Die leise Erweckung. Theo Volland
nachmittags von der Hausaufgabenbetreuung wieder abholt. Im Herbst traf ich die beiden bei meinen Besuchen viel im Freien an. Rein zufällig sah ich, dass Yusuf seinem Sohn rote Fußballschuhe gekauft hatte. Der Kleine liebte es, mit mir und seinem Papa zusammen Fußball zu spielen. Ich kickte mit, auf dem weiten Hof ihrer Asylunterkunft. Wir hatten eine Menge Spaß miteinander. In der kalten Jahreszeit saßen wir in ihrer Einzimmerwohnung beieinander, da gab es viel Zeit zum Teetrinken und für Erinnerungen.
Geboren ist Yusuf in Afghanistan, doch er lebte viele Jahre im Iran. Wie genau er nach Deutschland gekommen ist, hat er mir nie erzählt. Nur, dass er irgendwo auf der Flucht seine Frau zurücklassen musste. Die Details dieser Tragödie, wie sie getrennt worden sind, hat er mir leider nie erzählt. Ob sie je wieder Kontakt miteinander bekommen werden, ist fraglich. Wir beten dafür. Doch es ist nicht gut, ständig nach solchen Details zu forschen. Falls er das je erzählen möchte, höre ich ihm gerne zu. Aber zu viel nachzubohren, kann heilende Wunden wieder öffnen. Yusuf erzählt mir von seinem ersten Praktikum in einer Gärtnerei. Er hat einen grünen Daumen und liebt es, Anlagen und Gärten zu pflegen, wie schon vor seiner Flucht zu Hause im Iran. Seine zahlreichen Zimmerpflanzen sehen richtig kräftig aus. »Geschenke aus dem Praktikum«, erklärt er mir. Als Gärtner könnte er hier in Deutschland eine Zukunft haben, denke ich.
Später lernen wir Deutsch zusammen. Eigentlich lernt man ja immer, wenn man spricht und einander zuhört, doch ihm scheint es wirklich schwerzufallen. Fortschritte sehen wir nur langsam. Manchmal schreibt er einzelne Worte auf. Ich merke, dass er sich nicht in Deutsch, sondern in kritzeliger Lautschrift die Aussprache und Bedeutung der einzelnen Worte notiert. Vermutlich hat er noch nie eine fremde Sprache mit Vokabeln und Grammatik gelernt. Einmal zeigt er mir, wie er mit seinem Smartphone online Deutschlektionen hört. Ein Lehrer sagt die deutschen Sätze zuerst in Yusufs Muttersprache Farsi und übersetzt sie dann mit einem furchtbaren Akzent ins Deutsche. Im Hintergrund sitzt Yusufs Sohn vor dem Fernseher und schaut einen Zeichentrickfilm – allerdings nicht sehr leise. Unter solchen Umständen ist Deutschlernen alles andere als einfach.
Die Winterzeit wird für Yusuf eher langweilig und öde. Er versucht, es sich trotzdem gemütlich zu machen, mitten in aller Einfachheit das Leben zu genießen: Wir trinken viel Tee mit Kardamom zusammen, essen frisches Fladenbrot und Bohnen, weiße und rote. In einem großen Topf mit Öl, Tomaten und Gewürzen gegart, ohne Fleisch. Es schmeckt unglaublich lecker. Als ich versucht habe, Yusufs Essen zu Hause nachzukochen, war meine Familie vom Ergebnis nicht sehr begeistert. Für Yusuf stellt sich die Frage, wohin mit seiner ganzen Energie und Langeweile während der kalten Jahreszeit? Eine gute Idee ist das Fitnessstudio, viele seiner Freunde treffen sich dort.
An Weihnachten bringt sein Sohn einige Weihnachtsbasteleien aus seiner Schule mit nach Hause. Auf dem Fußboden breitet er Rentiere, einen Weihnachtsbaum und auch Geschenke aus. Ein Baum: Yusuf und sein Sohn erinnern mich an so einen Baum. Langsam, aber sicher schlagen die beiden Wurzeln hier, in ihrer neuen Heimat. Auch ein entwurzelter Baum kann unter guten Umständen und mit liebevoller Pflege in neuem Boden wieder anwachsen. Ich lächle leise, als ich bei ihnen sitze. Was Weihnachten für uns bedeutet, warum es in unseren Wohnzimmern einen Christbaum gibt, was der Ursprung dieser besonderen Zeit im Jahr ist – von diesen Dingen erzähle ich gern.
Wir kennen uns jetzt seit einem halben Jahr. Ich bin beeindruckt, wie Yusuf alles organisiert und Schritt für Schritt vorwärtskommt. Wäschewaschen, Kochen für sich und seinen Sohn, Schule und die beginnende Sprachschule. Eigentlich ist Organisieren so gar nicht seine Rolle, doch er lernt jeden Tag ein wenig dazu. Bei einem Treffen mit vielen Flüchtlingen setzt er sich zu uns und folgt geduldig dem Gespräch in deutscher Sprache. Einer der Beteiligten erwähnt seine Kinderlosigkeit und wie sehr sie als Ehepaar sich welche wünschen. Was Yusuf dabei denkt, hat er mir nicht verraten. Gerade dieser Bekannte schätzt ihn als guten, immer freundlichen Menschen mit Humor, der auch gerne mal über einen Witz lacht. Doch dieses Gespräch macht ihn sichtlich nachdenklich.
