Die wilden Jahre. Will Berthold
»Erstaunlich«, entgegnete die Frau, »Sie reden wie ein Deutscher …« Sie merkte, daß sie etwas Falsches gesagt haben mußte. Seine Augen wurden klein, sein Mund zornig. Seine Hand hielt die Flasche wie eine Keule, mit der er gleich zuschlagen wollte. »Entschuldigung«, sagte sie erschrocken.
Ohne Einleitung riß er sie an sich, beugte sich über sie. Ihre Schatten an der Wand wurden unförmig. Der Captain hob die Frau, trug sie zur Couchecke, setzte sie ab, begann sie auszuziehen. Seine Hände waren ungeschickt. Er konnte die Schließe am Rücken nicht öffnen, riß sie ab, halblaut vor sich hinfluchend.
»Kann hier jemand kommen?« fragte er.
»Kein Mensch«, erwiderte sie, stand auf, ging an die Wohnungstür, um sie von innen zu verriegeln. Sie kam zurück und sah wieder, wie hektisch er trank, lächelte, ging auf ihn zu, nahm ihm die Flasche ab, drückte ihn zurück in die Kissen, suchte seine Lippen.
Ihre wilde Zärtlichkeit machte ihm Mut: Felix brauchte ihn für den Haß, mit dem er über fünftausend Kilometer marschiert und über sechs Jahre gelebt hatte, ihn mehr als zweitausend Nächte lang sammelnd, zählend und mehrend. Haß war zu seinem ständigen Begleiter geworden, mit ihm wachte und schlief, trank und kämpfte er – und so wollte sich Felix jetzt, kurz vor dem Ziel, nicht ein Quentchen von dem Haß auf ein Land nehmen lassen, das ihn geboren und verstoßen hatte.
In Deutschland war er mit Martin aufgewachsen, und die Freundschaft der beiden Jungen, deren Väter jahrelang gegeneinander prozessierten, hatte als unzertrennlich gegolten. Martin erwies sich als der Praktiker, Felix als der Theoretiker, aber beide waren gleich vital, gleich intelligent und gleich versessen auf das Leben.
Vielleicht auch hingen die beiden Jungen so aneinander, weil sie ohne Mutter aufwachsen mußten. Martins Vater war geschieden, der alte Kommerzienrat Lessing hatte seine Frau schon verloren, bevor Felix in das Gymnasium ging; er heiratete nicht wieder, weil der Junge keine Stiefmutter haben sollte.
Es war eine liebenswerte patriarchalische Vorstellung, die der Heranwachsende häufig belächelte, obwohl er recht zufrieden mit ihr war. Sie lebten nicht wie Vater und Sohn, sie hausten wie zwei Freunde zusammen, häufig auch wie drei, denn Martin hatte Gastrecht.
Auch ihn faszinierte die liberale Geistigkeit des alten Lessing, des Philanthropen, in dem die Jungen einen modernen Nathan liebten.
Nach dem Abitur bezogen Felix und Martin die Universität, der eine studierte Literaturgeschichte, der andere Volkswirtschaft. Sie lasen, sprachen, liebten und stritten sich durch lange Nächte, voll schöpferischer Unruhe, Begünstigte des Lebens, deren einziges Vorurteil der gemeinsame Glaube an den Fortschritt war.
Zu dieser Zeit hatten sie die Männer in den Braunhemden nur für einen Auswuchs auf Abruf gehalten. Aber schon ein Semester später erkannten sie den Riß, der durch Deutschland ging. Felix gehörte zu der kleinen Minderheit, die von einer verhetzten großen Mehrheit verfolgt wurde.
Martin stand wortlos und konsequent an seiner Seite; die Abneigung gegen den eigenen Vater, die Verehrung für den alten Kommerzienrat und das Unrecht, das man Felix antat – einem von einer halben Million –, nahmen ihm jede Wahl.
Die meisten Gäste, die sich vor kurzem noch in das gastliche Haus des Kommerzienrates gedrängt hatten, mieden es jetzt. Die Stadt, in der er lebte, hatte vergessen, wie viele soziale Werke der alte Lessing geschaffen hatte.
Die Künstler blieben aus, die einen Mäzen suchten, die Autoren, die einen Protektor brauchten. Felix erlebte, daß aus seinen Mitschülern von gestern Feinde von heute geworden waren. Die offenen Angriffe der Fanatiker trafen ihn weniger als das versteckte Mitleid vieler Bürger. Felix litt fast physisch, und so steigerte er die vom braunen Staat betriebene Isolierung noch, indem er sich, Martin ausgenommen, von der Umwelt absonderte.
