Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil

Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil


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um ihn zu messen. Man hatte ihn mit einer stinkenden Schmierseife abgerieben, unter dem Vorwand einer Desinfektion. Er war ein alter Reisender, er wußte, daß nichts von alledem erlaubt war, aber hinter dem Eisentor ist es nicht einfach, in Ehren zu bestehn. Sie machten mit ihm, was sie wollten. Er ließ sich dem Gefangenhausleiter vorführen und beschwerte sich. Der Vorstand mußte zugeben, daß einiges nicht der Vorschrift entspreche, aber es sei keine Strafe, sagte er, sondern Vorsicht. Moosbrugger beklagte sich bei dem Anstaltsgeistlichen; aber der war ein guter Greis, dessen freundliche Seelsorge die veraltete Schwäche hatte, daß sie vor Sexualverbrechen versagte. Er verabscheute sie mit dem Unverständnis eines Körpers, der nicht einmal ihren Rand gestreift hat, und erschrak sogar darüber, daß Moosbrugger mit seinem ehrlichen Aussehen die Schwäche des persönlichen Mitleids in ihm erregte; er wies ihn an den Anstaltsarzt, während er selbst, wie in allen solchen Fällen, nur eine große Bitte zum Schöpfer sandte, die auf keine Einzelheiten einging und so allgemein von Verwirrungen des Irdischen sprach, daß im Augenblick des Gebets Moosbrugger ebenso inbegriffen war wie die Freidenker und Atheisten. Der Gefängnisarzt aber meinte zu Moosbrugger, alles, worüber er sich beklage, sei doch gar nicht so schlimm, gab ihm einen behaglichen Klaps und ließ sich durch nichts bewegen, auf seine Beschwerden einzugehn, denn wenn Moosbrugger recht verstand, sei das überflüssig, solang die Frage, ob er krank sei oder simuliere, keine Antwort durch die Fakultät gefunden habe. Ergrimmt ahnte Moosbrugger, daß jeder von denen sprach, wie es ihm paßte, und daß es dieses Sprechen war, was ihnen die Kraft gab, mit ihm umzugehn, wie sie wollten. Er hatte das Gefühl einfacher Leute, daß man den Gebildeten die Zunge abschneiden sollte. Er blickte in das Doktorsgesicht mit den Schmissen, in das von innen ausgetrocknete geistliche Gesicht, in das streng aufgeräumte Kanzleigesicht des Verwalters, sah jedes in einer anderen Weise in das seine schaun, und etwas für ihn Unerreichbares, aber ihnen Gemeinsames lag in diesen Gesichtern, das lebenslang sein Feind gewesen war.

      Die zusammenziehende Kraft, die draußen jeden Menschen mit seinem Eigendünkel mühsam zwischen all das andere Fleisch preßt, war unter dem Dach des Straf hauses, trotz aller Disziplin um ein weniges schlaffer, wo alles auf Warten lebte und die lebendige Beziehung der Menschen zueinander, selbst wenn sie grob und heftig war, von einem Schatten der Unwirklichkeitausgehöhlt wurde. Moosbrugger reagierte auf die Entspannung nach dem Kampf der Verhandlungen mit dem gesamten starken Körper. Er kam sich vor wie ein lockerer Zahn. Die Haut juckte ihn. Er fühlte sich angesteckt und elend. Es war eine wehleidige, zart nervöse Überempfindlichkeit, wie sie ihn manchmal befiel; die Frau, die unter der Erde lag und ihm das eingebrockt hatte, erschien ihm als ein derbes böses Weibsstück gegenüber einem Kind, wenn er sie mit sich verglich. Trotzdem war Moosbrugger im ganzen nicht unzufrieden; er konnte an vielem bemerken, daß er hier eine wichtige Person sei, und das schmeichelte ihm. Sogar die Fürsorge, die allen Sträflingen unterschiedslos zuteil wurde, bereitete ihm Genugtuung. Der Staat mußte sie nähren, baden, kleiden und sich um ihre Arbeit, Gesundheit, ihre Bücher und ihren Gesang kümmern, seit sie sich etwas hatten zuschulden kommen lassen, während er das vordem niemals getan hatte. Moosbrugger genoß diese Achtsamkeit, wenn sie auch streng war, wie ein Kind, dem es gelungen ist, seine Mutter zu zwingen, sich zornig mit ihm zu beschäftigen; aber er wünschtenicht, daß sie lange dauere; die Vorstellung, daß er zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt oder wieder einer Irrenanstalt übergeben werden könnte, erregte jenen Widerstand in ihm, den wir fühlen, wenn uns alle Anstrengungen, unserem Leben zu entkommen, immer wieder in die gleichen, verhaßten Lebenslagen zurückführen. Er wußte, daß sein Verteidiger sich um die Wiederaufnahme des Verfahrens bemühte und daß er noch einmal untersucht werden sollte, aber er nahm sich vor, rechtzeitig dagegen aufzutreten und darauf zu bestehen, daß man ihn töte.

