Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket). Sebastian Barry

Ein verborgenes Leben (Steidl Pocket) - Sebastian  Barry


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mein Vater, wann immer er wollte, müßig ein weiches Ledertuch über das Chrom gleiten lassen. Der andere Gegenstand, den ich erwähnen möchte, ist das Pianino, das ihm ein dankbarer Witwer vermacht hatte, da mein Vater für die Frau dieses Mannes eine Grube ausgehoben hatte, ohne Gebühren zu verlangen, denn die Hinterbliebenen waren in Not geraten. So war das Pianino in einer Sommernacht bald nach der Beerdigung auf einem Eselskarren eingetroffen, von dem Witwer und seinen beiden Söhnen unter verlegen frohem Lächeln hereingetragen und in unserem winzigen Zimmer aufgestellt worden. Vermutlich war es nie viel wert gewesen, trotzdem hatte es einen wunderschönen Klang und war, bevor es zu uns kam, noch nie gespielt worden, sofern sich seine Vorgeschichte am Zustand der Tasten ablesen ließ, die völlig unberührt aussahen. An den Seitenwänden waren Landschaftsszenen aufgemalt, nicht aus Sligo, vermutlich eher Szenen aus einem imaginären Italien oder dergleichen, aber im Grunde lief es auf das Gleiche hinaus: Berge und Flüsse mit Schäfern und Schäferinnen, die mit ihren geduldigen Schafen umherstanden. Mein Vater nun, der im Pfarramt seines Vaters aufgewachsen war, konnte dieses prächtige Instrument spielen und fand, wie bereits gesagt, Vergnügen an den alten Operetten des vorigen Jahrhunderts. Balfe hielt er für ein Genie. Da es neben ihm auf dem Hocker Platz für mich gab, begann ich aus Liebe zu ihm und aus großer Freude an seiner Spielfertigkeit alsbald die Anfangsgründe des Klavierspiels zu erlernen und erlangte allmählich eine gewisse Fertigkeit, ohne je das Gefühl von Mühe oder Last empfunden zu haben.

      Dann konnte ich ihn begleiten, und er pflanzte sich mitten im Raum auf, sofern man noch davon sprechen konnte, die eine Hand müßig und wie zufällig auf dem Sitz seines Motorrads, die andere in seinem Jackett wie ein irischer Napoleon, und sang, für mich hörte es sich jedenfalls so an, mit größter Vollkommenheit »Im Traume sah ich mich im Marmorsaal« oder andere Glanzstücke seines Repertoires, und übrigens auch jene kleinen neapolitanischen Lieder, die natürlich nicht, wie ich mir einbildete, zum Gedenken an Napoleon, sondern in den Straßen von Neapel entstanden waren – Lieder, die sich jetzt in Sligo im Exil befanden! Seine Stimme drang wie eine Art Honig in meinen Kopf, der mächtig summend nachwirkte und alle Ängste der Kindheit bannte. Hob sich seine Stimme, so hob sich zugleich sein ganzer Körper: Arme, Schnurrbartenden, ein Fuß, der ein kleines bisschen über dem alten Teppich mit seinem vielfachen Hundemuster pendelte, und seine Augen waren erfüllt von einer seltsamen Fröhlichkeit. Selbst Napoleon mit seinen hohen Ansprüchen hätte ihn nicht verachtet. In solchen Augenblicken entfaltete er in den ruhigeren Passagen der Lieder ein herrliches Timbre, das ich bis heute nicht überboten gehört habe. Als ich eine junge Frau war, machten sich viele herausragende Sänger auf den Weg nach Sligo und sangen in den Sälen unter dem Regen, und bei einigen der volkstümlicheren Lieder begleitete ich sie sogar auf dem Klavier und klimperte Töne und Akkorde für sie, vielleicht eher Hindernis als Hilfe. Doch in meinen Ohren reichte keiner von ihnen an die Stimme meines Vaters und deren eigentümliche Intimität heran.

      Und ein Mann, der angesichts drohender Katastrophen, wie sie so oft ohne jede Gnade oder Gunst über uns hereinbrechen, fröhlich gestimmt sein kann, ist ein wahrer Held.

      ZWEITES KAPITEL

       Dr. Grenes Aufzeichnungen

      (Leitender Psychiater, Roscommon Regional Mental Hospital)

      Dieses Gebäude ist in einem schrecklichen Zustand, wie schrecklich, konnten wir so richtig erst dem Bericht der Bauaufsicht entnehmen. Die drei mutigen Männer, die unter das uralte Dach kletterten, berichten, dass viele Dachbalken kurz vor dem Einsturz stehen, als spiegelten Haupt und Glieder der Institution die Verfassung vieler der armen Insassen darunter wider. Statt Insassen sollte ich schreiben: Patienten. Da das Gebäude jedoch Ende des achtzehnten Jahrhunderts als mildtätige Einrichtung, als »Heilstätte für die überlegene Behandlung kranker Sitze der Gedanken« errichtet wurde, kommt einem stets das Wort »Insassen« in den Sinn. Wie heilsam und wie überlegen, darüber lässt sich heute nur spekulieren. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts herrschte dank der revolutionären Ideen verschiedener Ärzte in den Irrenanstalten tatsächlich eine Periode wirklicher Aufklärung: Zwangsjacken kamen nur selten zum Einsatz, gute Ernährung wurde für ratsam erachtet, ebenso viel Bewegung und geistige Anregung. Was ein großer Fortschritt gegenüber den Praktiken von Bedlam war, wo brüllende Bestien am Boden festgekettet waren. Danach wendeten sich die Dinge wieder zum Schlechteren, und kein feinfühliger Mensch würde freiwillig Historiker der irischen Irrenanstalten zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts sein wollen, mit ihren Klitoridektomien, Tauchbädern und Einläufen. Das vergangene Jahrhundert ist »mein« Jahrhundert, da ich zur Jahrhundertwende siebenundfünfzig war und es schwerfällt, in diesem Alter einem neuen Jahrhundert noch sein Herz und seine Aufmerksamkeit zu schenken. Fand ich jedenfalls. Und finde es noch immer. Leider bin ich nun schon fast fünfundsechzig.

