Die wilden Jahre. Will Berthold

Die wilden Jahre - Will Berthold


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sich von den meisten, weil er schon ohne Begeisterung in den Krieg gezogen war. Er leistete keinen Widerstand gegen den Wahnwitz der Zeit, er verachtete ihn bloß, und zwar zunächst aus persönlichem Grund: das braune System war ihm so zuwider wie sein Vater, dessen Gefolgsmann.

      Schon dem jungen Martin war der alte, stets polternde Mann fremd geworden, der ihm dann später noch die Mutter nahm; sie konnte für den Heranwachsenden nicht viel mehr sein als die hübsche flockige Wolke der Erinnerung an eine schmale sensible Frau, die ihn an sich gezogen und mon petit filou genannt hatte.

      Als Martin befehlsmäßig auf die Landsleute seiner Mutter Germaine, einer Französin, zu schießen hatte, war die Ehe seiner Eltern durch Schuld des Vaters längst geschieden, und die Mutter, an der der Junge in einer romantischen, unwirklichen Weise hing, bestand für ihn nur aus der Ahnung einiger sonniger Ferientage in Südfrankreich, die er auch nicht vergessen konnte, als ihn der Drill für den Krieg schliff.

      Er hatte die Kriegsschule durchlaufen, war an die Front gekommen, Offizier geworden. Er erwies sich als ein guter Soldat, nicht, weil er kräftiger und mutiger war als viele andere, sondern weil er seinen Vater nicht mochte und keine Mutter hatte.

      Es war der 7. September 1943, sieben Monate nach Stalingrad. Die Einheit Ritt hatte vordere Kampfstellung bezogen. Um zehn Uhr morgens hing der russische Himmel über den Männern wie ein Stück Blei, das sie gleich zerschmettern mußte.

      Die linke Nachbareinheit hatte führerlos die Stellung verlassen, um der russischen Übermacht zu entlaufen, die Stunden später über sie hinweggewalzt wäre. Damit war die Fühlung nach Norden abgerissen und das Bataillon ohne Flankenschutz.

      Die Männer wurden unruhig, sahen ihren Kommandeur fragend an, aber sie folgten ihm immer wieder stumm. Keiner würde ohne Ritt nach hinten gehen. Der junge Offizier verwünschte seine Soldaten, weil sie nicht ebenso handelten wie die Männer der Nachbareinheit und einfach davonliefen.

      Der Wind riß die Wolken auseinander. Durch einen schmalen Schlitz schien matte Sonne, einer frischen Wunde ähnlich, die noch blutete; in diesem Monat war sie am russischen Himmel so selten wie die deutschen Flugzeuge.

      Die Kompanieführer meldeten, daß die Stellung ausgebaut sei; der Hauptmann betrachtete angewidert das Grabensystem. Er ließ die Schultern durchhängen und winkte verdrossen ab: Weder hatte er den Krieg erfunden, noch konnte er ihn ändern. Ein paar Leichtverwundete schickte er nach hinten; sie schlichen davon wie Deserteure.

      Gegen Mittag braute sich nordostwärts das Ende des aufgeriebenen Bataillons zusammen. Russische Panzer waren zu hören, die ihnen folgenden Infanteristen schon mit bloßem Auge zu sehen. Dann sikkerten Meldungen durch, daß die Russen auch im Westabschnitt die deutschen Linien überrollt hatten.

      »Gleich gibt’s Kattun«, sagte Hauptmann Ritt, als gleichzeitig links und rechts der Kampflärm anschwoll. »Wer will, kann beten, rauchen oder austreten.« Er lachte dem Küken seiner Einheit, dem achtzehnjährigen Richtkanonier Traube, zu.

      »Wie fühlen Sie sich?« fragte er.

      »Prima, Herr Hauptmann«, antwortete Traube und schluckte.

      Der Hauptmann spuckte aus und fragte, auf die russische Beute-Pak weisend: »Wie viele Granaten haben wir noch, Traube?«

      »Vierundzwanzig«, meldete der Achtzehnjährige beflissen.

      Vierundzwanzig Schuß und zweihundert T 34, rechnete Ritt rasch, vielleicht bloß hundert oder bloß achtzig.

      Schon fünfzehn oder zwanzig der im Norden immer lauter rumorenden Stahlkästen würden genügen, um hundertachtundzwanzig vergessene Soldaten jetzt in den Tod zu stampfen.

      Endlich kamen die Russen.

      Hauptmann Ritt lag in seinem Loch und sah ihnen entgegen. Sie kamen mit Panzern, und das machte das Ende leichter, weil schneller. Langsam krochen sie näher, schwarze Schatten zunächst, dann unförmige Käfer. Vier, sieben, zwölf, siebzehn – so viele, daß Ritt es aufgab, sie zu zählen.

