Wozu lesen? (Steidl Pocket). Charles Dantzig

Wozu lesen? (Steidl Pocket) - Charles Dantzig


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nennt und was kaum mehr ist als ein paar Tischmanieren. Man nehme das Argumentieren. Ich bezweifle, dass man es wirklich wertschätzt. Fordert ein Kind die Eltern mit seiner Argumentierfreude heraus, schimpfen sie es einen Besserwisser. Und dann die vielseitigen Beschimpfungen aus dem Feld der Literatur. Wer sich gern mit Geschriebenem beschäftigt, ist eine Leseratte oder ein Bücherwurm, wer sich nicht kurzzufassen versteht, erzählt Romane, und wer zur Hysterie neigt, macht Theater. Man stelle sich den Skandal vor, wenn ich es wagte, mit derselben Verachtung »Was für eine Fleischerei!« zu sagen. Die Fleischerinnung würde mir den Prozess machen, es gäbe eine Fernsehdebatte, man würde mich drängen, als reuiger Sünder aufzutreten. Und man hätte ja Recht. Keine Gruppe ist per se hassenswert. Leute, die das Lesen und die Literatur verunglimpfen, sollten sich selbst anklagen und zugeben, wie viel Gutes im »Buchwissen« steckt. Für mich jedenfalls gilt, dass fast alle guten Dinge, die ich gelernt habe, aus Büchern stammen. Und mein Verständnis der Welt oder das bisschen Verständnis, das ich von ihr habe, hat sich erst in dem Moment zu trüben begonnen, als ich dem Buchwissen meine persönliche Erfahrung hinzufügte.

      Meine ganze Kindheit hindurch hieß es: »Nun spiel doch mal im Garten!« Zwar hielt man das Lesen nicht für schädlich, so vulgär ist meine Familie nicht, aber man beklagte die fehlende Abwechslung. Denn ich kannte nur einen einzigen Zeitvertreib: lesen. Um meinen Eltern eine Freude zu machen, spielte ich hin und wieder. Unter den verzückten Blicken meiner Mutter schob ich ein kleines Auto über eine mit Kreide gezeichnete Straße und langweilte mich dabei gehörig. Ich glaube, als Kind verabscheute ich Pflichten, besonders die eine: zu spielen. Beim Lesen hatte ich sehr viel mehr Spaß als beim Spielen oder gar beim Sport. Ich beschäftigte mich mit meinen Spielzeugautos, und wenn das elterliche Bedürfnis nach kindischen Dingen befriedigt war, wandte ich mich wieder meinem größten Glück zu: dem Lesen, das so viel interessanter ist als jede Form der Zerstreuung.

      Lesealter

      Als Kind predigt Madame du Deffand ihren Klassenkameraden den Atheismus. Man schickt einen Priester zu ihr, niemand Geringeren als den Prediger Massillon. Er eilt voller Unruhe zu ihr, arbeitet er doch an der Grabrede für Ludwig XIV., die er in zehn Jahren halten wird. Raschelnde Soutane. Er schließt sich mit dem Kind ein. Sie unterhalten sich. Wie hart wird die Strafe wohl ausfallen!, murmeln die Schwestern, die fürchten, zu weit gegangen zu sein. Bischof Massillon kommt heraus. Die kleine Schar tritt zu ihm. »Sie ist charmant«, lautet sein Urteil.

      Charmant war vor allem die Epoche der Aufklärung jedenfalls für eine Oberschicht von fünftausend Leuten. (In meiner Familie wird man zu dieser Zeit in der Küche Kochtöpfe gescheuert haben.) Man könnte glauben, inzwischen habe der Geist der Mäßigung triumphiert, aber keineswegs, die revolutionären Kräfte der Vergangenheit sind da, frisch wie eh und je, und auch heute wieder werden wir von Religionsstürmen umtost: Einen Tag nach dem Erdbeben in Port-au-Prince 2010 gingen zehntausend Zeugen Jehovas – zehntausend! – unter der Führung eines Geistlichen auf die Straße und schrien: »So stand es geschrieben! Luxus und Unzucht wurden bestraft! So stand es geschrieben!« Die Frömmigkeit ist die Rache der Armen, die Katastrophe der Trost der Unglücklichen. Und die Illusion umgibt das alles mit einem Heiligenschein. So kam es, dass diese Unglücklichen – weit härter getroffen als die Reichen, welche die Mittel hatten, das Land zu verlassen oder ihr Haus wieder aufzubauen, wenn es dem Beben nicht ohnehin standgehalten hatte – unter der Führung von Scharlatanen tatsächlich Genugtuung empfanden. Unser Bedürfnis nach Aberglauben ist unersättlich.

      Ich war, wie Madame du Deffand, ein atheistisches Kind. Ohne öffentliches Bekenntnis, still und leise. Der Kommunionunterricht war für mich die Langeweile auf Erden und die Beichte ein Skandal. Erst besorgt und dann verärgert darüber, mir glaubhafte Sünden ausdenken zu müssen, fand ich mich trotzdem damit ab. Das Einzige, was mich wirklich empörte, war, dass ich mich in der Messe derart langweilen musste. Zum Glück hatte mir meine überaus fromme Großmutter mütterlicherseits eine Lederhülle für das Messbuch geschenkt. Darin versteckte ich Stendhals Kartause von Parma und las diese mit einer Passion, die den Kirchendamen zu Herzen ging.

