Ungeduld des Herzens. Stefan Zweig
mein pures Ungeschick endete und meine eigene Schuld begann. Vermutlich werde ich es niemals wissen.
Ich war damals fünfundzwanzig Jahre alt und aktiver Leutnant bei den x . . . er Ulanen. Daß ich jemals sonderliche Passion oder innere Berufung für den Offiziersstand empfunden hätte, darf ich nicht behaupten. Aber wenn in einer altösterreichischen Beamtenfamilie zwei Mädel und vier immer hungrige Buben um einen schmalgedeckten Tisch sitzen, so fragt man nicht lange nach ihren Neigungen, sondern schiebt sie frühzeitig in den Backofen des Berufs, damit sie den Hausstand nicht allzulange belasten. Meinen Bruder Ulrich, der sich schon in der Volksschule die Augen mit vielem Lernen verdarb, steckte man ins Priesterseminar, mich dirigierte man um meiner festen Knochen willen in die Militärschule: von dort aus spult sich der Lebensfaden mechanisch fort, man braucht ihn nicht weiter zu ölen. Der Staat sorgt für alles. In wenigen Jahren schneidert er kostenlos, nach vorgezeichnetem ärarischem Muster, aus einem halbwüchsigen, blassen Buben einen flaumbärtigen Fähnrich und liefert ihn gebrauchsfertig an die Armee. Eines Tages, zu Kaisers Geburtstag, noch nicht achtzehn Jahre alt, war ich ausgemustert und kurz darauf mir der erste Stern an den Kragen gesprungen; damit war die erste Etappe erreicht, und nun konnte der Turnus des Avancements in gebührenden Pausen mechanisch sich weiterhaspeln bis zur Pensionierung und Gicht. Auch just bei der Kavallerie, dieser leider recht kostspieligen Truppe, zu dienen, war keineswegs mein persönlicher Wunsch gewesen, sondern die Marotte meiner Tante Daisy, die den. älteren Bruder meines Vaters in zweiter Ehe geheiratet hatte, als er vom Finanzministerium zu einer einträglicheren Bankpräsidentschaft übergegangen war. Reich und snobistisch zugleich, wollte sie es nicht dulden, daß irgend einer aus der Verwandtschaft, der gleichfalls Hofmiller hieß, die Familie »verschandeln« sollte, indem er bei der Infanterie diente; und da sie sich diese Marotte hundert Kronen Zuschuß im Monat kosten ließ, mußte ich bei allen Gelegenheiten vor ihr noch submissest dankbar tun. Ob es mir selber zusagte, bei der Kavallerie oder überhaupt aktiv zu dienen, darüber hatte nie jemand nachgedacht, ich selber am wenigsten. Saß ich im Sattel, dann war mir wohl, und ich dachte nicht weit über den Pferdehals hinaus.
In jenem November 1913 muß irgend ein Erlaß aus einer Kanzlei in die andere hinübergerutscht sein, denn surr – auf einmal war unsere Eskadron aus Jaroslau in eine andere kleine Garnison an der ungarischen Grenze versetzt worden. Es ist gleichgültig, ob ich das Städtchen beim richtigen Namen nenne oder nicht, denn zwei Uniformknöpfe am selben Rock können einander nicht ähnlicher sein als eine österreichische Provinzgarnison der andern. Da und dort dieselben ärarischen Ubikationen: eine Kaserne, ein Reitplatz, ein Exerzierplatz, ein Offizierskasino, dazu drei Hotels, zwei Kaffeehäuser, eine Konditorei, eine Weinstube, ein schäbiges Variété mit abgetakelten Soubretten, die sich im Nebenamt liebevollst zwischen Offizieren und Einjährigen aufteilen. Überall bedeutet Komißdienst dieselbe geschäftig leere Monotonie, Stunde für Stunde eingeteilt nach dem stahlstarren, jahrhundertealten Reglement, und auch die Freizeit sieht nicht viel abwechslungsreicher aus. In der Offiziersmesse dieselben Gesichter, dieselben Gespräche, im Kaffeehaus dieselben Kartenpartien und das gleiche Billard. Manchmal wundert man sich, daß es dem lieben Gott beliebt, wenigstens einen anderen Himmel und eine andere Landschaft um die sechs- oder achthundert Dächer eines solchen Städtchens zu stellen.
Einen Vorteil allerdings bot meine neue Garnison gegenüber der früheren galizischen: sie war Schnellzugsstation und lag einerseits nahe bei Wien, anderseits nicht allzuweit von Budapest. Wer Geld hatte – und bei der Kavallerie dienen immer allerhand reiche Burschen, nicht zuletzt auch die Freiwilligen, teils Hochadel, teils Fabrikantensöhne – der konnte, wenn er rechtzeitig abpaschte, mit dem Fünfuhrzug nach Wien fahren und mit dem Nachtzug um halb drei Uhr wieder zurück sein, Zeit genug also, um ins Theater zu gehen, auf der Ringstraße zu bummeln, den Kavalier zu spielen und sich gelegentliche Abenteuer zu suchen; einige der Beneidetsten hielten sich dort sogar eine ständige Wohnung oder ein Absteigequartier. Leider lagen derlei auffrischende Eskapaden jenseits meines Monatsetats. Als Unterhaltung blieb einzig das Kaffeehaus oder die Konditorei, und dort verlegte ich mich, da mir die Kartenpartien meist zu hoch ins Geld gingen, auf das Billard oder spielte das noch billigere Schach.
