Die Sieben Weltwunder. Johannes Thiele
gern der Versuchung nach, aus den Maßen der Großen Pyramide und ihrer Ausrichtung alles Mögliche und Unmögliche herauslesen zu wollen. Dass die Ägypter der Antike über ein vorzügliches geometrisches Wissen verfügten, kann nicht bestritten werden. Jedes Jahr mussten nach der Nil-Überschwemmung die verwischten Flurgrenzen wiederhergestellt und die Ackerflächen neu vermessen werden. Die Steuer wurde nach der Größe der Felder festgesetzt. Der Flächeninhalt von Vier- und Dreiecken konnte ebenso berechnet werden wie der eines Kreises: »dreieinsiebtel mal Halbmesser«, wie auf einem 3 500 Jahre alten Papyrus, der heute im Britischen Museum in London verwahrt wird, nachzulesen ist.
Schnitt durch die Cheops-Pyramide mit ihren Schächten und Kammern. (Nach G. Gyon)
Als Herodot, der griechische Reiseschriftsteller und »erste Historiker«, staunend vor den Pyramiden stand, erfuhr er, was damals durch zwei Jahrtausende überliefert war: Von ihm stammt die Information der »hunderttausend Arbeiter«. Denn zehn Jahre lang seien jeweils zehntausend Menschen mit den Vorarbeiten zum Bau der Cheops-Pyramide beschäftigt gewesen, während der drei Überschwemmungsmonate, in denen die Feldarbeit ruhte.
Der eigentliche Aufbau der Cheops-Pyramide hat dann bei jährlich vierteljährigem Arbeitsdienst noch einmal zwanzig Jahre gedauert: Zuerst sei ein Stufengebäude geschichtet worden, berichtet auch Herodot, dann habe man die Stufen ausgefüllt, schließlich seien die Pyramidenflächen von oben, von der Spitze her, mit vulkanischen Schleifsteinen geglättet worden. So seien die Riesenkristalle, deren Seiten tags die Strahlen der Wüstensonne, nachts das Mondlicht spiegelten, entstanden. Die Forschung hat diese alte Überlieferung im wesentlichen bestätigt.
Herodot berichtet, an der Großen Pyramide sei verzeichnet gewesen, wieviel man beim Bau allein für die Verpflegung der Arbeit, für Gemüse, Zwiebeln und Knoblauch ausgegeben hätte. »Wenn ich mich recht erinnere, was der Dolmetscher, der mir vorlas, gesagt hat, so waren es 1 600 Talente Silber.« Das wären umgerechnet rund 3,5 Millionen Euro.
Zum Bild der Pyramiden gehört die Sphinx, die zu ihren Füßen ruht: das größte Bildwerk der Menschheit, zwanzig Meter hoch und vierundsiebzig Meter lang. Herodot hat die Sphinx nicht erwähnt. Sollte er sie, überwältigt vom Gesamteindruck der Pyramiden, schlicht vergessen haben? Wahrscheinlicher ist, dass sie zur Zeit seines Besuches gar nicht zu sehen, weil wieder einmal zugeweht war. Immer wieder musste sie aus dem Wüstensand gegraben werden.
Sah sich die Sphinx zu Füßen der Pyramiden auch immer wieder von der Wüste bedrängt, die Pyramiden selbst konnte der heranwehende Sand nicht ernstlich bedrohen. Sie trotzten den Jahrtausenden, der Wüste und dem Menschen. Generationen haben das Weltwunder als Steinbruch benutzt, sie vermochten jedoch nicht mehr, als den Mantel herunterzubrechen.
Vor den Pyramiden verharrte Alexander der Große in Schweigen, verstummte Caesar, diktierte Napoleon seinen Tagesbefehl: »vierzig Jahrhunderte blicken auf euch herab!« Ernest Renan, der französische Historiker und Philosoph, hat das Alte Ägypten »ein Leuchtfeuer in den umnachteten Meeren der Urzeit« genannt. »Das große Ägypten der Pharaonen schläft und träumt«, schrieb Jean Cocteau, »nach seinem Untergang gleicht es einem verlassenen Bienenstock, den Hummeln in Besitz genommen haben.«
Kupferstich von Johann Fischer von Erlach
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