Fast täglich schlug er dem Freund vor, den Umgang mit dem Hause Lessing zu meiden, und suchte ängstlich in Martins Gesicht nach einem Zögern, nach unterdrückter Zustimmung. An manchen Tagen wollte er selbst ihm mißtrauen, aber er überwand es und begriff, daß der Freund sein Freund geblieben war. Mehr als für die Zivilcourage, die Martin bewies, war ihm Felix dankbar für seine Unbefangenheit.
Er bestürmte den Vater, Deutschland zu verlassen; zum erstenmal erwies sich der alte Lessing als unvernünftig und verspann sich immer mehr in seinen Starrsinn. Die Auswanderung aus seiner Heimat kam ihm wie Flucht vor dem Pöbel vor, wie Feigheit vor dem Feind.
»Horden ruft man zur Ordnung«, sagte er, »und vor Schreihälsen läuft man nicht davon.«
Auch Martin riet dem Kommerzienrat zur Flucht. Doch der alte Mann stand noch fünf bittere Jahre durch, bis er sich endlich entschloß, nach Amerika zu gehen.
Die beiden Freunde mußten sich trennen.
Es geschah im Mai 1938. Felix erhielt ein Visum für einen Studienaufenthalt in den USA. Sein Vater blieb noch in Frankfurt und sollte bald folgen.
Das Schiff lief in Hamburg aus. Die beiden Freunde verbrachten noch ein paar Tage in der Hansestadt, die so vom Abschied überschattet waren, daß Felix und Martin nichts von ihnen haben konnten.
Sie gaben sich die Hand, sahen aneinander vorbei, wußten, daß sie sich vielleicht nie mehr oder höchstens nach vielen Jahren wiedersehen würden.
Sie sagten kein Wort, als sie auseinandergingen. Beide standen sie da mit schweren Köpfen, unfähig, sich zu rühren, als das Schiff auslief, der eine an Land, der andere an Bord, und sie sahen beide, wie rasch die Entfernung wuchs. Als Martin vom Kai ging, fühlte er, daß er nicht nur dem Schiff, sondern auch seiner Jugend den Rücken kehrte.
Das Leben der Freunde gabelte sich in zwei entgegengesetzte Richtungen.
Kurz nach der Abreise des jungen Lessing wurde Martin zur Wehrmacht einberufen.
Felix kämpfte um die Einreise seines Vaters; die amerikanische Behörde sagte zu, aber der Instanzenweg brauchte Zeit – Felix schaffte es und teilte es dem Vater brieflich mit.
Als Antwort erhielt der Dreiundzwanzigjährige die Nachricht, daß sein Vater in der Kristallnacht gelyncht worden war und daß der alte Ritt den Mord angestiftet hatte.
Es war ein Schlag, den Felix nie verwinden konnte.
Er quälte sich mit Vorwürfen, daß er die Einwanderungsbehörden nicht mehr bedrängt hatte, und immer heftiger wuchs sein Haß auf das Land, in dem sein Vater geblieben war.
Haß wurde zu seiner Krankheit und zu seiner Stärke. Er kompensierte ihn mit dem Glauben an das Land, das ihn aufgenommen hatte. In Amerika wollte er nur Licht sehen, in Deutschland nur Nacht. Aus dem deutschen Einwanderer wurde ein amerikanischer Patriot, der zielstrebig alles in sich ausmerzte, was ihn an seine Heimat erinnern wollte.
Felix sprach nicht mehr deutsch, las keine Bücher in dieser Sprache, nicht einmal die seiner Gefährten im Exil; er verübelte es ihnen, wenn sie sich in ihrer Muttersprache unterhielten. Deutsch wollte er erst wieder sprechen, wenn er Germany als Vorhut der Strafe betrat.
Er fieberte dem Kriegseintritt Amerikas entgegen. Er begann, dem imponierenden mächtigen Land zu verübeln, daß es nicht gleich auszog. Er bekämpfte seine Ungeduld mit Schnaps, wurde zum sporadischen Trinker, sooft das Bild der lodernden Flammen, der johlenden Massen und gequälten Menschen ihn folterte. Wenn er betrunken war, zeigte er sich von faszinierender kalter Intelligenz. In den letzten Monaten vor dem Kriegseintritt der USA betrank er sich beinahe täglich.
Der japanische Überfall auf Pearl Harbour machte ihn nüchtern. Felix, der Individualist, wurde Soldat aus Überzeugung, landete mit dem Expeditionskorps in Nordafrika, kämpfte im amerikanischen Brückenkopf bei Nettuno und meldete sich freiwillig zu einer Einheit der Fallschirmjäger, die bei der Invasion als erste über dem Atlantikwall abspringen sollte.
Er war einer der acht Überlebenden dieser Kampfgruppe und sollte zur Erholung nach England gebracht werden. Felix weigerte sich, die Front zu verlassen, und raste mit den amerikanischen Panzern wie im Taumel quer durch Frankreich. Er kam an feldgrauen Kolonnen deutscher Gefangener vorbei und gestand sich verdrossen, daß