Kritische Fremdsprachendidaktik. Группа авторов
für Interaktions- und Kommunikationsprozesse ins Zentrum solcher Vorhaben zu stellen: Es müsse um ein neues Verständnis von kulturellen Praktiken gehen, die digital gedacht, gefördert und ausgeführt werden. Interessanterweise steigt er mit einem Fallbeispiel ein, in dem einer seiner Schüler*innen sich zum ersten Mal selbstwirksam als sprachkompetent erleben kann, indem er seiner Englischlehrkraft von seinen „digitalen kulturell-sprachlichen Praktiken“ beim Spielen eines Videospiels berichtet.
Hier knüpfen Carolyn Blume und Jonathon Reinhardt an, wenn sie in ihrem Beitrag fragen, wie im Fremdsprachenunterricht Authentizität hergestellt werden kann, um auf ihrer Grundlage und mittels Gameplaying eine Critical Multiliteracy Competence zu fördern. Während der Einbezug von Games im Fremdsprachenunterricht im Allgemeinen noch keine größere Rolle zu spielen scheint, stellen sie heraus, welche Bedeutung Games für Kinder und Jugendliche haben und wie dieses Potenzial für die Förderung einer kritischen Literalität in den Fremdsprachenunterricht integriert werden kann.
Im Anschluss diskutieren zwei Beiträge, wie z.B. seitens von Lehrwerken gesetzte Normen oder mangelhafte Darstellungen von Diversität für den Fremdsprachenunterricht kritisch-produktiv transformiert werden können. Thorsten Merse versteht Queer Theory als notwendige Bezugswissenschaft für eine kritisch orientierte Fremdsprachendidaktik, die Heteronormativität überwinden und den Einbezug von LGBTQ-Identitäten in den Unterricht normalisieren muss. Er sieht neben der Sichtbarmachung dieser Identitäten besonders auch die kritische Auseinandersetzung mit Heteronormativität als einen notwendigen Unterrichtsgegenstand und überträgt diese Überlegungen auf typische Themen und Texte des Fremdsprachenunterrichts.
Lotta Königs Beitrag fordert die notwendige Thematisierung der Wirkmächtigkeit von Sprache im Fremdsprachenunterricht ein – und zwar über ihre häufig nur sprachfunktional ausgerichtete Banalisierung in Lehrwerken hinaus. Am Beispiel von Schönheits- und Körpernormen, für Heranwachsende relevante, da auch medial prominent verbreitete, Themen, erarbeitet sie nicht nur das ihnen innewohnende kritisch-fremdsprachendidaktische Potenzial, sondern zeigt auch die Leerstellen der Disziplin auf. Die Überlegungen münden in eine methodisch-didaktisch ausgearbeitete Unterrichtseinheit, die beispielhaft für die Thematisierung potenziell kritischer Normen gesehen werden kann.
Sich scharnierartig an die praxis- bzw. materialtheoretischen Überlegungen anschließend beschäftigen sich die folgenden beiden Beiträge in einer kritischen Erweiterung des Einleitungsartikels mit grundlegenden Fragestellungen mithilfe sozial- und erziehungswissenschaftlicher Bezugstheorien. Ausgehend von gesellschaftlichen Kernmerkmalen wie Beschleunigung und Steigerung – und als Folge dessen für Bildung: Effizienzsteigerungs- und Outputzwang – führt Jochen Plikat in das sozialwissenschaftliche Konzept der Resonanztheorie ein. Primär basierend auf den Arbeiten von Hartmut Rosa, der die Resonanztheorie im deutschsprachigen Diskurs im Wesentlichen geprägt hat, zeigt er, wie Resonanz als Zugang zu gelingendem Fremdsprachenunterricht und für das Herstellen einer bildungsförderlichen Umgebung hilfreich sein könnte.
Andreas Bonnet und Uwe Hericks sehen weniger inhaltliche Herausforderungen für einen kritisch-modernen Fremdsprachenunterricht im Vordergrund (das „Was“), sondern plädieren in einem Umdenken für die Perspektive des „Wie“ und einen solidarisch-pädagogisch ausgerichteten Fremdsprachenunterricht. Allerdings diagnostizieren sie dem Fremdsprachenunterricht in der Folge u.a. von Standardisierung sowie einem konkurrenzorientierten Leistungsprinzip eine zu starke Steuerung und Schließung, während das Lernen von Fremdsprachen mit seinen sprachlichen, kulturellen sowie ästhetischen Inhaltsfeldern eigentlich stärker auf Öffnung und Anbahnung von Bildungsprozessen angelegt sein sollte.
