Reformierte Theologie weltweit. Группа авторов
und Haftzeiten wurde Niesel 1941 mit Redeverbot und Ausweisung aus Berlin belegt. Aus dieser Zeit stammt das Wort vom «Eisernen Wilhelm», der so selbstverständlich ins Gestapo-Gefängnis ging wie andere Menschen zu alltäglichen Verrichtungen. Von 1941 bis 1943 fand Niesel Zuflucht als Hilfsprediger in Breslau. Danach bot die lippische Landeskirche unter Landessuperintendent Wilhelm Neuser dem ständig Bedrohten Unterschlupf als Pastor der Gemeinde Reelkirchen. Auch während der Kriegsjahre war Niesel an Planung und Organisation der Bekennenden Kirche und ihrer Synoden beteiligt. Noch vor Kriegsende begann – mit englischer Genehmigung – Niesels Einsatz für den Wiederaufbau legitimer kirchlicher Strukturen, nur kurz in Lippe, sehr bald wieder – als Vertrauensmann des Bruderrates – auf der Ebene der Altpreussischen Union, sodann in der EKD, aber schliesslich in erster Linie in reformierten Kontexten.
2.3 Die Zeit des Kalten Krieges
Niesel zählte während des Kirchenkampfes nicht zu den «jungen Brüdern», sondern war vielmehr von der Bekennenden Kirche aus als Vertrauensmann der Theologiestudenten und als Dozent für sie verantwortlich. An vorderster Stelle für die Reformierten innerhalb der Bekennenden Kirche standen Ältere: Hermann A. Hesse, Karl Immer, Martin Albertz u. a. Während die einen zu jung, die anderen zu alt für neue Führungsaufgaben waren (oder verstorben), legte Niesel nach 1945 seine Rolle als Referent und Mitarbeiter ab und avancierte in der Tat zum ersten Mann der deutschen Reformierten. Als reformierter Vertreter wurde er zu einem der Sprecher des neu gebildeten Rates der EKD in Treysa berufen.25 |78| Im Jahr 1946 wurde er zum Moderator des Reformierten Bundes gewählt, im selben Jahr trat er die Pfarrstelle der reformierten Gemeinde in Schöller und die seitdem damit verbundene Dozentur an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal an – Professuren in Mainz und Bonn schlug er in den Jahren 1946 bis 1948 mehrfach aus.26 Wenn er auch anders als andere Leute der Bekennenden Kirche auf eine Hochschulkarriere verzichtete, so verabschiedete er sich dennoch nicht aus der Wissenschaft und der internationalen Calvin-Forschung. Niesels wissenschaftliche Verdienste wären darzustellen an den zahllosen Aufsätzen v. a. zu Calvin27, der Calvin-Bibliographie28, der Symbolik29 u. v. m. – diese Verdienste wurden durch fünf Ehrendoktorate anerkannt: Göttingen (1948), Aberdeen (1954), Genf (1958) und Strassburg (1964) und Debrecen (1967). Mehrfach war er Gastprofessor im Ausland: in Schottland, Amerika und Japan.
Niesel hat versucht, «das Erbe der Bekennenden Kirche», «den Ertrag des Kirchenkampfes» nach 1945 umzusetzen bzw. in der kirchenleitenden Praxis anzuwenden.30 Möglicherweise hat die Erfahrung des Kirchenkampfes dann in einer neuen Staatsform weniger innovativ gewirkt als vielmehr verhindert, dass aufgrund neuer Situationen auch neue theologische |79| Antworten gegeben werden konnten. Niesel sieht den modernen Menschen und damit auch den zeitgenössischen Christen «durch mächtige Propagandaapparate» bedrängt, sich «dem westlichen Denken oder der östlichen Ideologie zu verschreiben»31. Als ob nicht zu unterscheiden gewesen wäre zwischen den liberalen Demokratien des Westens und den totalitären Unrechtsstaaten des Ostens! Immer wieder spürt man bei Niesel eine gewisse Distanz zur staatlichen Macht, so dass ihm auch ein solennes Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat schwer zu fallen scheint. Bei allen möglichen Unterschieden, die Niesel freilich nicht benennt, sieht er «die Staaten» unterschiedslos als eine Grösse:
«Die Mächtigen der Erde, obwohl verschiedener Weltanschauung, scheinen sich in einem Punkte einig zu sein. Sie wetteifern miteinander an einer Art von Turmbau zu Babel, nur dass sie heute weniger bis in den Himmel vorzustossen suchen, als vielmehr in die Geheimnisse der Schöpfung eindringen wollen und diese damit zu zerstören drohen.»32
Niesel orientierte sich theologisch, kirchenpolitisch und politisch an Karl Barth und an Barmen.33 Die Thesen einer bereits für den Kirchenkampf |80| festgestellten «Verkirchlichung des deutschen Protestantismus»34 und einer «Prolongierung des Kirchenkampfes»35 nach 1945 wären an Niesels Tun gut zu überprüfen.
