Über Goethes Hermann und Dorothea. Victor Hehn

Über Goethes Hermann und Dorothea - Victor Hehn


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      Wieder über Goethe! ruft vielleicht mancher und wirft das Buch ungeduldig beiseite. Aber was haben wir denn sonst noch Großes, was besitzen wir bis jetzt noch andres, nicht im Traum, sondern wahrhaft, als Goethe? Wie die Franzosen sich das Bild der Revolution, ihres Heroenzeitalters, in immer neuer Beleuchtung vorführen, so füllen wir Bibliotheken über die Literatur und vornehmlich über deren größte Gestalt, den einzigen wirklichen Dichter, der uns zu teil geworden. Jch bringe meinen Beitrag zu den vielen andern. Der fromme Beter, aus dem Tempel tretend, pflanzt dankbar auch sein Bäumchen, so daß im Lauf der Jahre ein immer herrlicherer Hain das Heiligtum umrauscht.

      Noch ist die Arbeit, Goethe in das Bewußtsein der Nation einzuführen, lange nicht vollendet. Wer die herrschende Bildung beobachtet hat, muß gestehen, daß die große Mehrzahl gar nicht ahnt, wieviel sie an Goethe besitzt. Seine Dichtungen sind berühmt und von allen gekannt, genossen und empfunden sind sie nur von wenigen. Sinn für Poesie ist überhaupt nicht weiter verbreitet als Talent z. B. für Mathematik. Die meisten haften an dem falschen Golde rhetorischen Schmuckes, werden kindisch gelockt von den Flittern der Diktion und, wenn es sich um Gestalten handelt, nur durch abstrakte Idealität berührt und fortgerissen. Selbst unter denen, die als Goethes Ausleger aufgetreten sind, haben sich nicht alle durch das Entzücken des poetischen Genusses und das Streben, auch andre daran teilnehmen zu lassen, zu ihrem Amte berufen geglaubt, sondern wurden vielmehr durch schulphilosophische Bedürfnisse, religiöse, politische, soziale Standpunkte, also mehr durch ein scholastisches und praktisches Interesse dazu geführt. Sie suchten an jenen Dichtungen die Gelegenheit, sie drängten sich den Inhalt schon mitbringend an sie heran, statt in unbefangener Hingabe die schöne Menschlichkeit und reine Darstellung auf sich wirken zu lassen und der Empfindung andrer näher zu bringen. So ist in den zahlreichen Schriften über Faust zwar jedes Wort, das in des Helden Monologen, in den Gesprächen mit Mephistopheles und Wagner ausgesprochen wird, zu einem heiligen Text geworden, zu dem die Noten und Exkurse sich häuften und welcher zu aller Art von Schriften und Verhandlungen Sprüche liefert, aber die wundervollen Szenen zwischen Faust und Gretchen, die Blüte des Werkes, wo die volle dichterische Schöpfungsmacht das ergreifendste individuelle Bild von Lieb und Leid des Menschenlebens vor uns hinwirft, bilden weiße Seiten, bei denen die geschäftige Interpretation schweigt. Wenn es Rötscher über sich vermag, bei Gretchens Gestalt und über sie hinweg an Unschuld, Fall und Erlösung des Menschengeschlechts, die durch sie dargestellt werden, zu denken, so müssen wir an seinem poetischen Sinne ebenso sehr zweifeln, als wenn Viehoff in seinem neusten Kommentar zu Goethes Gedichten die Schönheit derselben in Zäsur und Alliteration, iambischem und trochäischem Rhythmus, in das Vorherrschen dieses und jenes Vokals u. s. w. setzt. So findet Karl Grün die volle Bedeutung des Goetheschen Geistes in Wilhelm Meisters Wanderjahren, im zweiten Teil des Faust u. s. w., während z. B. Hermann und Dorothea von ihm kaum berührt wird. Auch ihm also liegt die soziale Wahrheit näher am Herzen als die poetische Kunst: er kann gleichgültig vorübergehen, wo die letztere unwiderstehlich fesselt; er kann liebevoll verweilen, wo sie erloschen ist. Sind so die Ausleger nicht immer das Organ reiner Freude an der Gegenwart der Poesie geworden, so findet man unter der großen Menge der Leser und Urteiler überwundene Meinungen und längst verlassene Standpunkte noch so sehr in vollem Bestand, daß es fortwährend not thut, die in engerem Kreise gewonnene ästhetische Einsicht von neuem vorzutragen. Der moralisch-didaktische Gesichtspunkt einem Dichterwerk gegenüber, die religiösen Abstraktionen, der Dualismus zwischen Sinnlichem und Uebersinnlichem, Leib und Seele, Irdischem und Himmlischem, der alle Kunst bis zur Wurzel zerstört, die Flucht aus der vollen Wirklichkeit der Natur und des Lebens, das Unvermögen, in der ersteren den innerlich bildenden Geist, in den Gestalten des letzteren die sie hervortreibende und beseelende Sittlichkeit zu empfinden — dies alles ist in der großen Masse der Gebildeten noch so wenig erschüttert, daß es noch vieler und wiederholter Anwendung der Wahrheit auf einzelne Punkte bedarf, ehe sie sich des Sieges wird rühmen dürfen.

