen Instituts machte Maigret ein Zeichen. Dieser führte daraufhin die beiden Frauen zu einem Tisch, auf dem der Inhalt der Taschen des Toten ausgebreitet war.
»Sie erkennen diese Dinge wieder?«
Da lagen eine silberne Taschenuhr mit Kette, ein Taschentuch ohne Monogramm, ein angebrochenes Päckchen Gauloises, ein Feuerzeug, ein Schlüssel und neben der Brieftasche zwei kleine blaue Karten.
Sofort richtete Madame Thouret ihren Blick auf diese Karten.
»Kinokarten«, sagte sie.
Nachdem Maigret die Karten eingehend betrachtet hatte, sagte er:
»Sie stammen von einem Kino am Boulevard Bonne-Nouvelle. Wenn ich richtig sehe, gelten sie für heute.«
»Das kann nicht sein. Was sagst du dazu, Jeanne?«
»Mir kommt es seltsam vor«, erwiderte die Schwester ruhig.
»Würden Sie einen Blick in seine Brieftasche werfen?«
Sie tat es, und erneut verdüsterte sich ihr Gesicht.
»So viel Geld hatte Louis heute Morgen nicht bei sich.«
»Wissen Sie das genau?«
»Ich prüfe jeden Tag, ob er Geld in seiner Brieftasche hat. Es ist nie mehr als ein Tausendfrancschein und zwei oder drei Hunderter darin.«
»Er durfte nichts davon nehmen?«
»Wir sind doch nicht am Monatsende!«
»Er hatte also, wenn er abends zurückkam, denselben Betrag in der Brieftasche wie am Morgen?«
»Abzüglich der Kosten für Metro und Zigaretten. Für die Bahn hat er ein Abonnement.«
Sie zögerte, die Brieftasche einzustecken.
»Sie brauchen sie wohl noch?«, fragte sie.
»Bis auf Weiteres, ja.«
»Am wenigsten verstehe ich, dass man ihm andere Schuhe angezogen und eine andere Krawatte umgebunden hat. Und dass er sich zu der Zeit, als das passierte, nicht im Geschäft befand.«
Maigret ging nicht darauf ein, sondern legte ihr die Formulare zur Unterschrift vor.
»Fahren Sie jetzt wieder nach Hause?«
»Wann wird die Leiche freigegeben?«
»Wahrscheinlich in ein oder zwei Tagen.«
»Wird eine Autopsie gemacht?«
»Wenn der Untersuchungsrichter sie anordnet. Das ist noch nicht sicher.«
Sie sah auf ihre Uhr.
»In zwanzig Minuten geht ein Zug«, sagte sie zu ihrer Schwester, und zu Maigret:
»Könnten Sie uns am Bahnhof absetzen?«
»Willst du nicht noch auf Monique warten?«, fragte die Schwester.
»Sie wird schon allein nach Hause kommen.«
Sie fuhren den Umweg über die Gare de Lyon. Dann betrachteten Maigret und Santoni die beiden Gestalten, die fast gleich aussahen und die Steinstufen hinaufstiegen.
»Die ist zäh«, brummte Santoni. »Der arme Kerl hat bestimmt nichts zu lachen gehabt.«
»Jedenfalls nicht bei ihr.«
»Was halten Sie von der Geschichte mit den Schuhen? Wären sie neu, wär’s nicht weiter verwunderlich. Er hätte sie eben heute erst gekauft.«
»Das hätte er nicht gewagt. Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?«
»Auch eine auffällige Krawatte hätte sie nicht geduldet.«
»Ich bin gespannt, ob die Tochter der Mutter ähnlich ist.«
Sie fuhren nicht gleich zum Quai des Orfèvres zurück, sondern hielten an einer Brasserie, um zu Abend zu essen. Maigret rief seine Frau an und teilte ihr mit, dass es spät werden würde.
In der Brasserie roch es auch nach Winter. An allen Haken hingen feuchte Mäntel und Hüte, und die dunklen Fensterscheiben waren beschlagen.
Der Pförtner beim Eingang zur Kriminalpolizei sagte zu Maigret:
»Eine junge Frau hat nach Ihnen gefragt. Sie ist wohl herbestellt worden. Ich habe sie nach oben geschickt.«
»Wartet sie schon lange?«
»Etwa zwanzig Minuten.«
Der Nebel hatte sich in einen feinen Regen verwandelt, und auf den immer staubigen Stufen der breiten Treppe waren feuchte Fußspuren zu sehen. Die meisten Büros waren verlassen. Nur unter einigen Türen sah man Lichtschimmer.
»Soll ich noch bleiben?«, fragte Santoni.
Maigret nickte. Da Santoni von Anfang an dabei gewesen war, sollte er die Untersuchung mit ihm weiter durchführen.
Eine junge Frau, deren hellblauer Hut das Auffallendste war, saß in einem Sessel im Vorzimmer. Der Raum war nur schwach beleuchtet. Der Bürodiener las in einer Abendzeitung.
»Sie werden erwartet, Chef.«
»Ich weiß.«
Maigret wandte sich an die junge Frau: »Monique Thouret? Bitte folgen Sie mir in mein Büro.«
Er knipste die Lampe mit dem grünen Schirm an, deren Schein auf den ihm gegenüberstehenden Sessel fiel, und bat sie, dort Platz zu nehmen. Er bemerkte, dass sie geweint hatte.
»Mein Onkel hat mir mitgeteilt, dass mein Vater tot ist.«
Er antwortete nicht sofort. Wie ihre Mutter hielt sie ein Taschentuch in der Hand, aber ihrs war zerknüllt, und sie knetete es unentwegt mit den Fingern, so wie Maigret als Kind ein Stück Gummi geknetet hatte.
»Ich dachte, Maman ist bei Ihnen.«
»Sie ist nach Juvisy zurückgefahren.«
»Wie hat sie es aufgenommen?«
Wie sollte er darauf antworten?
»Ihre Mutter war sehr tapfer.«
Monique war durchaus hübsch. Sie sah ihrer Mutter nicht besonders ähnlich, bis auf die stämmige Figur. Die fiel jedoch weniger auf, da sie jung und straff war. Sie trug ein gut geschnittenes Kostüm, was den Kommissar ein wenig überraschte, denn sie hatte es gewiss weder selbst geschneidert noch in einem billigen Laden gekauft.
»Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte sie schließlich, und ihre Augen glänzten feucht.
»Ihr Vater wurde erstochen.«
»Wann?«
»Heute Nachmittag, zwischen halb und Viertel vor fünf.«
»Wie konnte das geschehen?«
Warum hatte er den Eindruck, dass sie nicht ganz aufrichtig war? Die Mutter hatte auch eine gewisse Sprödigkeit gezeigt, die ihrem Charakter aber gut entsprach. Madame Thouret erachtete es im Grunde als unwürdig, sich in einer Sackgasse am Boulevard Saint-Martin ermorden zu lassen. Sie hatte ihr Leben