Das Zeichen der Vier. Sir Arthur Conan Doyle

Das Zeichen der Vier - Sir Arthur Conan Doyle


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erkennen war.

      „Ein höchst anziehendes Mädchen,“ sagte ich, indem ich mich an meinen Freund wandte.

      Holmes hatte seine Pfeife wieder angezündet und sich mit halbgeschlossenen Augen in den Stuhl zurückgelehnt. So? sagte er langsam — „ist mir nicht aufgefallen.

      „Sie sind wirklich ein Automat — eine Rechenmaschine! rief ich. „Zuzeiten ist gar kein menschliches Leben in Ihnen.“

      „Man darf sein Urteil nie von persönlichen Eigenschaften beeinflussen lassen,“ entgegnete er mit mattem Lächeln, das ist von der grössten Wichtigkeit. Für mich ist ein Klient nichts als eine Figur, ein Faktor in einem Problem. Gefühle sind dem klaren Denken feindlich. Der Schein trügt nur zu oft. Das liebreizendste Frauenzimmer, das mir vorgekommen ist, wurde gehängt, weil sie drei kleine Kinder um ihrer Lebensversicherung willen vergiftet hatte, und der allerabstossendste Mann meiner Bekanntschaft ist ein Menschenfreund, der beinahe eine Viertelmillion für die Armen Londons verwendet hat.“

      „In diesem Fall indessen —“

      „Ich mache niemals Ausnahmen. Eine Ausnahme stösst die Regel um. Haben Sie jemals versucht, den Charakter aus der Handschrift zu bestimmen? Wie urteilen Sie über diesen Menschen nach seinem Geschreibsel?“

      „Es ist leserlich und regelrecht. Ein Geschäftsmann, nicht ohne Charakterstärke, sollte ich meinen.“

      Holmes schüttelte den Kopf. „Sehen Sie seine langen Buchstaben an; sie erheben sich kaum über die kleinen. Dieses d könnte ein a sein, und das e ein l. Bei charaktervollen Menschen unterscheiden sich die langen Buchstaben immer, mögen sie sonst noch so unleserlich schreiben. Aus diesen Anfangsbuchstaben spricht Selbstbewusstsein, und die k’s verraten Schwanken und Unsicherheit. — Jetzt gehe ich aus; ich habe noch einige Erkundigungen einzuziehen. In einer Stunde bin ich wieder da.“

      Ich sass am Fenster, ein Buch in der Hand, aber lesen konnte ich nicht. Meine Gedanken waren noch ganz und gar von unserem Besuch eingenommen — ihr Lächeln, die tiefen, vollen Töne ihrer Stimme, das sonderbare Geheimnis, das über ihrem Leben schwebte, beschäftigte mich. Wenn sie, als ihr Vater verschwand, siebzehn Jahre alt war, so musste sie jetzt siebenundzwanzig sein — ein angenehmes Alter, wo die Jugend ihre Selbstüberhebung abgeworfen hat und ein wenig durch die Erfahrung ernüchtert ist.

      Lange sass ich da und sann, bis so gefährliche Gedanken mir in den Kopf kamen, dass ich eiligst an meinen Schreibtisch ging, und mich in das neueste Heft der Zeitschrift für Pathologie vertiefte. — Wie, konnte ich, ein Militärarzt mit einem schwachen Arm und noch schwächerem Bankdepot, es wagen, an solche Dinge auch nur zu denken? Sie war eine Figur, ein Faktor, sonst nichts für mich. Wenn mein Geschick düster war, so ziemte es sich wahrlich besser, der Zukunft wie ein Mann entgegenzugehen, statt zu versuchen, sie durch phantastische Irrlichter aufzuhellen. —

      3. Kapitel.

      Wohin geht die Fahrt?

      Erst um halb sechs Uhr kam Holmes zurück. Er war heiter, lebhaft, überhaupt in vortrefflicher Stimmung.

      „Es steckt kein grosses Geheimnis in der Angelegenheit,“ sagte er, während ich ihm eine Tasse Tee eingoss. „Mir scheint, die Tatsachen lassen nur eine mögliche Erklärung zu.“

      „Was! Sie haben schon die Lösung gefunden?“

      „Das nicht gerade; das wäre zu viel gesagt. Ich habe nur ein Faktum entdeckt, das mich auf eine Vermutung führt, welche viel für sich hat. Alle Einzelheiten fehlen mir noch. Ich habe nämlich eben die Register der Times durchgesehen und dabei gefunden, dass Major Scholto von Ober-Norwood, ehemals im 34. Regiment der Bombay-Infanterie, am 28. April 1882 gestorben ist.“

      „Ich muss wohl sehr schwer von Begriffen sein, Holmes, denn ich sehe durchaus nicht ein, wie das mit dem Fall zusammenhängen soll.“

