Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi. Mari Jungstedt

Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi - Mari  Jungstedt


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ihren schmächtigen Körper im Profil. Ihre Schultern hingen herunter; wenn sie den Rücken geradehielt, ragten ihre Brüste hervor und waren noch deutlicher zu sehen. Deshalb hielt sie sich immer leicht gebückt. Sie war früh entwickelt. Hatte schon in der vierten Klasse einen Busen bekommen. Anfangs hatte sie sich alle Mühe gegeben, ihn zu verbergen. Weite Pullover waren eine gute Hilfe gewesen.

      Am schlimmsten war es beim Sport. Trotz Sport-BH, der die Brüste flach drückte, waren sie beim Laufen und Springen doch zu sehen. Fanny fand die Veränderung ihres Körpers schrecklich. Warum entwickelte der sich so widerlich, nur weil er erwachsen wurde? Die Haare in den Achselhöhlen rasierte sie weg, sowie auch nur millimeterlange Stoppeln zu sehen waren. Aber noch viel schlimmer war ihr Unterleib. Das Blut, das jeden Monat ihre Unterhosen und die Bettwäsche besudelte, wenn sie nachts zu stark menstruierte. Sie verabscheute ihren Körper.

      Zudem machte ihre Hautfarbe die Sache nicht besser. Sie wollte aussehen wie alle anderen. In ihre Klasse gingen drei Kinder mit dunklem Teint. Die beiden anderen waren Zwillinge, die immerhin einander hatten. Zwei Jungen aus Brasilien, von schwedischen Eltern adoptiert und die besten Fußballspieler der Schule. Sie galten als aggressiv und unschlagbar, denn sie sahen aus wie Real Madrids Roberto Carlos. Für sie war ihre Hautfarbe ein Pluspunkt. Fanny dagegen wollte nicht auffallen.

      Sie sehnte sich danach, einer Clique anzugehören, so wie alle anderen. Leute zu haben, denen sie sich anvertrauen konnte. In der Schule achtete niemand mehr richtig auf sie. Sie ging allein dort hin und allein nach Hause zurück. Ihr war klar, dass es ihre eigene Schuld war. Als sie nach der Grundschule in die siebte Klasse gekommen waren, hatten die anderen sie manchmal eingeladen, nach dem Unterricht gemeinsam etwas zu unternehmen. Fanny lehnte immer ab. Nicht, weil sie nicht mit den anderen zusammen sein wollte, sondern, weil sie in aller Eile einkaufen und daheim so viel erledigen musste. Eine Freundin mit nach Hause zu nehmen, daran war nicht zu denken. Das Risiko, vor einer unaufgeräumten, zugeräucherten Wohnung mit heruntergelassenen Rollos zu stehen, in der nicht einmal der Frühstückstisch abgeräumt war, erschien Fanny zu groß. Sie wollte nicht auf eine deprimierte Mutter mit einer Zigarette im Mundwinkel und einem Weinglas in der Hand stoßen. Nein, danke, das wollte sie weder sich noch irgendeiner Freundin zumuten. Es würde sonst nur Gerede geben und schrecklich peinlich sein. Das brauchte Fanny nun wirklich nicht auch noch.

      Deshalb blieb sie allein. Die anderen verloren schließlich die Lust, sie einzuladen, und am Ende machten sie sich nicht einmal mehr die Mühe, mit ihr zu reden. Fanny schien überhaupt nicht mehr zu existieren.

Sonntag, 18. November

      Der Hagel, der auf das Blechdach seines Hauses prasselte, das einen Steinwurf vor Visbys Stadtmauer lag, weckte Kriminalhauptkommissar Anders Knutas.

      Er stieg aus dem Bett und schauderte zusammen, als seine Füße den kühlen Boden berührten. Müde streckte er die Hand nach seinem Bademantel aus und zog die Rollos hoch. Überrascht starrte er aus dem Fenster, Hagel im November kam nun doch recht selten vor. Der Garten erinnerte ihn an eine Szene aus einem alten Schwarzweißfilm von Bergman. Die Bäume standen mit kahlen Ästen da, die sie traurig in den stahlgrauen Himmel streckten. Die Wolken zogen vorüber, eine bedrohlicher als die andere. Die Asphaltstraße des Wohnviertels sah feucht und kalt aus. Ein Stück weiter schob eine Frau in einem dunkelblauen Mantel einen Kinderwagen über die Straße. Sie hatte den Kopf eingezogen, um sich vor dem Wind und den scharfen Hagelkörnern zu schützen. Zwei zerzauste Spatzen drückten sich unter den Johannisbeersträuchern aneinander, deren magere Zweige ihnen aber nur wenig Schutz bieten konnten.

      Warum muss man überhaupt aufstehen?, überlegte Knutas und kroch noch einmal unter die warme Decke. Line hatte ihm den Rücken zugedreht und schien noch immer zu schlafen. Er schmiegte sich an sie und küsste ihren Nacken.

