Die Gilde der Seelenlosen. Eckhard Bausch
selbst beantwortet“, orakelte er. „Wir sind auf der Flucht vor mächtigen Feinden. Falls ihr uns versteckt, und sie uns finden, ist auch euer Leben bedroht. Aber wir suchen nur für kurze Zeit einen Unterschlupf. Wir wollen herausfinden, wo der Ort liegt, der in den alten Schriften die „Brutstätte des Zorns“ genannt wird. Dort wollen wir Zuflucht und Schutz suchen. Kannst du uns helfen?“
Eftian runzelte die Stirn.
„Die armen Menschen, die die Flussniederungen besiedeln, sind keine Schriftgelehrten“, stellte er klar. „Von dem Ort, den du genannt hast, habe ich noch nie gehört. Aber ich kann mit den anderen Flussfischern besprechen, ob sie bereit sind, euch vorübergehend Gastfreundschaft zu gewähren.“
Dorothon atmete auf.
Er hatte gehört, dass Eftians Stimme großes Gewicht bei den bettelarmen Bewohnern der Niederungen hatte, die sich selbst die „freien Menschen der Flüsse“ nannten. Wenn es ihm gelang, seine Schicksalsgenossen zu überzeugen, sollte er mit seinen Begleitern und ihrer außergewöhnlichen Fracht wenigstens vorübergehend in Sicherheit sein. Die „freien Menschen der Flüsse“ lebten tief im Wald an allen fischreichen Nebenflüssen westlich des Tephral. Trotz der erheblichen Ausdehnung ihres Siedlungsgebiets hatten sie wegen ihrer Armut und der landwirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit der sumpfigen, unwegsamen Waldgebiete kaum Kontakte zur restlichen Bevölkerung Borthuls. Zumindest für eine gewisse Zeitspanne erschienen Dorothon daher die Flussniederungen westlich des Tephral ein gutes Versteck zu sein. Dennoch war er enttäuscht, dass sich seine Hoffnung, mit Eftians Hilfe die „Brutstätte des Zorns“ zu finden, zerschlagen hatte.
Der Weiße Mann führte den Flussfischer zu einem dicht bewachsenen Hügel, wo die Kutsche mit der Ovaria stand. Jalbik Gisildawain und der obesische Kutscher hatten sie zusätzlich mit Zweigen und Rankgewächsen abgedeckt.
Beim Anblick Quosimangas fuhr Eftian zusammen. Dorothon führte das darauf zurück, dass seine Söhne allein schon durch ihre ungewöhnliche Erscheinung die Menschen in Angst versetzten.
„Er wird dir nichts tun“, versprach der Replica. „Er ist mein Sohn.“
Der einfache Fischer verstand auf Anhieb die Gefühle des Vaters. „Es tut mir leid“, murmelte er. „Vielleicht liegt es daran, dass wehrlose Menschen besonders schreckhaft sind. Nicht der Anblick deines Sohnes hat diese Furcht in mir ausgelöst, sondern der Anblick seiner entsetzlichen Waffe.“
Dorothon sah Eftian forschend an. „Ich habe keine Waffe“, stellte er fest.
Der Fischer sah betreten zu Boden. Dorothon hatte offenbar seinen Gemütszustand genauestens ergründet. Vor dem Weißen Mann fürchtete sich Eftian noch weit mehr als vor dem Bewacher der Gruft, was jedoch durch Äußerlichkeiten und Waffen nicht erklärbar war. Das gab Dorothon zu denken.
*
Scharfe Windböen pfiffen in kurzen Abständen über die Hügel von Groch. Auf dem höchsten Punkt einer dieser Erhebungen hatte der Deltong sein Pferd angehalten. Die schwarzen, langen Haare flatterten um den bleichen Kopf des Mannes mit der schwarzen Kleidung. Sein Blick richtete sich hinab zur Surdyrischen Tiefebene.
Er hatte das Gefühl, dass die Durchführung seiner Aufgaben nicht leichter geworden war. Eigentlich wunderte er sich schon darüber, dass er überhaupt etwas fühlte. Genau genommen handelte es sich aber nicht um ein Gefühl, sondern um Empfindungen etlicher Völker, die er mit dem Dunstein in sich aufgenommen hatte.
Die Verfolgung des Ritters mit der goldenen Rüstung hatte er aufgeben müssen. Nach langen Irrwegen hatte er endlich dessen Pferd aufgestöbert; der Reiter blieb jedoch verschwunden. Jetzt galt es zu entscheiden, ob ihn sein nächster Weg nach Modonos oder nach Zitaxon führen sollte. Am Fuß des Hügels gabelte sich die Straße. Bis dahin musste die Entscheidung gefallen sein.
Nun sah der Deltong auch den kleinen Punkt neben der Weggabelung: ein Mensch, der sich nicht von der Stelle rührte. Seine kalten Berechnungen verrieten dem Schwarzgekleideten, dass er erwartet wurde. Von einem Opfer. Jetzt gab es für ihn keine Gegner mehr. Er lenkte sein Pferd zum Fuß des Hügels. An der Straßengabelung stand ein Mann mit weißer Haut und goldenen Locken und sah ihm ruhig entgegen.