      Daß sein Abschied seiner würdig sein müsse, stand für ihn fest, denn sein Leben war ein Kampf um sein Recht gewesen. In der Einzelzelle dachte Moosbrugger darüber nach, was sein Recht sei. Das konnte er nicht sagen. Aber es war das, was man ihm sein Leben lang vorenthalten hatte. In dem Augenblick, wo er daran dachte, schwoll sein Gefühl an. Seine Zunge wölbte sich und setzte zu einer Bewegung an wie ein Hengst im spanischen Schritt; so vornehm wollte sie es betonen. «Recht,» dachte er außerordentlich langsam, um diesen Begriff zu bestimmen, und dachte so, als ob er mit jemand spräche, «das ist, wenn man nicht unrecht tut oder so, nicht wahr?» – und plötzlich fiel ihm ein: «Recht ist Jus.» So war es; sein Recht war sein Jus! Er sah sein Holzlager an, um sich darauf zu setzen, drehte sich umständlich um, rückte vergebens an der am Boden festgeschraubten Pritsche und ließ sich zögernd nieder. Sein Jus hatte man ihm vorenthalten! Er erinnerte sich an die Meisterin, die er mit sechzehn Jahren hatte. Er hatte geträumt, daß ihn etwas Kaltes am Bauch anblase, dann war es in seinem Leib verschwunden, er hatte geschrien, war aus dem Bett gefallen, und am nächsten Morgen hatte er sich am ganzen Körper zerschlagen gefühlt. Nun hatten ihm aber andere Lehrburschen einmal gesagt, wenn man einer Frau die Faust so zeige, daß der Daumen zwischen dem Mittelund dem Zeigefinger ein wenig hervorschaut, so könne sie nicht wiederstehn. Es war ihm wirr zumut; sie wollten es alle schon erprobt haben, aber wenn er daran dachte, so ging der Boden unter den Füßen fort oder sein Kopf fing an, anders am Hals zu sitzen, als er es gewohnt war, kurz es ging etwas mit ihm vor, das um Haaresbreite von der natürlichen Ordnung abrückte und nicht ganz sicher war. «Meisterin,» sagte er «ich möchte Ihnen etwas Liebes tun...» Sie waren allein, da sah sie ihm in die Augen, mußte darin etwas gelesen haben und erwiderte: «Scher dich nur aus der Küche!» Darauf hielt er ihr die Faust mit dem hindurchgesteckten Daumen entgegen. Der Zauber wirkte aber nur halb; die Meisterin wurde blutrot und schlug ihn so schnell, daß er nicht davonkommen konnte, mit dem Holzlöffel, den sie in der Hand hielt, über das Gesicht; er begriff es erst, als ihm das Blut über die Lippen zu rinnen begann. Aber an diesen Augenblick erinnerte er sich nun genau, denn das Blut kehrte mit einemmal um* floß aufwärts und stieg über die Augen hinaus; er stürzte sich auf das mächtige Frauenzimmer, das ihn so schändlich beleidigt hatte, der Meister kam herbei, und was von da an geschah, bis zu dem Augenblick, wo er mit wankenden Beinen auf der Straße stand und seine Sachen ihm nachgeworfen würden, war, als ob man ein großes rotes Tuch in Fetzen risse. So hatte man sein Jus verhöhnt und geschlagen, und er begann wieder zu wandern. Findet man das Jus auf der Straße?! Alle Weiber waren schon das Jus von irgendwem, und alle Äpfel und Schlafstätten; und die Gendarmen und Bezirksrichter waren schlimmer als die Hunde.

      Aber was das eigentlich war, woran ihn die Leute immer zu packen bekämen und weshalb sie ihn in die Gefängnisse und Irrenanstalten warfen, das konnte Moosbrugger niemals recht herauskriegen. Er stierte lange zu Boden und angestrengt in die Ecken seiner Zelle; ihm war zumute wie jemand, dem ein Schlüssel auf die Erde gefallen ist. Aber er konnte ihn nicht finden; der Boden und die Ecken wurden wieder taghell grau und nüchtern, nachdem sie soeben noch wie ein Traumboden gewesen waren, wo plötzlich ein Ding oder ein Mensch aufwächst, wenn ein Wort hinfällt. Moosbrugger nahm seine ganze Logik zusammen. Genau zu erinnern vermochte er sich nur an alle Orte, wo das begann. Er hätte sie aufzuzählen und zu beschreiben vermögen. Einmal war es in Linz und ein andermal in Braila gewesen. Jahre lagen dazwischen. Und zuletzt hier in der Stadt. Er sah jeden Stein vor sich. So deutlich, wie Steine es gewöhnlich gar nicht sind. Er erinnerte sich auch an die schlechte Laune, die das jedesmal begleitete. Als ob er Gift statt Blut in den Adern hätte, konnte man sagen, oder so ähnlich. Er arbeitete zum Beispiel im Freien, und Frauen gingen vorbei; er mochte sie nicht ansehen, weil sie ihn störten, aber immerzu gingen neue vorbei; da folgten ihnen dann schließlich seine Augen mit Abscheu, und das war wieder so, dieses langsame Hin- und Herdrehen der Augen, wie wenn sie innen in Pech oder erstarrendem Zement rühren würden. Dann merkte er, daß sein Denken anfing schwer zu werden. Er dachte ohnehin langsam, die Worte bereiteten ihm Mühe, er hatte nie genug Worte, und zuweilen, wenn er mit jemand sprach, kam es vor, daß der ihn plötzlich erstaunt ansah und nicht begriff, wieviel ein einzelnes Wort sagte, wenn Moosbrugger es langsam hervorbrachte. Er beneidete alle Menschen, die schon in der Jugend gelernt hatten, leicht zu sprechen; ihm klebten die Worte zu Trotz gerade in den Zeiten, wo er sie am dringendsten brauchte, wie Gummi am Gaumen fest, und es verging dann manchmal eine unermeßliche Weile, ehe er eine Silbe losriß und wieder vorwärtskam. Die Erklärung war nicht abzuweisen, daß das schon keine natürliche Ursache mehr habe. Wenn er aber bei Gericht sagte, es seien die Freimaurer oder die Jesuiten oder die Sozialisten, die ihn auf diese Weise verfolgten, so verstand ihn kein Mensch. Die Juristen konnten zwar besser reden als er und hielten ihm alles


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