      Der Gedanke an ein Sonntagsfrühstück mit heißen Scones und Kaffee lockte sie endlich aus den Federn. Das Lokalradio brachte ein Wunschkonzert, und am Fenster saß die Katze und versuchte, die Regentropfen auf der anderen Seite der Fensterscheibe einzufangen. Erst viel später kamen die Kinder in die Küche getrottet, noch immer in Schlafanzug und Nachthemd. Petra und Nils waren Zwillinge und hatten kürzlich ihren zwölften Geburtstag gefeiert. Sie hatten Lines Sommersprossen und ihre roten Locken geerbt, dazu die schlaksige Gestalt ihres Vaters. Das gleiche Aussehen, aber ganz unterschiedliche Charaktere. Petra hatte die Gelassenheit ihres Vaters, sie liebte Angeln, alles, was sie unter freiem Himmel machen konnte, und Golf. Nils war von feurigem Temperament, er lachte polternd, spielte immer wieder den Clown und war versessen auf Film und Musik, genau wie Line.

      Knutas warf einen Blick auf das vor dem Fenster angebrachte Thermometer. Zwei Grad über Null. Mit einer gewissen Düsterheit stellte er fest, dass sein Lieblingsmonat, der goldene Oktober, längst verstrichen war. Mit seiner scharfen, klaren Luft, dem bunten, purpurroten und ockergelben Laub an den Bäumen, dem Duft von Äpfeln und Erde. Leuchtende Vogelbeeren und der Wald voller Pfifferlinge. Blauer Himmel. Nicht zu warm und nicht zu kalt.

      Jetzt war der Oktober dem grauen, nebligen November gewichen. Die Sonne ging um kurz nach sieben auf und noch vor vier wieder unter. Die Tage würden von nun an und bis Weihnachten immer kürzer werden.

      Kein Wunder, dass viele um diese Jahreszeit unter Depressionen litten. Alle, die draußen zu tun hatten, versuchten, so rasch wie möglich wieder ins Warme zu kommen. Die Leute zogen in Wind und Regen die Köpfe ein und mochten sie nicht einmal heben, um einander anzusehen. Wir müssten Winterschlaf halten wie die Bären, dachte Knutas. Dieser Monat ist eine unerfreuliche Übergangsphase, mehr nicht.

      Der Sommer schien lange her zu sein. Im Sommer sah die Insel ganz anders aus. Jedes Jahr fielen dann hunderttausende von Touristen in Gotland ein, die die ganz besondere Natur, die Sandstrände und die mittelalterliche Stadt Visby genießen wollten. Horden von Jugendlichen strömten in die Stadt, um in den vielen Kneipen zu feiern. Die Drogen- und Alkoholprobleme nahmen gewaltig zu.

      Aber der vergangene Sommer hatte das alles noch übertroffen. Ein Serienmörder hatte die Insel terrorisiert und Feriengäste wie Einheimische in Angst und Schrecken versetzt. Die Polizei hatte unter starkem Druck arbeiten müssen, und die geballte Aufmerksamkeit der Medien war noch erschwerend hinzugekommen.

      Am Ende hatte Knutas sich als Versager gefühlt, weil alles so gelaufen war, wie es eben gelaufen war. Er zerbrach sich den Kopf darüber, warum die Polizei die Verbindungen zwischen den Opfern nicht früher erkannt hatte und warum mehrere junge Frauen deshalb ihr Leben verlieren mussten.

      Nachdem er mit seiner Familie fünf Wochen Urlaub gemacht hatte, nahm er seinen Dienst wieder auf. Doch erholt fühlte er sich nicht.

      Der Herbst war ereignislos verlaufen, und das kam Knutas überaus gelegen.

      Er stand inzwischen sicher schon fünf Minuten vor der Tür und drückte immer wieder auf die Klingel. So verdammt tief konnte Blitz doch wohl nicht schlafen? Jetzt nahm er den Finger überhaupt nicht mehr von dem blanken Knopf, aber aus der Wohnung war nichts zu hören.

      Er bückte sich mit einer gewissen Mühe und rief durch den Briefschlitz: »Blitz! Blitz! Aufmachen, zum Teufel!«

      Seufzend lehnte er sich an die Tür und steckte sich eine Zigarette an, obwohl er wusste, dass die Nachbarin darüber meckern würde, wenn sie zufällig vorbeikäme.

      Es war fast eine Woche her, dass er Blitz beim Östercentrum getroffen hatte, und seither hatte der sich nicht mehr blicken lassen. Was ihm überhaupt nicht ähnlich sah. Sie hätten sich auf jeden Fall bei der Bushaltestelle oder vor dem Supermarkt über den Weg laufen müssen.

      Er zog ein letztes Mal an der Zigarette und klingelte bei der Nachbarin.

      »Wer ist da?«, fragte eine piepsige Stimme.

      »Ich bin ein Kumpel von Blitz ... von Herrn Dahlström von nebenan. Ich hätte da mal eine Frage.«

      Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und die Oma lugte über eine dicke Sicherheitskette.

      »Was ist los?«

      »Haben Sie Henry in letzter Zeit gesehen?«

      »Ist etwas passiert?«

      Ein neugieriges Funkeln trat in


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