      Er sah nach der Beute-Pak und nickte.

      Die Männer gehorchten wie Roboter, richteten ihr Geschütz auf den vordersten T 34 ein; ihre Hände blieben ruhig, ihre Bewegungen sicher. Ihre Gesichter waren wie von Haß verzerrt; Haß nicht so sehr auf den Feind, der jetzt ihr Leben zertrat, bevor es noch recht begonnen hatte, Haß auf die Zeit, der man dieses zerschundene, beschissene Dasein verdankte.

      Aber sie hatten keine Zeit mehr für ihren Haß.

      »Entfernung neunhundert Meter!« schrie der Beobachter am E-Messer. »Achthundertfünfzig«, verbesserte er sich gleich.

      Das Gedröhn schwoll an, die Erde zitterte. Der Motorenlärm zersägte die Nerven. Der Gefreite Traube spürte, wie sein Mund trokken wurde, wie die Zähne wackelten; in seiner Zielrichtung tänzelten Lichteffekte, weil die müde Sonne wieder durch die Wolken sah. Wer sich nicht hinter die Pak zu drücken brauchte, lag im Graben und sehnte sich danach, so tief wie möglich unter die Erde zu kriechen.

      »Siebenhundert Meter«, kam der neue Meßwert durch.

      Sie rollten in breiter Formation. Hinter den T 34 sah man die Stahlhelme der sowjetischen Infanteristen wie Schildkröten, die langsam näher krochen.

      Hauptmann Ritt ließ sie bis auf vierhundert Meter herankommen. Aus, dachte er, Feierabend. Die Besatzungen in den T 34 mußten seine Stellung längst erkannt haben, und er wunderte sich, daß die Russen sie nicht beschossen. Es würde ein paar von ihnen noch das Leben kosten, stellte er bedauernd fest; er war, als perfekter Soldat, grundsätzlich dafür, Blut zu sparen.

      »Feuer frei!« rief er und sah auf die schmalen Lippen des Richtkanoniers, der verbissen nickte.

      Ritt duckte sich in sein Panzerdeckungsloch, er hatte das Glas an den Augen, eine entsicherte MP in der Hand und eine sicher nutzlose Haftladung neben sich.

      Drei Sekunden später fauchte die erste Granate aus dem Rohr.

      Treffer, stellte Ritt fest.

      Der Turm des vorderen Panzers flog hoch wie ein Zylinder im Windstoß. Die Lafette stellte sich noch einmal auf die Hinterräder, dann platzte sie wie eine Konservenbüchse.

      Richtkanonier Traube wechselte das Ziel.

      Er schoß einen zweiten und dritten Panzer ab, zielte auf den vierten, schoß und traf. Doch der T 34 rollte stur weiter, genau auf die Pak zu, wie ein Gespenst; Gespenster kann man nicht töten.

      Blindgänger, dachte Ritt …

      Die Russen feuerten zurück, verwandelten die Erde in eine zuckende, feurige Hölle. Jetzt war es auch zum Rückzug zu spät. Hauptmann Ritt, der Achtundzwanzigjährige, prägte sich jede Einzelheit seines schwindelnden Lebens ein, als sei das noch wichtig.

      Plötzlich schossen die Russen nicht mehr. Die Männer der Pak, die Schuß auf Schuß und Blindgänger auf Blindgänger hinausgejagt hatten, merkten, daß der Feind das Feuer nicht mehr erwiderte; er war so nahe herangerollt, daß man schon Gesichter unter den Schildkrötenhelmen erkennen konnte.

      Unvermittelt drehten die meisten Panzer nach links ab; sie hatten jetzt erfaßt, daß die Stellung im Nachbarabschnitt geräumt war und daß sie hier ohne Widerstand die Hauptkampflinie passieren konnten. Vielleicht waren auch sie perfekte Soldaten, die Blut sparten, oder sie fürchteten, daß diese lächerliche einsame Pak nicht lauter Blindgänger hatte. Zwei T 34 rollten genau auf die Pak zu, die etwas links von dem Graben stand, in dem der Rest des Bataillons auf den Heldentod wartete.

      Einen T 34 konnte der achtzehnjährige Richtkanonier noch erledigen, dann zog er nur noch Nieten. Er schrie, fluchte, schoß und zitterte, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Er starrte in den Schlund der Kanonen, die gleich aufblitzen mußten, zielte und wußte, daß es nicht helfen würde.

      Fünfzig Meter noch.

      Keine Deckung mehr. Flucht sinnlos.

      Das Ungetüm drehte auf einer Kette. Der russische Fahrer schaltete herunter. Der Motor heulte im ersten Gang schrill auf. Der


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