Jupiter 6: Gravo-Schock. Hubert Haensel

Jupiter 6: Gravo-Schock - Hubert Haensel


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Sprache der Mächtigen, die sogar in fernen kosmischen Bereichen verstanden wurde. »Eine Menge Fragen stellen sich, wenn ein geheimnisvolles Objekt urplötzlich in unserem Sonnensystem erscheint. Solange wir die Absicht dahinter nicht kennen, werden wir diesen Zustand nicht akzeptieren. Unsere Sicherheit hat Priorität. Auch wenn es sehr angenehm ist, dich in unserer Nähe zu wissen.«

      Sein Blick sprang über den tiefen Graben hinweg, mit dem das Artefakt bis zum untersten Würfelsegment freigelegt worden war. Rundgänge und Treppenstufen umgaben die Quader. Brückenelemente aus Eis erlaubten es, den Graben an etlichen Stellen zu überqueren. Auf gewisse Weise erinnerte ihn der in sich verschobene Turm deshalb an eine Spinne, die dick und fett in ihrem Netz lauerte. Ein seltsamer Gedanke war das – völlig unpassend.

      Auf einer der Eisbrücken sammelten sich Personen. Bull konnte nicht erkennen, was vorgefallen war. Wenn er sich nicht täuschte, lag dort jemand am Boden. Aber wie konnte das sein? Von dem Artefakt ging doch keine Gefahr aus, sondern nur Gutes. Hier konnte niemand Schaden nehmen.

      Sein kritischer Verstand meldete sich zurück. Hier stimmte etwas nicht. Das Artefakt war gut. Aber jemand war in seiner Nähe zusammengebrochen. Das war schlecht. Die Fakten passten nicht zusammen.

      »Bringt ihn oder sie ins nächste Zelt!«, ächzte er. »In der Eiseskälte könnt ihr nichts anderes unternehmen!«

      Keiner der Beteiligten schien ihn zu hören.

      Bull löste sich von dem Quader – und zögerte. Das Gefühl, etwas unbeschreiblich Schönes zu verlieren, machte es ihm schwer.

      Er lachte heiser.

      »Du versuchst, alle in deiner Nähe zu beeinflussen!« Nach wie vor bediente er sich der Sprache der Mächtigen. »Nicht mit mir! Es hätte mir schon auffallen müssen, als Immel von einer Reliquie sprach.«

      Dass er so viel redete, entsprang seiner inneren Zerrissenheit. Nun, da er sich von dem Würfel abwandte, wurde sein Zwiespalt deutlicher, der Wunsch, dem Artefakt nahe zu sein, obwohl ihn sein Instinkt warnte.

      Glücklich? Zugegeben, er fühlte sich immer noch zufrieden, Glück war indes etwas anderes, war ...

      ... zu wissen, dass der Zellaktivator unterhalb seines linken Schlüsselbeins zuverlässig arbeitete. Dass der eineinhalb mal zwei Zentimeter messende, dünne Chip nicht nur Krankheiten von ihm fernhielt, sondern jeden Alterungsprozess verhinderte.

      Ist das alles?, dachte Bull verwirrt. Bin ich so bescheiden geworden?

      War der Wunsch nach Unsterblichkeit wirklich bescheiden? Vor allem: Gab es Dinge, die einem Menschen mehr bedeuten konnten? Bull fragte sich, wie viele in der Hoffnung, das ewige Leben zu erlangen, in den Tod gegangen waren.

      Er wandte sich vollends um.

      Nach den ersten beiden Schritten auf dem schmalen Eisband hielt er zögernd wieder inne. Ein Schwindelgefühl machte ihm zu schaffen und wollte ihn zwingen, sich erneut an dem Quader abzustützen.

      Da kennst du den alten Bull schlecht! Verdammt schlecht sogar. Wenn du ein Kräftemessen suchst, das kannst du haben!

      Er biss sich kräftig auf die Zunge, drei Mal, bis es blutete. Der Schmerz und der leicht metallische Geschmack klärten seine Gedanken. Es gelang ihm, die Beeinflussung zu überwinden.

      Er konzentrierte sich auf den nächsten Schritt. Seine Benommenheit wich einem heißen Aufwallen unter der Haut. Sekunden später spürte er die belebenden Impulse des Aktivatorchips – und fragte sich, ob das Artefakt ihn verstanden hatte.

      Bull schritt schneller aus und stieg einige Eisstufen höher. Auf der Brücke drängten sich mittlerweile mindestens fünfzehn Personen. Zwei Roboter schwebten von der anderen Seite heran.

      Mit einem Schwall von Störgeräuschen meldete sich der Helmfunk.

      *

      »Reginald, endlich!« Hannan O'Haras Seufzen klang erleichtert, als hätte sie sich Sorgen gemacht.

