Das Haus in der Mango Street. Sandra Cisneros
Sie ist hier als Autorin des neuen Gedichtbands Bad Boys, erschienen bei Mango Press, der literarischen Bestrebungen von Gary Soto und Lorna Dee Cervantes. Ihr Buch ist vier Seiten lang und wurde mit Hilfe eines Tackers und eines Löffels auf einem Küchentisch gebunden. Wie sie schnell feststellt, haben die meisten anderen Gäste echte Bücher geschrieben, Hardcover bei großen New Yorker Verlagen, die in Auflagen von Hunderten oder Tausenden in echten Druckereien gedruckt worden waren. Ist sie wirklich eine Schriftstellerin, oder tut sie nur so?
Der Ehrengast ist ein berühmter Autor, der einige Jahre vor ihr auch am Iowa Writers’ Workshop teilgenommen hat. Sein neuestes Buch ist gerade nach Hollywood verkauft worden. Er spricht und gibt sich, als sei er der Herrscher über Alles.
Am Ende des Abends sucht sie nach einer Mitfahrgelegenheit. Gekommen ist sie mit dem Bus, und der Herrscher bietet ihr an, sie nach Hause zu fahren. Aber sie will nicht nach Hause. Sie ist fest entschlossen, sich einen Film anzusehen, der nur heute Abend läuft. Sie hat Angst, allein ins Kino zu gehen, und genau deshalb hat sie beschlossen hinzugehen. Weil sie sich davor fürchtet.
Der berühmte Autor fährt einen Sportwagen. Die Sitze riechen nach Leder, und das Armaturenbrett sieht aus wie ein Flugzeugcockpit. Ihr eigenes Auto springt nicht immer an und hat neben dem Gaspedal ein Loch im Boden, durch das Regen und Schnee spritzt, deshalb muss sie beim Fahren immer Stiefel tragen. Der berühmte Autor redet ununterbrochen, aber sie hört kein Wort von dem, was er sagt, denn ihre eigenen Gedanken übertönen ihn wie Wind. Sie sagt nichts, muss es auch gar nicht. Sie ist jung und hübsch genug, um dem Ego des berühmten Autors zu schmeicheln, indem sie zu allem, was er sagt, zustimmend nickt, bis er sie vor dem Kino absetzt. Sie hofft, dass der berühmte Autor zur Kenntnis nimmt, dass sie sich allein Blondinen bevorzugt ansehen will. Um die Wahrheit zu sagen: Ihr ist elend zumute, als sie allein zum Ticketschalter geht, aber sie zwingt sich, eine Karte zu kaufen und reinzugehen, weil sie diesen Film liebt.
Das Kino ist gerammelt voll. Die Frau hat den Eindruck, als sei jeder der Anwesenden in Begleitung da, nur sie nicht. Endlich die Szene, in der Marilyn Monroe »Diamonds Are a Girl’s Best Friend« singt. Die Farben so prächtig wie in einem Cartoon, das Set herrlich kitschig, der Liedtext klug, die ganze Nummer versprüht Old-Style-Glamour. Marilyn ist sensationell. Als ihr Song vorbei ist, applaudieren die Kinobesucher, als stünde sie live auf der Bühne, aber leider ist die arme Marilyn schon seit Jahren tot.
Die Frau, die ich bin, geht stolz nach Hause, weil sie allein ins Kino gegangen ist. Siehst du? War doch gar nicht so schwer. Aber als sie die Tür ihrer Wohnung hinter sich verriegelt, bricht sie in Tränen aus. »Ich hab keine Diamanten«, schluchzt sie, obwohl sie nicht weiß, was das bedeuten soll, allerdings weiß sie bereits, dass es gar nicht um Diamanten geht. Alle paar Wochen hat sie einen unschönen Heulkrampf wie diesen und fühlt sich danach jedes Mal hilflos und wie gescheitert. Es passiert so regelmäßig, dass sie denkt, diese Depressionsstürme wären so normal wie Regenschauer.
Wovor hat die Frau auf dem Foto Angst? Sie hat Angst, im Dunkeln vom Parkplatz in ihre Wohnung zu laufen. Sie hat Angst vor den polternden Geräuschen in den Wänden. Sie hat Angst, sich zu verlieben und sich deshalb für den Rest ihres Lebens an Chicago zu binden. Sie hat Angst vor Geistern, tiefem Wasser, Nagetieren, der Nacht, vor Dingen, die sich zu schnell bewegen – Autos, Flugzeuge, ihr Leben. Sie hat Angst, wieder bei ihren Eltern einziehen zu müssen, wenn sie nicht mutig genug ist, allein zu leben.
Und während alledem schreibe ich Geschichten unter dem Titel Das Haus in der Mango Street. Manchmal schreibe ich über Menschen, an die ich mich erinnere, manchmal schreibe ich über Menschen, die ich gerade erst getroffen habe, oft vermische ich beides. Meine Schülerinnen in Pilsen, die während des Unterrichts vor mir saßen, mit Mädchen, die zehn Jahre früher in einem ganz anderen Klassenzimmer in der Highschool neben mir saßen. Ich nehme Bruchstücke aus Bucktown, wie den Affengarten nebenan, und versetze ihn in den Häuserblock am Humboldt Park, in dem ich während meiner Schulzeit wohnte – 1525 North Campbell Street.