      „Nicht? Das wundert mich. Betrachten Sie es einmal von folgendem Gesichtspunkt: Hauptmann Morstan verschwindet. Die einzige Person in London, die er aufgesucht haben könnte, ist Major Scholto, aber der Major leugnet, etwas von seiner Anwesenheit in London gewusst zu haben. Vier Jahre später stirbt Scholto. Eine Woche nach seinem Tode erhält Hauptmann Morstans Tochter ein wertvolles Geschenk. Die Sendung wiederholt sich von Jahr zu Jahr, und jetzt kommt noch ein Brief, in dem es heisst, es sei ihr unrecht geschehen. Welches andre Unrecht kann damit gemeint sein, als dass man ihr den Vater geraubt hat? Warum sollten die. Geschenke unmittelbar nach Scholtos Tode anfangen, wenn nicht, weil der Erbe Scholtos das Geheimnis kennt und die Tochter zu entschädigen wünscht? Wissen Sie irgend eine andere Art und Weise, wie sich die Tatsachen deuten lassen?“

      „Aber was für eine sonderbare Entschädigung! Und wie wunderlich ausgeführt! Warum hat er den Brief erst jetzt geschrieben und nicht schon vor sechs Jahren? Zudem sagt er, dass sie zu ihrem Recht kommen werde. Soll das etwa heissen, dass ihr Vater noch lebt? Schwerlich. Von einer andern Ungerechtigkeit wissen wir aber in ihrem Fall nichts.“

      „Natürlich ist noch vieles unaufgeklärt,“ sagte Holmes nachdenklich; aber die Zusammenkunft heute abend wird alle Schwierigkeiten beseitigen. Sehen Sie, da kommt gerade Fräulein Morstan vorgefahren. Sind Sie ganz fertig? Gut, dann kommen Sie hinunter; wir haben keine Zeit zu versäumen.“

      Ich ergriff meinen Hut und meinen schwersten Stock, bemerkte aber zugleich, dass Holmes seinen Revolver aus dem Schubfach nahm und in die Tasche gleiten liess. Offenbar erwartete er, dass es bei unserm Abendgeschäft ernsthaft zugehen könne.

      Fräulein Morstan hatte sich in einen dunklen Mantel gehüllt, ihr ausdrucksvolles Gesicht war gefasst, aber bleich. Sie hätte kein Weib sein müssen, wenn sie frei von Unruhe geblieben wäre bei dem sonderbaren Abenteuer, auf das wir auszogen; aber ihre Selbstbeherrschung war bewundernswert, und sie beantwortete alle Fragen, die Sherlock Holmes noch an sie richtete, ohne Zögern.

      „Major Scholto war ein sehr vertrauter Freund meines Vaters. Er erwähnte ihn häufig in seinen Briefen. Der Major und Papa befehligten die Truppen auf den Andamanen, das brachte sie natürlich in die engste Berührung miteinander. O, — da fällt mir ein, es fand sich in Papas Pult ein seltsames Papier vor, welches niemand verstehen konnte. Ich glaube zwar nicht, dass es irgendwelche Wichtigkeit haben kann, aber für den Fall, dass Sie es zu sehen wünschen, habe ich es mitgebracht. Da ist es.“

      Holmes entfaltete das Papier sorgfältig, glättete es auf dem Knie, und untersuchte es gründlich von allen Seiten unter seiner Lupe.

      „Das ist ein echt indisches Fabrikat,“ bemerkte er. „Das Papier muss früher einmal mit Nadeln auf ein Brett gesteckt worden sein. Es zeigt den Grundriss eines grossen Gebäudes mit vielen Hallen und Gängen. An einer Stelle ist ein kleines Kreuz mit roter Tinte gezogen, darüber steht ,3. 37 von links‘, in verwischter Bleistiftschrift. Hier in der linken Ecke sieht man eine kuriose Hieroglyphe: vier Kreuze in einer Reihe, deren Arme zusammenstossen. Daneben steht in sehr roher, ungelenker Schrift: ,Das Zeichen der Vier — Jonathan Small, Mahomet Singh, Abdullah Khan, Dost Akbar.‘ — Nun, welche Beziehung das auf unsere Angelegenheit haben könnte, weiss ich nicht. Doch ist es augenscheinlich ein wichtiges Dokument. Es muss sorgfältig in einem Taschenbuch aufbewahrt worden, sein; denn die eine Seite ist so rein wie die andere.“

      „Wir fanden es in seiner Brieftasche.“

      „Bewahren Sie es gut auf, Fräulein Morstan; wer, weiss, wann es uns noch nützen kann! Ich fange an, zu vermuten, dass es sich hier doch um eine weit verwickeltere Sache handelt, als ich zuerst glaubte. Ich muss noch einmal darüber nachdenken.“

      „Er lehnte sich im Wagen zurück. Dass er scharf nachdachte, sah ich an seinen zusammengezogenen Brauen und seinem abwesenden Blick. Auch bewahrte er ein unverbrüchliches Schweigen bis an das Ende der Fahrt, während Fräulein Morstan und ich miteinander in gedämpftem Ton über die möglichen Ergebnisse unseres Unternehmens plauderten.

      Es war ein trüber Septemberabend; dichter, feuchter Nebel hing über der grossen Stadt und lagerte sich in schmutzig-farbenen Wolken auf den schlammigen Strassen. Die Lampen längs dem ,Strand‘ tauchten aus dem Dunkel nur als matte Lichtflecken auf, die ihren schwachen, kreisrunden


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