Yusuf ist ein unkomplizierter Mensch mit Charakter. Es wird noch ein langer Weg sein, bis er hier in Deutschland wirklich heimisch geworden ist und eine geeignete Arbeit gefunden hat. Als Gärtner hat er gute Chancen. Ob er seine Familie in nächster Zeit wieder trifft, bleibt offen. Seine Geschichte klingt nicht spektakulär, ohne ein schnelles Happy End, eine von vielen. Ich weiß auch nicht sicher, wie wichtig unsere christlichen Veranstaltungen für Vater und Sohn sind. Unser kompliziertes Deutsch, viele unserer gut gemeinten Argumente, die simplen Übersetzungen – sicher sein, ob es wirklich hilft, kann man nie. Dass Yusuf und sein Sohn trotzdem angesprochen wirken, sagt viel über ihr großes Interesse am christlichen Glauben und unserer Kultur aus. Der Heilige Geist wirkt in Yusufs Herzen. Mir zeigt es nur zu deutlich, wie wichtig ein freundliches und wertschätzendes Umfeld ist, es hilft den Menschen zu leben und die seelischen Wunden ihrer Vergangenheit zu heilen. So können entwurzelte Menschen langsam neue Wurzeln schlagen. Wie ein Baum, gemächlich, Stück für Stück, aber stetig. Wie schön, wenn wir gießen und pflegen können, und sehen, wie sie wachsen.
Die Frucht der Gerechtigkeit aber wird in Frieden denen gesät, die Frieden stiften.
Jakobus 3,18
Tamim will wissen, wer Jesus ist
Süddeutschland
Neugierig lächelt mich der junge Mann an und sagt: »Ich komme aus Afghanistan.« Er ist klein, ordentlich gekleidet, hat markante asiatische Gesichtszüge und dunkles, dichtes Haar. Mit seinem wachen Blick schaut er mir direkt in die Augen und beginnt zu erzählen.
Wir befinden uns irgendwo in Süddeutschland in einem Jugendkreis, bei dem ich einen Abend zum Thema Berufung halte. Junge Leute sind da, alle Christen. Es war nicht einfach, das kleine Gemeinschaftshaus in den verwinkelten Gässchen des kleinen Dorfes im Schwäbischen zu finden. Mitten im Stuhlkreis zwischen den 25 jungen Christen sitzt Tamim aus Afghanistan und strahlt mich an. Wie gut er in der Gruppe aufgenommen ist. Die anderen kümmern sich, reden und lachen mit ihm. Versteht er etwas von meinem Vortrag nicht, dann erklärt ihm der junge Deutsche an seiner Seite leise das Gesagte noch mal. Tamim ist aufmerksam dabei. Nach dem Vortrag kommt er auf mich zu und bedankt sich. Was er an diesem Abend über Jesus gehört hat, bewegt ihn noch sichtlich.
Ich frage, wie es ihm in Deutschland geht. »Gut«, meint er, »ich bin gerne hier.« Tamim, der vor ein paar Monaten erst ins Land gekommen ist, redet schon erstaunlich gut Deutsch. Als wir auf seine Familie in Afghanistan zu sprechen kommen, füllen Tränen seine Augen. Seiner Mutter gehe es gar nicht gut. Es schmerzt ihn, dass er nicht bei ihr sein kann. Ich nehme ihn fest in den Arm und frage ihn, ob ich für seine kranke Mutter und ihn beten darf. »Selbstverständlich!«, sagt er. Wir schließen die Augen und ich spreche ein kurzes Gebet für Mutter und Sohn. Danach frage ich Tamim, ob er Muslim ist. Vehement verneint er: »Von Geburt her eigentlich schon, aber mit dem Islam habe ich abgeschlossen«, sagt er. Der Grund? Muslimische Talibankrieger haben seinen Vater ermordet und seinem Bruder ein Bein weggeschossen. »Ich musste fliehen wegen der Terroristen«, erzählt er.
Ihren Glauben wolle er auf gar keinen Fall annehmen, meint er ernst. Außerdem störe ihn, dass er den Koran nur auf Arabisch lesen dürfe und nicht in der eigenen Sprache, das sei doch nicht normal. In die christliche Jugendgruppe gehe er gerne, weil ihn die Botschaft der Bibel interessiere.
Tamims Kindheit im Nordosten Afghanistans war wild. Gerne ritt er mit seinen Freunden durch die weiten rauen Täler des Hindukusch, erzählt er. Sie waren schon als Teenagerkinder schwer bewaffnet und haben durchaus auch mal eine Karawane mit Lapislazuli und Opium ausgeraubt. Ich bin beeindruckt, wie offen er erzählt. Noch mehr beeindruckt mich, wie sehr er sich bewusst ist, dass er ein Sünder ist und schon viel im Leben falsch gemacht hat. Tamim ist seit früher Kindheit auf der Suche nach einer Begegnung mit Gott und nach Vergebung, mehr noch jetzt in der Fremde. Als die Taliban zum Problem geworden sind und die Familie und Freunde aus ihrer heimischen Bergwelt fliehen mussten, haben amerikanische Christen ihm und seiner Familie sehr geholfen, erzählt er mir. Das hat sein Bild von uns Christen geprägt. »Ich will mehr über Jesus und die Bibel hören«, lächelt er mich an.