      Unter den Goetheschen Dichtungen hat übrigens Hermann und Dorothea verhältnismäßig nur wenig von sich reden gemacht. Voll klarer Einsicht in das Wesen des homerischen Epos ist die gleich nach Erscheinen des Goetheschen Werkes verfaßte Rezension von August Wilhelm Schlegel. Geistvolle Bemerkungen enthält ein Aufsatz über Hermann und Dorothea von Yxem, den wir, wie billig, für unsre Darstellung benutzt haben. Nur geringe Belehrung haben wir in Wilhelm von Humboldts Schrift über Hermann und Dorothea gefunden, die schon im Jahre 1799 als erster und einziger Teil der ästhetischen Versuche erschien. Die Darstellung hält sich in blut- und markloser Abstraktion, von deren Höhe das lebendige poetische Individuum ganz aus dem Gesicht verschwindet, und löst man den jedesmaligen Gedanken aus der gezwungenen Eleganz und eisigen Vornehmheit des Ausdrucks, so findet man ihn gewöhnlicher, als es den Anschein hatte. Wenn Schiller daher nach Lektüre der ihm übersandten Schrift von der kunstphilosophischen Theorie überhaupt nichts mehr wissen wollte, so wird diese Stelle seines Briefes zwar gewöhnlich als Geständnis der Umkehr, in der er sich vom Denker zum schaffenden Dichter gerade befand, gefaßt; vieles aber an jener Stimmung kommt gewiß auf Rechnung des gerade sehr unfruchtbaren Buches, aus dessen Veranlassung er sich äußert. Auch Goethe wandte sich bald von der Lektüre desselben unwillig ab, angeblich weil ihn der Tadel eines in dem Gedicht vorkommenden Motivs verdroß. Auch uns hat die ganze umfangreiche Abhandlung geringere Ausbeute geliefert als die wenigen Seiten, die der vortreffliche Hillebrand dem Gedichte widmet. Gervinus erwähnt dasselbe nur vorübergehend, weniger, wie wir glauben, aus Gründen seines Prinzips historischer Genesis, dem er selbst häufig genug untreu wird, als wegen der seiner Darstellung überhaupt zu Grunde liegenden Kälte gegen den Dichter des Humanismus.

       Inhaltsverzeichnis

      Von allen Dichtungen Goethes ist keine, wenn wir den Werther ausnehmen, gleich anfangs von der Nation mit so allgemeinem Beifall aufgenommen worden, als Hermann und Dorothea. Der Faust, der jetzt vielleicht unter den Goetheschen Werken das populärste ist, auch im Auslande, gewann sein Ansehen erst allmählich und wohl erst in der späteren Gestalt, in der er zur Zeit der romantischen Schule im Jahre 1808 neuvermehrt in zweiter Auflage erschien. Hermann und Dorothea war dem Stoffe nach so deutsch und so menschlich ansprechend und zugleich eine so durchsichtige und vollendete Kunstgestalt, daß das Gedicht sowohl die Menge, die nur nach dem Stoffe urteilt, als den gebildeten Kunstsinn, dem nur die Form, die künstlerische Behandlung gilt, zur Bewunderung hinriß. Schiller erklärte, nachdem er Hermann und Dorothea gelesen, dies Gedicht für den Gipfel der Goetheschen, ja aller modernen Kunst. Wilhelm von Humboldt knüpfte in einem eigenen Buche, das bald nach Hermann und Dorothea unter dem Titel »Aesthetische Versuche« erschien, an dies Gedicht eine ausführliche Erörterung allgemeiner ästhetischer Prinzipien. Auch August Wilhelm Schlegel nannte in einer eigenen Beurteilung Hermann und Dorothea ein vollendetes Kunstwerk im großen Stil, ein Buch voll goldner Lehren der Weisheit und Tugend. Mit gleicher Bewunderung äußern sich neuere Kritiker. Hermann und Dorothea, sagt Hillebrand, der ganz kürzlich eine vortreffliche Geschichte der deutschen Nationalliteratur von Lessing bis auf die Gegenwart verfaßt hat, Hermann und Dorothea ist ein Bibelwerk deutscher Religion und Tugend. Und Gervinus meint, wenn jetzt ein alter Grieche wieder auferstünde, so wäre in der ganzen neueren Literatur Hermann und Dorothea das einzige Gedicht, das wir ihm ohne Verlegenheit anbieten dürften. Auch Rosenkranz hält wie Humboldt und Gervinus Hermann und Dorothea in künstlerischer Hinsicht für das vollendetste von Goethes Werken. Goethe selbst hatte eine besondere Vorliebe für dasselbe: er konnte es, wie er in den Tag- und Jahresheften erzählt, nie ohne Thränen der Rührung vorlesen.

      Ein ähnliches Urteil spricht unser eigenes Gefühl: wir haben alle das Gedicht, das uns hier beschäftigen soll, gelesen und genossen. Dennoch aber erhöht diesen Genuß Mitteilung und klares Bewußtsein seiner Quellen; die Wirkung, die ein schönes Gedicht auf uns macht, strebt von selbst nach einem angemessenen Ausdruck, und da ein wahrhaftes Kunstwerk, wie Hermann und Dorothea, immer halb unbewußt von dem künstlerischen Genius geschaffen ist, gleichsam eine Unendlichkeit von Absichten in sich birgt, so ist es zwar schwer, ein so beseeltes und ganz individuelles Gebilde treffend zu charakterisieren, gleichsam die Fäden seiner Textur aufzuwinden und den Eindruck, den es macht, kritisch in die einzelnen wirkenden


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