„Du bist zu mir gekommen, obgleich du weißt, dass ich dich beseitigen muss?“, wunderte sich der Deltong. Es waren seine allerersten Worte.
„Nachdem die Schöpfer gegangen sind, hat das Eherne Gesetz seine Bedeutung verloren“, entgegnete Tholulh. „Ich bin hier, um den letzten Befehl der Schöpfer auszuführen.“
„Was ist der letzte Befehl?“, fragte der Deltong.
Mit unbewegtem Gesicht erklärte Tholulh: „Er lautet folgendermaßen; Falls der Tag kommen sollte, an dem die Gilde der Seelenlosen den Kontinent von all unseren Hinterlassenschaften reinigen muss, haben auch die Replicas ihr Leben verwirkt. Sie müssen jedoch den Seelenlosen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben helfen, wenn es Schwierigkeiten irgendwelcher Art geben sollte. Alle Unregelmäßigkeiten müssen gemeldet werden, so lautete der letzte Befehl der Schöpfer an die Weißen Menschen. Das Geflecht der alten Wesenheiten hat mir berichtet, dass die Quelle von Tirk Modon verschwunden ist. Ich bin hier, um dir dies mitzuteilen, weil keiner der Seelenlosen diese Quelle finden kann. Du bist bisher der einzige Seelenträger. Nur du kannst sie finden.“
Der Deltong bewertete den Wahrheitsgehalt dieser Aussage und befand, dass sie zutreffend sein musste. Der ehemalige Bewahrer des Ehernen Gesetzes war unfähig, zu lügen. Er opferte sich nun sogar freiwillig, wie ihm dies die Schöpfer aufgetragen hatten.
Nicht einmal mit seiner überragenden Logik erkannte der Seelenträger die wahre Absicht des Weißen Mannes. Tholulh wollte ihn davon abhalten, bereits jetzt nach Sindra zu gehen. Damit gewann das Geflecht der alten Wesenheiten allerdings nur ein wenig Zeit. Es schien ein geringer Preis für das Leben eines Weißen Menschen. Tholulh sah dies jedoch anders. Es ging ihm nicht um sein eigenes Leben, sondern um das Überleben vieler anderer. Ein kleiner Zeitgewinn vermochte sie zwar nicht zu retten, vor allem nicht vor einem Seelenträger. Den einstigen Bewahrer des Ehernen Gesetzes hatten jedoch zwischenzeitlich einige verstörende Berichte erreicht. Darunter befanden sich Nachrichten, die selbst ihm unheimlich vorkamen. Er hatte den Eindruck gewonnen, dass auf dem Kontinent im Verborgenen eine ihm völlig unbekannte Lebensform in die Geschehnisse eingegriffen hatte. Der Weiße Mann klammerte sich an diesen winzigen Hoffnungsfunken. Vielleicht gab es wirklich eine dem Geflecht der alten Wesenheiten nicht feindlich gesonnene Macht.
Tholulh hatte nicht gelogen. Der „letzte Befehl“ der Schöpfer war ihm tatsächlich erteilt worden. Den Sinn und Zweck ihres Vernichtungswerks hatte er aber nicht verstehen können. Deshalb hatte er den „letzten Befehl“ auch nicht an die anderen Replicas weitergegeben.
Auch das Verschwinden der Quelle von Tirk Modon entsprach der Wahrheit. Diese Tatsache hatte er dem Seelenträger nur ungern verraten. Er hatte jedoch keine andere Möglichkeit gefunden, um den Deltong von seinem Weg nach Sindra abzubringen.
In der Hand des Seelenträgers lag nun eine stabförmige Waffe, gleichsam die Herausforderung zu einem Zweikampf. Tholulh zog jedoch keine Sekunde in Erwägung, sich zu verteidigen. Er wusste, dass er dem Tod ohnehin nicht entgehen konnte. Gegenwehr hätte nur seine Aussagen unglaubwürdig erscheinen lassen. Daher verharrte er reglos an Ort und Stelle. Der gleißende Strahl zuckte auf und durchbohrte seine Brust. Als der Weiße Mann auf dem Boden auftraf, war er bereits tot. Der Seelenträger nahm eine andere Einstellung an der Waffe vor und betätigte sie erneut. Ein aufgefächertes Lichtfeld ergoss sich über die Leiche und löste sie vollständig auf. Von dem einstigen Bewahrer des Ehernen Gesetzes blieb nichts übrig.
Der Seelenträger wählte den Weg nach Modonos. Tholulhs letzter Plan war aufgegangen.
*
Für den an Luxus gewöhnten Freibeuter stellte es ein Rätsel dar, wie Menschen unter derartigen Umgebungsbedingungen leben konnten. Ein ständiger Geruch nach Fäulnis hing in der Luft, und der feuchte Schlamm schien allgegenwärtig. Angeekelt versuchte Jalbik Gisildawain, sich diesem Umfeld anzupassen. Er hatte seine Hose über den Knien abgeschnitten und verzichtete auf jede Art von Fußbekleidung.