Die bereits genannten Arbeitsgebiete überschritt Niesel durch seine Mitarbeit im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und im Reformierten Weltbund. Höhepunkt seiner ökumenischen und kirchenpolitischen Karriere waren zweifelsohne die Jahre 1964 bis 1970, in denen er als Präsident des Reformierten Weltbundes die Welt bereiste. Diese Jahre waren freilich aber auch schon der Beginn einer Entfremdung vom zeitgenössischen Reformiertentum: Die Frankfurter Generalversammlung hatte 1964 noch den weltbekannten Calvin-Forscher und tapferen Kirchenkämpfer zum Präsidenten des Reformierten Weltbundes gewählt, und als solcher hat er in diesen Jahren sein Amt ausgefüllt, indem er nicht müde wurde, auf das theologische Erbe der Bekennenden Kirche und die reformierte Tradition hinzuweisen. Doch in den 1960er Jahren wurden die gesellschaftspolitischen und globalen Fragen nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Frieden auch im Reformierten Weltbund immer dringlicher. Niesels Verdienste um die Verschmelzung der Presbyterianer und der Kongregationalisten zu einem Weltbund 1970 in Nairobi wurden überschattet von kräftigen Dissonanzen.36
Als Niesel Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre seine kirchlichen Ämter niederlegte, gab es viel Lob. Aber alle Würdigungen zu seinem 70., 75. und 80. Geburtstag lassen doch erkennen, dass Niesels Person, seine Theologie und sein Führungsstil anachronistisch geworden waren. Es |81| kommt wohl nicht von ungefähr, dass seine Kirchenkampf-Erinnerungen37 von der Fertigstellung bis zur Publikation fast vier Jahre benötigten. Einigermassen unzeitgemäss erscheint dann auch Niesels «theologisches Testament», eine Vorlesungsreihe 1978 in Japan unter dem Titel «Lobt Gott, den Herrn der Herrlichkeit. Theologie um Gottes Ehre».38 In diesem letzten Buch vertritt Niesel politisch und kirchlich zwar durchgängig «progressive» Positionen, aber dem Buch haftet ein repristinierender Ton an, indem immer wieder auf Schrift und Bekenntnis rekurriert, nein: gepocht wird. – Wenige Wochen nach seinem 85. Geburtstag ist Wilhelm Niesel am 13. März 1988 in Königsstein im Taunus gestorben und im reformierten Dörflein Schöller nahe Wuppertal beerdigt worden.
3. Kirchen- und konfessionspolitische Argumentationsmuster
Konfessionelle Selbstbestimmung diente bei Niesel vor allem der Frage nach dem, was denn Kirche sei. Dass Niesel später so vehement für die Abendmahlsübereinkünfte von Arnoldshain und Leuenberg und für die EKD als Kirchengemeinschaft – und nicht etwa nur als ein mehr oder minder losen Bund von Landeskirchen – eintrat, findet seinen Grund nicht zuletzt in den im Kirchenkampf erkämpften Positionen. Es ging gerade nicht um konfessionelle Quisquilien, sondern um die Existenz und das Sein der Kirche. Bereits in der ersten gewichtigen Äusserung der Reformierten im Frühjahr 1933 markieren die Düsseldorfer Thesen mit einem Zitat der Berner Thesen von 1528 die grundsätzliche Bedeutung der Auseinandersetzungen: «Die heilige christliche Kirche, deren einiges Haupt Christus ist, ist aus dem Wort Gottes geboren, in demselben bleibt sie und hört nicht die Stimme eines Fremden.»39 Die bekenntniskirchlichen Reformierten |82| verweigern sich einem konfessionell-strategischen Denken nach Machtanteilen innerhalb einer organisatorisch neu zu ordnenden Kirche. Sie wollen nicht Anpassung, sondern Reformation, gehen deshalb auch nicht nur auf die veränderten gesellschaftlich-politischen Verhältnisse ein, sondern greifen in ihren Argumentationen weiter in die Geschichte des Protestantismus zurück.
In einem Vortrag vor der Ersten freien reformierten Bekenntnissynode im Januar 1934 in Barmen40 stellt Niesel fest, dass es einfach mit einem Bekenntnispostulat in der gegenwärtigen Lage nicht getan sei; andere Trennungen hätten sich aufgetan, reformatorisch-bibeltreue Kirche versus Neuprotestantismus oder deutschchristliche Häresie. Deshalb gälte: «Die Namen lutherisch und reformiert sind heute [1934] zu Vokabeln geworden, die nichts sagen, wenn sie nicht erläutert werden.»41 In den Unionskirchen gab es ja bereits ein Miteinander von lutherisch, reformiert und uniert bekennenden Gemeinden. Und da sich über die Konfessionsgrenzen hinweg ein neues, unter Umständen sogar gemeinsames Bekennen abzuzeichnen begann, ging es um die «Kernfrage»: «Ist unsere Kirche, der wir angehören, Kirche, oder ist sie es nicht? Dürfen wir in ihr die Kirche Jesu Christi glauben oder nicht?»42
Besonders innerhalb der Bekennenden Kirche wurde