      Da das Gebäude sein Alter so zwingend unter Beweis stellt, werden wir es räumen müssen. Im Ministerium heißt es, mit dem Neubau werde so gut wie unverzüglich begonnen. Das mag zutreffen oder eine leere Phrase sein. Aber wie sollen wir in unserer Arbeit fortfahren, bis uns der Neubau wirklich zur Verfügung steht, philosophisch gefragt: Wie können wir eine Vielzahl von Patienten, deren DNA sich höchstwahrscheinlich längst mit dem Mörtel des Gebäudes vermischt hat, hier herauslösen? Im Haupttrakt sind fünfzig steinalte Frauen untergebracht, so alt, dass ihr Alter etwas Ewiges, etwas Fortdauerndes hat, und so bettlägerig und wund gelegen, dass es etwas Gewalttätiges hätte, sie an einen anderen Ort zu schaffen.

      Vermutlich sträube ich mich innerlich gegen die Vorstellung auszuziehen, so wie jeder vernünftige Mensch es tut, wenn ein Umzug erwogen wird. Zweifellos werden wir ihn mit dem üblichen Chaos und Trauma bewerkstelligen.

      Auch die Wärter und Pfleger sind längst Bestandteil des Gebäudes, wie die Fledermäuse unter dem Dach und die Ratten in den Kellern. Und von beiden gibt es, wie ich höre, eine Unzahl, auch wenn ich die Ratten Gott sei Dank nur ein einziges Mal gesehen habe, nämlich als der Ostflügel in Brand geriet und ich die schwarzen Schatten zu den unteren Türen hinaus und durch die Hecken in die Getreidefelder des Bauern flitzen sah. Als sie flohen, warf der Feuerschein eine seltsame Orangenmarmeladenfarbe auf ihren Rücken. Ich bin überzeugt, dass sie gleich, als die Feuerwehrleute Entwarnung gaben, wieder in das neue Dunkel huschten.

      Also, irgendwann müssen wir hier raus. Daher muss ich der neuen Gesetzgebung entsprechend beurteilen, wer von den Patienten wieder in die Gemeinschaft (was immer das ist, o Herr!) entlassen werden kann und welcher Kategorie jeder der anderen Patienten zuzurechnen ist. Viele von ihnen werden über die neue Einrichtung, den modernen Verputz, die gute Isolierung und Heizung entsetzt sein. Noch das Stöhnen des Windes in den Gängen, selbst an stillen Tagen – wie geht das eigentlich? vielleicht ein Vakuum, hervorgerufen von Kälte und Wärme in verschie denen Teilen des Krankenhauses? –, werden sie vermissen, die leise Hintergrundmusik ihrer Träume und ihrer »Verrücktheiten«. Da bin ich mir sicher. Die armen alten Kerle in den vor langer Zeit von den Krankenhausschneidern angefertigten schwarzen Anzügen, die nicht so sehr verrückt als vielmehr obdachlos und steinalt sind und wie Soldaten irgendeines vergessenen Unabhängigkeits- oder Indianerkrieges in den Räumen des älteren Westflügels hausen, werden sich außerhalb dieses verlorenen Grund und Bodens von Roscommon nicht wiedererkennen.

      Diese Notwendigkeit wird mich vor eine Aufgabe stellen, der ich lange aus dem Weg gegangen bin, nämlich herauszufinden, welche Umstände einige der Patienten hierhergeführt haben und ob sie tatsächlich, wie es in einigen tragischen Fällen zutraf, eher aus sozialen als aus medizinischen Gründen eingewiesen wurden. Denn ein so großer Narr bin ich nicht, zu glauben, dass alle »Irren« hier drin wirklich verrückt sind oder es waren, bevor sie hierherkamen und von einer Art viraler Verrücktheit erfasst wurden. In der allwissenden breiten Öffentlichkeit, oder sagen wir: in der öffentlichen Meinung, wie sie sich in den Zeitungen niederschlägt, gelten diese Menschen als »freiheitswürdig« oder »entlassungswürdig«. Was durchaus zutreffen mag, doch Kreaturen, die so lange im Zwinger gehalten und eingesperrt wurden, empfinden Freiheit und Entlassung als äußerst fragwürdige Errungenschaften, so wie die osteuropäischen Länder nach dem Kommunismus. Und auf gleiche Weise spüre ich in mir einen sonderbaren Widerwillen dagegen, irgendjemanden gehen zu sehen. Woher kommt das? Ist es die Besorgnis des Zoowärters? Werden sich meine Polarbären auch am Pol


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