Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil
geblieben wären, der gemeine Wunsch nach heißem Kaffee und das Gefühl menschlicher Verlorenheit.
Verdampfender Schnee stieg von den Schuhen auf, Clarisse freute sich, weil die Stube schmutzig wurde, und Walter hielt die weiblich kräftigen Lippen die ganze Zeit über geschürzt, weil er Streit suchte. Ulrich erzählte von der Parallelaktion. Bei Arnheim kamen sie wieder in Streit.
«Ich werde dir sagen, was ich gegen ihn habe» wiederholte Ulrich. «Der wissenschaftliche Mensch ist heute eine ganz unvermeidliche Sache; man kann nicht nicht wissen wollen! Und zu keiner Zeit ist der Unterschied zwischen der Erfahrung eines Fachmanns und der eines Laien so groß gewesen wie in der jetzigen. An dem Können eines Masseurs oder eines Klavierspielers merkt es jeder; man schickt heute kein Pferd mehr ohne besondere Vorbereitung auf die Rennbahn. Bloß in den Fragen des Menschseins glaubt sich noch jeder zur Entscheidung berufen, und ein altes Vorurteil behauptet, daß man als Mensch geboren wird und stirbt! Weiß ich aber, daß die Frauen vor fünftausend Jahren wörtlich die gleichen Briefe an ihre Liebhaber geschrieben haben wie heute, so kann ich doch keinen solchen Brief mehr lesen, ohne mich zu fragen, ob es nicht einmal anders werden sollte!»
Clarisse zeigte sich zum Einverständnis geneigt. Walter dagegen lächelte wie ein Fakir, der mit keiner Wimper zucken will, wenn man ihm eine Hutnadel durch die Wangen stößt.
«Das heißt also nichts anderes, als daß du dich bis auf weiteres weigerst, ein Mensch zu sein!» warf er ein.
«Ungefähr. Es haftet ein unangenehmes Gefühl von Dilettantismus daran!»
«Aber ich will dir noch etwas ganz anderes zugeben» fuhr Ulrich nach einiger Überlegung fort. «Die Fachleute werden niemals fertig. Nicht nur sind sie heute unfertig; sondern sie vermögen sich die Vollendung ihrer Tätigkeit überhaupt nicht auszudenken. Vielleicht nicht einmal zu wünschen. Kann man sich zum Beispiel vorstellen, daß der Mensch noch eine Seele haben wird, sobald er sie biologisch und psychologisch völlig zu begreifen und behandeln gelernt hat? Trotzdem streben wir diesen Zustand an! Das ist es. Das Wissen ist ein Verhalten, eine Leidenschaft. Im Grunde ein unerlaubtes Verhalten; denn wie die Trunksucht, die Geschlechtssucht und die Gewaltsucht, so bildet auch der Zwang, wissen zu müssen, einen Charakter aus, der nicht im Gleichgewicht ist. Es ist gar nicht richtig, daß der Forscher der Wahrheit nachstellt, sie stellt ihm nach. Er erleidet sie. Das Wahre ist wahr, und die Tatsache ist wirklich, ohne sich um ihn zu kümmern: er hat bloß die Leidenschaft dafür, die Trunksucht am Tatsächlichen, die seinen Charakter zeichnet, und schert sich den Teufel darum, ob ein Ganzes, Menschliches, Vollkommenes oder was überhaupt aus seinen Feststellungen wird. Das ist ein widerspruchsvolles, ein leidendes und dabei ungeheuer tatkräftiges Wesen!»
«Und?» fragte Walter.
«Was: und?»
«Du willst doch nicht behaupten, daß man es dabei bewenden lassen kann?!»
«Ich möchte es dabei bewenden lassen» sagte Ulrich ruhig. «Unsere Anschauung von unserer Umgebung, aber auch von uns selbst, ändert sich mit jedem Tag. Wir leben in einer Durchgangszeit. Vielleicht dauert sie, wenn wir unsere tiefsten Aufgaben nicht besser anpacken als bisher, bis zum Ende des Planeten. Trotzdem soll man, wenn man ins Dunkel gestellt ist, nicht wie ein Kind aus Angst zu singen beginnen. Ein solcher Gesang aus Angst ist es aber, wenn man so tut, als wüßte man, wie man sich hienieden zu benehmen hat; da kannst du grundstürzend brüllen, es ist doch nur Angst! Übrigens bin ich überzeugt: Wir galoppieren! Wir sind noch weit von den Zielen entfernt, sie rücken nicht näher, wir sehen sie überhaupt nicht, wir werden uns noch oft verreiten und die Pferde wechseln müssen; aber eines Tags – übermorgen oder in zweitausend Jahren – wird der Horizont zu fließen beginnen und uns brausend entgegenstürzen!»