Oft habe ich nur einen Titel ohne Geschichte – »Die Familie mit den kleinen Füßen« –, und ich muss mir selbst in den Hintern treten, damit ich anfange zu schreiben. Manchmal habe ich auch nur den ersten Satz – »Man kann nie zu viel Himmel haben«. Eine meiner Schülerinnen in Pilsen behauptete, ich hätte das einmal gesagt und sie habe es nie vergessen. Zum Glück hat sie sich den Satz gemerkt und ihn mir gegenüber noch mal zitiert. »Sie kamen mit dem Augustwind …« Diese Zeile fiel mir im Traum ein. Die besten Ideen kommen manchmal im Traum. Und die schlechtesten auch!
Egal ob die Idee von einem Satz stammt, den ich irgendwo aufgeschnappt und mir gemerkt habe, oder von einem Titel, den ich gefunden und eingesackt habe, die Geschichten schreiben mir immer vor, wie sie enden wollen. Oft überraschen sie mich mit einem abrupten Schluss, wenn ich doch vorhatte, auf ihnen noch ein ganzes Stück weiterzugaloppieren. Sie sind stur. Sie wissen am besten, wann es nichts mehr zu sagen gibt. Der letzte Satz muss in den Ohren klingeln wie die letzte Note eines Mariachi-Lieds – tan-tán –, damit man weiß, dass es vorbei ist.
Die Leute, über die ich geschrieben habe, waren größtenteils real, sie waren von hier und dort, heute und damals, aber manchmal habe ich drei echte Personen zu einer fiktiven zusammengeflochten. Wenn ich der Meinung war, mir eine Figur auszudenken, stellte sich für gewöhnlich heraus, dass es sich um eine Person handelte, an die ich lange nicht gedacht hatte, oder um eine, die mir so nahestand, dass ich die Ähnlichkeit gar nicht bemerkte.
Ich trennte Ereignisse auf und knüpfte sie neu zusammen, um die Geschichte maßzuschneidern, gab ihr Form durch einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, denn echte Lebensgeschichten kommen selten als abgeschlossene Einheit daher. Aber Gefühle können nicht erfunden oder entliehen werden. Alle Emotionen, die meine Figuren empfinden, schöne wie schreckliche, sind meine eigenen.
Ich treffe Norma Alarcón. Sie wird eine meiner ersten Verlegerinnen und eine lebenslange Freundin werden. Als sie das erste Mal durch die Zimmer meiner Wohnung in der North Paulina Avenue schleicht, nimmt sie die stillen Räume, die Schreibmaschinensammlung, die Bücher und Porzellanfiguren, die Fenster mit Blick auf Autobahn und Himmel zur Kenntnis. Sie läuft wie auf Zehenspitzen und lugt in jeden einzelnen Raum, sogar in die Vorratskammer und den Wandschrank, als würde sie nach etwas suchen. »Du lebst hier …«, fragt sie, »allein?«
»Ja.«
»Und …« Sie hält inne. »Wie hast du das geschafft?«
Norma, ich habe es geschafft, indem ich mich Dingen gestellt habe, die mir Angst machten, damit ich keine Angst mehr vor ihnen zu haben brauchte. Wegziehen, um einen Schulabschluss zu machen. Allein ins Ausland reisen. Mein eigenes Geld verdienen und allein wohnen. So tun, als sei ich eine Schriftstellerin, obwohl ich mich davor fürchtete, genau wie in dem Foto, dass du auf das erste Cover von Third Woman gedruckt hast.
Und schließlich, nachdem ich jahrelang bei professionellen Schriftstellerinnen und Schriftstellern in die Lehre gegangen bin und endlich bereit war, indem ich die richtige Agentin fand. Mein Vater, der immerzu seufzte und sich wünschte, ich möge heiraten, war am Ende seiner Tage froh, dass mein Lebensunterhalt nicht von einem Ehemann, sondern von meiner Agentin Susan Bergholz gesichert wurde. ¿Ha llamado Susan?, fragte er täglich, denn wenn Susan anrief, hatte sie immer gute Nachrichten. Diamanten mögen für ein Mädchen das Richtige sein, aber eine Agentin ist die beste Freundin einer Schriftstellerin.
Ich konnte meiner eigenen Stimme nicht trauen, Norma. Die Leute sahen ein kleines Mädchen, wenn sie mich anschauten, und hörten die Stimme eines kleinen Mädchens, wenn ich sprach. Weil ich meiner erwachsenen Stimme selbst nicht traute und mir oft den Mund verbat, habe ich eine andere Stimme erfunden, Esperanzas Stimme, die für mich Fragen stellte, auf die ich Antworten brauchte: »Wo lang?« Das wusste ich nämlich nicht so genau, aber ich wusste, welche Wege ich nicht nehmen wollte – Sallys, Rafaelas, Ruthies –, Frauen, deren Leben weiße Kreuze am Straßenrand waren.
In Iowa sprachen wir nie darüber, anderen durch unser Schreiben zu helfen. Es ging nur um uns selbst. Aber ich hatte keine anderen Vorbilder, bis du mir die mexikanischen Autorinnen Sor Juana Inés de la Cruz, Elena Poniatowska, Elena Garro und Rosario Castellanos vorgestellt hast. Die junge Frau