So saß ich auch diesmal eines Nachmittags, es muß Mitte Mai 1914 gewesen sein, mit einem gelegentlichen Partner, dem Apotheker zum Goldenen Engel, der gleichzeitig Vizebürgermeister unseres Garnisonsstädtchens war, in der Konditorei. Wir hatten unsere üblichen drei Partien längst zu Ende gespielt, und man redete nur aus Trägheit, sich aufzurappeln – wohin denn in diesem langweiligen Nest? – noch so hin und her, aber das Gespräch qualmte schon schläfrig wie eine abgebrannte Zigarette. Da geht mit einem Mal die Tür auf, und ein wehender Glockenrock schwingt mit einem Büschel frischer Luft ein hübsches Mädel herein: braune, mandelförmige Augen, dunkler Teint, famos gekleidet, gar nicht Provinz, und vor allem ein neues Gesicht in diesem gottsjämmerlichen Einerlei. Leider schenkt die smarte Nymphe uns respektvoll Aufstaunenden keinen Blick; scharf und rassig, mit sportlich festem Schritt quert sie an den neun kleinen Marmortischchen des. Lokals vorbei geradewegs auf das Verkaufspult zu, um dort gleich en gros ein ganzes Dutzend Kuchen, Torten und Schnäpse zu bestellen. Mir fällt sofort auf, wie devotissime sich der Herr Kuchenbäcker vor ihr verneigt – nie habe ich die Rückennaht seines Schwalbenrockes so straff hinabgespannt gesehen. Sogar seine Frau, die üppig-grobschlächtige Provinzvenus, die sich sonst von allen Offizieren nachlässigst hofieren läßt (oft bleibt man ja bis Monatsende allerhand Kleinigkeiten schuldig), erhebt sich von ihrem Sitz an der Kasse und zergeht beinahe in pflaumenweicher Höflichkeit. Das hübsche Mädel knabbert, während der Herr Kuchenbäcker die Bestellung ins Kundenbuch notiert, achtlos ein paar Pralinés an und macht ein bißchen Konversation mit Frau Großmaier; für uns aber, die wir vielleicht ungebührlich eifrig die Hälse recken, fällt nicht einmal ein Augenblink ab. Natürlich beschwert sich die junge Dame nicht mit einem einzigen Päckchen die hübsche Hand; es wird ihr alles, wie Frau Großmaier submissest versichert, zuverlässig geschickt. Und sie denkt auch nicht im mindesten daran, wie wir gewöhnlichen Sterblichen an der stählernen Automatenkasse bar zu bezahlen. Sofort wissen wir alle: extrafeine, vornehme Kundschaft!
Wie sie sich jetzt nach erledigter Bestellung zum Gehen wendet, springt Herr Großmaier hastig vor, um ihr die Tür zu öffnen. Auch mein Herr Apotheker erhebt sich von seinem Sitze, um sich von der Vorbeischwebenden respektvollst zu empfehlen. Sie dankt mit souveräner Freundlichkeit – Donnerwetter, Was für samtene, rehbraune Augen! – und ich kann kaum erwarten, bis sie, überzuckert von vielen Komplimenten, den Laden verlassen hat, um neugierigst meinen Partner nach diesem Hecht im Karpfenteich zu fragen.
»Ach, die kennen Sie nicht? Das ist doch die Nichte von . . .« – nun, ich werde ihn Herrn von Kekesfalva nennen, der Name lautete in Wirklichkeit anders – »Kekesfalva – Sie kennen doch die Kekesfalvas?«
Kekesfalva: wie eine Tausendkronennote wirft er den Namen hin und blickt mich an, als erwarte er als selbstverständliches Echo ein ehrfurchtsvolles »Ach so! Natürlich!« Aber ich frisch transferierter Leutnant, gerade erst vor ein paar Monaten in die neue Garnison geschneit, ich Ahnungsloser Weiß nichts von diesem sehr geheimnisvollen Gott und bitte höflichst um weitere Erläuterung, die mir der Herr Apotheker auch mit dem ganzen Wohlbehagen provinziellen Stolzes erteilt – selbstredend viel geschwätziger und ausführlicher, als ich sie hier wiedergebe.
Kekesfalva, erklärt er mir, sei der reichste Mann im ganzen Umkreis. Einfach alles gehöre ihm, nicht nur das Schloß Kekesfalva – »Sie müssen’s doch kennen, man sieht’s vom Exerzierplatz aus, links von der Chaussee das gelbe Schloß mit dem flachen Turm und dem großen, alten Park« – sondern auch die große Zuckerfabrik an der Straße nach R. und das Sägewerk in Bruck und dann in M. das Gestüt; all das gehöre ihm und dazu sechs oder sieben Häuser in Budapest und Wien. »Ja, das möchte man nicht glauben, daß es bei uns solche steinreiche Leute gibt, und zu leben weiß der wie ein richtiger Magnat Im Winter im kleinen Wiener Palais in der Jacquingasse, den Sommer in Kurorten; hier führt er grade nur im Frühjahr ein paar Monate Haus, aber, Herrgott noch einmal, was für ein Haus! Quartette aus Wien, Champagner und französische Weine, das Erste vom Ersten, das Beste vom Besten!« Nun, wenn er mir damit gefällig sein könne, werde er mich gerne dort einführen, denn – große Geste der Genugtuung – er sei mit Herrn von Kekesfalva befreundet, habe in früheren Jahren oft geschäftlich mit ihm zu tun gehabt und wisse, daß er Offiziere immer gern bei sich sehe; nur