Pompeji. Massimo Osanna
bis zu einem bestimmten Moment teilnehmen durften, und denen, die von bestimmten Phasen der Zeremonie ausgeschlossen werden konnten: Rang und zwischenmenschliche Beziehungen wurden auf diese Weise konsolidiert. Wir haben es also mit elitären rituellen Praktiken zu tun, die darauf abzielten, die Gruppe zu stärken. Der gemeinsame Nenner waren bestimmte Schlüsselwerte der Gesellschaft, unter denen das Heldentum wohl der herausstechendste war: Man denke an die Weihung von Waffen als Symbol einer solchen Ideologie, an denen der hohe Status des Weihenden klar abzulesen ist.31
Wenn es möglich ist, in den Besuchern des Heiligtums Personen etruskischer Sprache und Kultur auszumachen, welche Gottheit wurde dann angerufen, welche war Adressat der Gebete und Weihgaben in diesem heiligen Bezirk Pompejis? Nach einer weiteren Gruppe von Gefäßen mit Inschriften scheint auch die verehrte Gottheit der etruskischen Welt zu entstammen. In einige Becher ist das Wort apa, etruskisch „Vater“, eingeritzt (Abb. 40). Es handelt sich offensichtlich um die „generische“ Evokation der in unserem Heiligtum verehrten Gottheit, deren Name vielleicht, wie häufig an sakralen Orten, tabuisiert war und nicht ausdrücklich ausgesprochen werden durfte. Ein Gott namens „Vater“ also?
In Etrurien ist dieser Beiname in Götteranrufungen häufiger zu finden, sei es in Heiligtümern, in denen, wie in unserem Fall, der wahre Name der Gottheit nicht genannt ist (von Volterra bis Cerveteri), sei es im Zusammenhang mit Göttern, die durchaus auch mit ihrem eigenen Namen angesprochen wurden, wie im Fall von Śuri, einer dem griechischen Apollon entsprechenden Gottheit, die im Heiligtum von Pyrgi, der Hafensiedlung von Cerveteri, verehrt wurde. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang sind die Befunde aus Orvieto: In einer heiligen Stätte, die wie das Heiligtum des Fondo Iozzino bei Pompeji im unmittelbaren Suburbium der Stadt gelegen war, wurde in archaischer Zeit Śuri kultisch verehrt (der in den Widmungen auf Gefäßen als apa erscheint), später aber Tinia (lateinisch Jupiter oder griechisch Zeus), der durch den Beiname Calusna, genau wie der Gott in Pompeji, als Unterweltsgottheit charakterisiert war.32
Abb. 40 Apa, „Vater“: Auf mehreren Exemplaren einer Gruppe von im Heiligtum entdeckten Trinkbechern ist immer wieder dieses Wort zu finden. Die Gottheit wurde also nicht mit ihrem wirklichen Namen genannt, sondern mit einem Attribut, das sich auf Zeus, den Göttervater, beziehen könnte. (Foto: C. Pellegrino)
In vielen Heiligtümern wurde die Gottheit „Vater“ zusammen mit einer weiblichen Gottheit angerufen: im Heiligtum von Pyrgi beispielsweise mit einer Göttin namens Cavatha, die als „Tochter“ (seχ) bezeichnet wird; und in einem anderen Heiligtum, in Cerveteri (im Örtchen Vigna Parrocchiale), in Verbindung mit der Göttin Vei.33 Möglicherweise gilt dies auch für unser Heiligtum. Denn die jüngeren Befunde aus hellenistischer Zeit (2. Jahrhundert v. Chr.), zu denen eine Reihe schöner Terrakottastatuen und eine Inschrift gehören, die eine deiva, also eine Göttin erwähnt, suggerieren die Präsenz weiblicher Gottheiten im Heiligtum.34 Für die Identifikation der verehrten Gottheiten sind die Befunde der späteren Nutzungsphasen des Heiligtums, aus samnitischer Zeit (4. bis 2. Jahrhundert v. Chr.), als das Heiligtum nach einer Unterbrechung im 5. Jahrhundert v. Chr. wieder intensiv besucht wurde, von großer Bedeutung.
Die Debatte über die Bestimmung der in diesem Heiligtum verehrten männlichen Gottheit ist noch nicht abgeschlossen. Ich persönlich neige sehr dazu, sie als Jupiter Meilichios zu identifizieren, also als den Gott, der in einer langen oskischen Inschrift des 2. vorchristlichen Jahrhunderts erwähnt wird, die man in der Nähe der sogenannten Porta di Stabia (des großen Tors in der südlichen Stadtmauer Pompejis zum Hafen und nach Stabiae hin) gefunden hat.35 In der Inschrift wird ein dem Gott geweihter Kultplatz als Orientierungspunkt erwähnt, um Entfernungen entlang der „Via Pompeiana“ zu berechnen, womit wohl die Straße, die von diesem Tor aus der Stadt herausführte, gemeint war. Wie gesagt: Im Heiligtum des Fondo Iozzino, das in hellenistischer Zeit (Ende 4. bis 1. Jahrhundert v. Chr.) eine neue Blütezeit erlebte, wurde wohl ein chthonischer Gott verehrt, Jupiter Meilichios, sowie eine Göttin, vielleicht Ceres. Nach der großen Menge an Trinkgefäßen zu urteilen, behielt der Wein in dieser Nutzungsphase des Heiligtums seine zentrale Rolle in der Opferpraxis.
Die neuen Ausgrabungen sind also durchaus imstande, uns in Erstaunen zu versetzen. Manche Funde sind spektakulär, manche erhärten Hypothesen aus zwei Jahrhunderten pompejanischer Forschung. Die jüngeren Entdeckungen im Fondo Iozzino erweisen sich unter mehreren Gesichtspunkten als wichtig: für die Rekonstruktion der Kultpraktiken und, vor allem, der frühen Stadtgeschichte. Die neu entdeckten Inschriften, von denen hier nur einige Beispiele herausgegriffen und besprochen werden konnten, vermögen einzelne Komponenten der Stadtwerdung Pompejis und deren kulturellen Kontext zu erhellen, der stark von Mobilität und Migration geprägt war.36
Das „Mysterium“ der Ursprünge Pompejis verklingt im Nachhall eines reichen epigrafischen „Archivs“: Die eingeritzten Worte zeichnen das Bild einer in Sprache und Kultur etruskischen Stadt.
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