      Im Helmdisplay sah Bull nur ein verzerrtes Bild der Kommandantin, eigentlich nicht mehr als ihr hochgestecktes Haar und dass sie mit beiden Händen versuchte, ihre Frisur zurechtzurücken. Prompt fragte er sich, weshalb die Frau so hartnäckig darauf verzichtete, ihre Haarfülle mit den üblichen Antigravklammern zu bändigen. Genau das wäre angebracht gewesen. O'Haras Anruf erinnerte ihn zugleich daran, dass er nicht nur wegen des Artefakts nach Ganymed gekommen war.

      »Gibt es Probleme?«, wollte er wissen.

      Was die Kommandantin der CHARLES DARWIN II antwortete, blieb unverständlich. Bull sah O'Haras Gesicht wie in einem Zerrspiegel vor sich. Im einen Moment schwollen ihre Augen riesig an und sezierten ihn beinahe, dann schien ein Pferdegebiss nach ihm zu schnappen.

      Reginald Bull versuchte, die Wiedergabe zu ignorieren. Mit ihrem dunklen Teint und den vollen Lippen entsprach die Frau dem gängigen Schönheitsideal. Ihre einzige Marotte war das toupierte Haar.

      »Probleme?« O'Hara klang schrill, als werde eine Aufzeichnung extrem schnell wiedergegeben. »In Jupiternähe ist eine hyperenergetische Schockwelle durch den Raum getobt.« Die Stimme rutschte mit jedem Wort tiefer in den Bass. »Nicht nur der Funkverkehr wurde lahmgelegt, auch die Triebwerke versagten minutenlang. Probleme ist eine etwas schwache ...«

      »Wie weit ist die DARWIN von Ganymed entfernt?«

      Die Kommandantin reagierte nicht darauf. Die Bildsequenz wirkte, als sei sie eingefroren. Einen Lidschlag später erlosch die Wiedergabe.

      »Reginald Bull ruft die CHARLES DARWIN II! Was ist los bei euch?«

      Schweigen.

      Die spärlichen Anzeigen im Helmdisplay gaben keinen Hinweis darauf, warum der Kontakt nicht wieder zustande kam. Bulls SERUN war nicht das hochwertigste Raumanzug-Modell, sondern gehörte zu den Downsize-Versionen. Der Montur fehlten einige Ortungsapparaturen und technische Spielereien, die man für gewöhnlich gar nicht vermisste, weil sie höchst selten benötigt wurden. Der Vorteil des SERUN Warrior III ds war vor allem, dass er den Eindruck eines klobigen Schutzanzugs vermied. Er erfüllte einerseits seine Aufgabe in widrigem Terrain ausgezeichnet und wirkte zugleich sogar auf diplomatischem Parkett nicht deplatziert.

      »Hannan ...!«

      Eine Meldung wurde im Display eingeblendet: »Der Funkkontakt wurde von der CHARLES DARWIN II aus abgebrochen.« Stirnrunzelnd nahm Bull den Hinweis zur Kenntnis.

      Abrupt wandte er sich um. Unschuldig hell, von einem matten Leuchten umflossen, erhob sich der Quaderturm aus dem ewigen Eis. Aus der Distanz sah Bull den fahlen Schimmer weitaus besser als von Nahem.

      Ich finde heraus, was sich hier abspielt!, dachte er heftig. Gegen eine Verständigung habe ich weiß Gott nichts einzuwenden – aber wer oder was immer du sein magst, lass dir nicht einfallen, hier alles durcheinanderzubringen. Ich mag keinen Ärger, darauf reagiere ich allergisch!

      Das Artefakt verwirrte ihn. Möglich, dass ausgerechnet seine Mentalstabilisierung dem gegenseitigen Verständnis im Weg stand. Andererseits hatte er bislang von keinem der Wissenschaftler erfahren, was die Quader erzählten. Nicht nur die Kapazitäten aus Galileo City behaupteten, dass dieses Objekt zu ihnen sprach. Die beiden terranischen Hyperphysiker und der Dimensionstheoretiker hatten sich ebenfalls dergestalt geäußert.

      Bull vermutete, dass das Artefakt entsprechende Empfindungen in ihnen wachrief. Ob tatsächlich Substanz dahintersteckte, konnte er noch nicht erkennen. Dieses Ding vermittelte Gefühle, so viel stand für ihn jedenfalls fest, und es waren durchaus angenehme Empfindungen.

      Das an sich war nicht negativ zu bewerten. Womöglich verfügte das Artefakt aus dem Eis über keine andere Möglichkeit, sich verständlich zu machen.

      Gefühle, überlegte Bull, gehörten zur Psyche der meisten intelligenten Wesen. Über Gefühle ließen sich Bereiche des Unterbewussten ansprechen, die für Worte oder Bilder allein nur schwer zugänglich waren.

      Er betrat die Eisbrücke. Aus seiner zuvor schlechten Perspektive hatte er richtig erkannt, dass jemand zusammengebrochen war. Nun sah er


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