Es war dämmerig geworden. «Niemand kann mir ins Gesicht sehn» dachte Ulrich. «Ich weiß nicht einmal selbst, ob ich lüge.» Er sprach, wie man in einem Augenblick, der seiner selbst nicht gewiß ist, das Ergebnis jahrzehntelanger Gewißheit zusammenfaßt. Er erinnerte sich daran, daß doch dieser Jugendtraum längst hohl geworden war, den er Walter vorhielt. Er wollte nicht mehr weiter reden.
«Und wir sollen» erwiderte Walter mit Schärfe «auf jeden Sinn des Lebens verzichten?!»
Ulrich fragte ihn, wozu er eigentlich einen Sinn brauche? Es ginge doch auch so, meinte er.
Clarisse kicherte. Sie meinte es nicht bös, die Frage war ihr so spaßhaft vorgekommen.
Walter zündete Licht an, denn es schien ihm nicht nötig zu sein, daß Ulrich vor Clarisse den Vorteil des dunklen Mannes ausnütze. Ärgerliche Blendung überschüttete die drei.
Ulrich erläuterte verstockt: «Was man im Leben braucht, ist bloß die Überzeugung, daß das Geschäft besser geht als das des Nachbarn. Das heißt: deine Bilder, meine Mathematik, irgendjemandes Kinder und Frau; alles das, was einem Menschen versichert, daß er zwar in keiner Weise etwas Ungewöhnliches ist, aber in dieser Weise, keinerweise etwas Ungewöhnliches zu sein, doch nicht so leicht seinesgleichen hat!»
Walter hatte sich noch nicht wieder hingesetzt. Unruhe war in ihm. Triumph. Er rief aus: «Weißt du, was du da sagst? Fortwursteln! Du bist einfach ein Österreicher. Du lehrst die österreichische Staatsphilosophie des Fortwurstelns!»
«Das ist vielleicht nicht so übel, wie du denkst» gab Ulrich zur Antwort. «Man kann aus einem leidenschaftlichen Bedürfnis nach Schärfe und Genauigkeit oder Schönheit dahin kommen, daß einem Fortwursteln besser gefällt als alle Anstrengungen in neuem Geiste! Ich wünsche dir dazu Glück, daß du Österreichs Weltsendung entdeckt hast.»
Walter wollte erwidern. Aber es zeigte sich, daß das Gefühl, das ihn in die Höhe getrieben hatte, nicht nur Triumph war, sondern – wie sagt man es? – auch der Wunsch, einen Augenblick hinauszugehen. Er schwankte zwischen den zwei Wünschen. Aber beides ließ sich nicht vereinen, und sein Blick glitt von Ulrichs Augen ab auf den Weg zur Türe.
Als sie allein waren, sagte Clarisse: «Dieser Mörder ist musikalisch. Das heißt –» sie hielt ein, dann fuhr sie geheimnisvoll fort: «Man kann gar nichts sagen, aber du mußt etwas für ihn tun.»
«Was soll ich denn tun?»
«Ihn befrein.»
«Du träumst wohl?»
«Du meinst doch alles gar nicht so, wie du es zu Walter sagst?!» fragte Clarisse, und ihre Augen schienen ihn zu einer Antwort zu drängen, deren Inhalt er nicht erraten konnte.
«Ich weiß nicht, was du willst?» sagte er.
Clarisse sah ihm eigensinnig auf die Lippen; dann wiederholte sie: «Du solltest trotzdem das tun, was ich gesagt habe; du würdest verwandelt werden.»
Ulrich betrachtete sie. Er begriff nicht recht. Er mußte etwas überhört haben; einen Vergleich oder irgendein Wiewenn, das ihrer Rede Sinn gab. Es klang sehr sonderbar, sie ohne diesen Sinn so natürlich sprechen zu hören, als handelte es sich um eine gewöhnliche Erfahrung, die sie gemacht habe.
Aber da kehrte Walter zurück. «Ich kann dir ja zugeben –» begann er. Die Unterbrechung hatte das Gespräch entschärft.
Er saß wieder auf seinem Stühlchen am Klavier und sah befriedigt seine Schuhe an, an denen Erde haftete. Er dachte: «Warum haftet an Ulrichs Schuh keine Erde? Sie ist die letzte Rettung des europäischen Menschen.»
Ulrich aber sah die Beine über Walters Schuhen an; sie staken in schwarzen Strümpfen aus Baumwolle und hatten die unschöne Form weicher Mädchenbeine. «Man muß es schätzen, wenn ein Mann heute noch das Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein» sagte Walter.
«Das gibt es nicht mehr» meinte Ulrich. «Du brauchst bloß in eine Zeitung hineinzusehen. Sie ist von einer unermeßlichen Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so viel Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal; man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit.»
«Sehr richtig» sagte Walter sofort. «Es gibt eben keine ganze Bildung