      Alles was nicht meinem Alter entsprach, mochte ich damals sehr. Schon seit Jahren stibitzte ich aus der Bibliothek meines Vaters Verlaine und Musset, die ersten beiden Schriftsteller für Erwachsene, die ich las. Schenkte man mir Unterhaltungsliteratur, war ich unzufrieden. Ich weiß noch, wie schockiert ich war, als ich mit elf oder zwölf einen Jules Verne geschenkt bekam. Das Bild dieses Skandals ist mir noch gegenwärtig, der Einband des Taschenbuchs mit derselben Illustration wie auf der Hetzel- Ausgabe. Man hielt mich für ein Kind! Ha! Erwachsene, ich hatte euer Komplott durchschaut! Uns durch harmlose Lektüre gefügiger machen! Um mich davor zu schützen, hatte ich meine Höhle des Platon, die Bibliothek meiner Familie. Alle Schätze dieser Welt lagen dort griffbereit. Ich erforschte sie wie ein Archäologe, der zwischen Tausenden von Sarkophagen die Qual der Wahl hat. Ich brauchte sie nur zu öffnen, damit die Mumien zu mir sprachen, sangen. Ich war sehr empfänglich – und bin es noch – für etwas, was ich damals natürlich nicht zu benennen vermochte, etwas, was man als die Melodie des Denkens bezeichnen könnte. Vielleicht ist mit ihr ein weiterer Wesenszug der Literatur benannt.

      In der Adoleszenz verdunkelt sich alles und wird undurchdringlich. Noch heute erinnere ich mich an diesen leidvollen, schmerzlichen Prozess, in dem ich mein sicheres Gespür für die Welt verlor. Ich verstand gar nichts mehr. Plötzlich ging es mir wie den Unglücklichen von Haiti: Im Alter von ungefähr sechzehn Jahren hatte ich durch die Lektüre einen Anfall von Katholizismus. Der Mann aus Nazareth von Anthony Burgess, eine Lebensgeschichte Jesu, hatte mich so getroffen, dass ich anfing, an Gott zu glauben. Die literarische Nachahmung anderer ist für uns Schriftsteller ein wichtiger Antrieb, und an diesem Roman hatte mir Zweierlei gefallen: der Rhythmus und eine Kritik. Der Rhythmus war kraftvoll, und der Widerspruch richtete sich gegen einen Gemeinplatz. Burgess schreibt, die Darstellungen, die Jesu als mageren Mann zeigten, seien absurd. Dieser Sohn eines Zimmermanns, der mit Holzstämmen hantiert und zu Fuß Palästina durchstreift habe, sei selbstverständlich ein robuster Kerl gewesen. Weder Burgess noch ich hatten an die barocken Kruzifixe gedacht, bei denen sich ergebene Bildhauer durchaus daran ergötzten, füllige Schenkel und knackige Bizeps zu gestalten. Genau das war meine Schwäche, war es lange Zeit und ist es zweifellos immer noch, diese Lust am Widerspruch. Man kann mir zugutehalten, dass ich mir genauso gern widersprechen lasse. In Meinungsverschiedenheiten habe ich immer ein Vergnügen, ja eine Kunst gesehen. Mir liegt weniger daran, Recht zu behalten, als daran, in Gesellschaft von Menschen zu sein. Man unterhält sich, man diskutiert, man streitet sich, man versucht zu argumentieren, man ist zusammen. Wer mir widerspricht, ist mein Bruder. Man könnte eine Warnung auf Buchrücken drucken: »ACHTUNG! Bücher, die Ihrer Meinung oder Ihrem Geschmack zu sehr entgegekommen, gefährden Ihre Gesundheit.«

      In schwachen Momenten kann das Lesen tatsächlich gefährlich sein. Verantwortlich dafür ist nicht das Buch und auch nicht der Leser allein, sondern das unglückliche Zusammentreffen beider. Auf die Liste der Bücher, die man in schwierigen Momenten nicht lesen sollte, gehört:

Buch Situation
Der Knacks, Francis Scott Fitzgerald wenn man sich am Rand einer Depression befindet
Mein Kampf, Adolf Hitler wenn man seit Jahren arbeitslos in einem Land mit hoher Inflationsrate lebt.

      und viele mehr. Im Grunde kann wohl alles gefährlich sein, auch das Leben, aber dem gibt man nie die Schuld.

      In der sechsten Klasse habe ich miterlebt, wie sich meine Mutter von einem besorgten Lehrer abkanzeln ließ, weil ich Baudelaire las. Ich vergötterte das Gedicht »Das frühere Leben«, welches ich auf die Rückseite eines Posters geschrieben und in meinem Zimmer in einen Schrank geklebt hatte und wie ein Geheimnis hütete. Beim Lesen offenbaren sich unzüchtige, wertvolle und fragile Dinge, man muss nicht alles davon preisgeben. Wenn man ein Buch so liest, wie man eben liest, das heißt still über die Seiten gebeugt, dann sind aus diesem Tête-à-Tête all die Schwindler, Rohlinge und Dummköpfe verbannt, die sich so gern entrüsten, sei es aus Eigennutz oder aus echter Überzeugung. Ich jedenfalls berauschte mich an


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