Anschließend an die stärker grundlagentheoretisch orientierten Beiträge von Plikat sowie Bonnet und Hericks, mithilfe derer auch immer mögliche Folgen für die Rolle von Fremdsprachenlehrkräften potenziell mitgedacht werden können, beschäftigen sich die letzten Beiträge stärker mit den Lehrpersonen in einem kritischen Fremdsprachenunterricht. Michael Schart betont zum Beispiel die durchaus nicht ungefährliche Rolle von kritischen Deutsch-als-Fremdsprache-(DaF-)Lehrpersonen, die in diversen Kontexten arbeiten, in denen Freiheit oder Demokratie möglicherweise eingeschränkt sind. Am Beispiel eines universitären Deutschunterrichts in Japan stellt er fünf Prinzipien heraus, wie kritisches Denken zumindest angebahnt und in dialogischen Unterrichtsprozessen produktiv genutzt werden kann. Gleichzeitig betont er die Bedeutung einer Lernkultur, die immer wieder von den beteiligten Personen (also Lehrenden wie Lernenden) neu geschaffen werden muss.
Dagmar Abendroth-Timmer zeigt, wie Fremdsprachenlehrer*innenbildung sowohl individuelle Reflexion seitens der Lehramtsstudierenden anstoßen als auch ein kritisches Bewusstsein fördern kann. Auf der Basis von fallbasierten Konfliktsituationen aus Praxisphasen werden Französisch- und Spanischstudierende in einem dramapädagogischen Setting zur kritischen (Selbst-)Reflexion und gemeinsamen Peer-Reflexion angeleitet, um besonders Kognition, Emotion und Leiblichkeit im Zusammenhang mit dem Konflikt verbalisieren zu lernen.
Gemeinsam mit Kenneth Fasching-Varner stelle ich abschließend Grundüberlegungen dahingehend an, wie eine kritische Fremdsprachenlehrer*innenbildung ausgestaltet werden könnte, welchen Prinzipien sie folgen müsste und wie sie sich – ohne größere Umstürze – in die Strukturen des deutschen Lehrer*innenbildungssystems einbinden lassen könnte. Die vielen Konjunktive sind hierbei gewollt: Entstanden ist ein Papier, das Ideen skizziert und auf internationale theoretische wie empirische Forschung rekurriert, welche erste Versuche unternommen hat, kritische Perspektiven in die Fremdsprachenlehrer*innenbildung einzubringen. Inwiefern diese Maßnahmen im deutschsprachigen Raum auf fruchtbaren Boden treffen, wird die Zukunft zeigen.
Covid-19 und kritisches (Nicht-)Wissen
Die Mehrzahl der Beiträge ist unter dem Eindruck der weltweiten Corona-Pandemie in der ersten Hälfte des Jahres 2020 entstanden, welche das Berufs- und Privatleben vieler, besonders aber auch das Bildungswesen sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf die Probe gestellt hat. Auch die Forderung einer besonderen Kritikfähigkeit wurde dabei von Verschwörungsgläubigen immer wieder eingefordert. Ein Beispiel aus dem Zeitraum: Abiturienten meiner Frau förderten zu einem gewünschten Alltagsbezug in ihrer Aufgabenstellung im mündlichen Abitur ernsthaft einschlägige Verschwörungstheorien zu Tage, die sie über soziale Medien rezipiert hatten. Dieses „kritische Bewusstsein“ in seiner – derart ausgestaltet – sprachlos machenden Naivität hat natürlich nichts mit den Prinzipien von Critical Literacy oder Critical Pedagogy zu tun, wie sie grundlegend für die Beiträge in diesem Sammelband sind. Dieses kleine Beispiel zeigt jedoch, wie wichtig Wissen in unserer Gesellschaft geworden ist (und immer schon war) und dass Schule den kritischen Umgang mit Wissen und seiner Herstellung unbedingt fördern muss.
Danksagung
Ich danke allen Beitragenden für die große Bereitschaft mitzuwirken, ihre zuverlässige Zusammenarbeit und die fundierten sowie vielschichtigen Beiträge, die für diesen Band zusammengekommen sind. Mareen Lüke danke ich für ihre Unterstützung bei der inhaltlichen und formalen Begutachtung, Kathrin Heyng und Katharina Gerhardt vom Narr-Verlag für das sorgfältige Lektorat sowie ihre bereitwillige Unterstützung für dieses Projekt.
David Gerlach
Marburg im August 2020
Ausgewählte Materialien für einen kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht: Jugendliteratur mit Transgender-Thematik
Jan-Erik Leonhardt & Britta Viebrock
1. Einleitung
Ziel des vorliegenden Beitrags ist die Diskussion ausgewählter Materialien für einen kritisch orientierten Fremdsprachenunterricht. Zwar mag man zunächst meinen, dass der Ansatz kritischer Theorien und Pädagogiken, die einem ebenso orientierten Fremdsprachenunterricht zugrunde liegen, eher eine grundsätzliche Haltung oder Einstellung zur Bedeutung und Gestaltung institutioneller Bildung einfordert, die über die Grenzen eines einzelnen Unterrichtsfachs hinausgeht. Zudem mag man meinen, dass sich ein kritischer Ansatz nicht in einzelnen Materialien oder spezifischen Methoden widerspiegelt. Oder anders herum gesagt: Er ließe sich mit allen möglichen Materialien