Die Schatzinsel. Robert Louis Stevenson
Rum nicht krieg, bin ich nur noch’n armes altes Wrack an der Leeküste. Mein Blut über dich, Jim, über dich und deinen blöden Doktor!« Er fluchte noch eine Weile weiter. »Guck mal, Jim, wie meine Finger zappeln«, verfiel er dann in einen bettelnden Ton. »Ich kann sie nicht still halten, es geht einfach nicht. Ich hab den ganzen elenden Tag noch keinen Tropfen gehabt. Dein Doktor ist ein Blödmann, sag ich dir. Wenn ich nicht bald’n bisschen Rum trink, dann kommen die Gespenster. Ein paar hab ich schon gesehen. Ich hab den alten Flint gesehen, dort in der Ecke hinter dir, so deutlich wie gemalt hab ich den gesehen. Und wenn die Gespenster kommen – und das werden so einige sein, ich hatte’n reichlich rauhes Leben –, dann schlag ich Krach. Dein Doktor hat doch selber gesagt, ein Glas würd mir nicht schaden. Komm, nun hol mir schon ’nen lütten Schluck Rum. Kriegst auch ’ne Goldguinee, Jim.«
Er geriet immer mehr in Erregung, und das bereitete mir Sorge wegen meines Vaters, der gerade an diesem Tage sehr schlecht dran war und Ruhe brauchte. Außerdem stimmte ja, was der Kapitän anführte: ein Glas hatte ihm der Doktor genehmigt, das konnte ich ihm getrost geben. Bloß dass er mich zu bestechen versuchte, kränkte mich.
»Ich will kein Geld von Euch«, entgegnete ich, »außer dem, das Ihr meinem Vater schuldet. Ein Glas sollt Ihr haben, aber nicht mehr.«
Als ich es ihm brachte, griff er gierig danach und trank es aus.
»Gut, gut«, sagte er, »jetzt geht’s mir schon was besser, eindeutig. Sag mal, Jungchen, wie lange, meint der Doktor, soll ich in der Koje hier liegen bleiben?«
»Mindestens eine Woche«, antwortete ich.
»Potz Teufel!«, rief er. »Eine Woche! Das geht nicht. Bis dahin bringen sie mir den Schwarzen Fleck. Die wollen mir jetzt den Wind abkneifen, die Drecklumpen, und sie sind verflucht nah dran. Drecklumpen – können nicht halten, was sie haben, und wollen dann noch klauen, was anderen gehört. Ist das vielleicht Seemannsbrauch, möcht ich wissen? Nee, meine Art war das nicht. Ich bin ’ne sparsame Natur. Ich hab mein gutes Geld nie verplempert oder verloren. Aber warte, die Halunken werd ich schon wieder drankriegen. Ich hab keine Angst vor denen. Ich setz einfach ein neues Segel und dreh ihnen wieder ’ne Nase.«
Während dieser Worte hatte er sich unter großen Schwierigkeiten vom Bett erhoben, was ihm nur gelang, weil er sich an meine Schulter klammerte, so fest, dass ich vor Schmerz fast aufschrie. Seine Beine wirkten, als er sie zu bewegen versuchte, wie eine leblose Masse. Der markige Inhalt seiner Worte stand in traurigem Gegensatz zur Schwäche der Stimme, mit der sie vorgebracht wurden. Als er es endlich geschafft hatte, sich auf die Bettkante zu setzen, konnte er vor Erschöpfung erst einmal nicht weiterreden.
»Der Doktor hat mich fertiggemacht mit seiner Abzapferei«, murmelte er. »Mir rauscht’s in den Ohren. Leg mich wieder hin.«
Bevor ich ihm recht helfen konnte, war er bereits von selbst zurückgesunken und lag eine Weile still da.
»Jim«, sagte er schließlich, »du hast doch vorhin den Seemann da gesehen?«
»Den Schwarzen Hund?«
»Richtig«, bestätigte er. »Den Schwarzen Hund. Der ist schon ’n schlechter Groschen. Aber die ihn losgeschickt haben, das sind noch miesere Kerle. So, und jetzt verrat ich dir was: Es geht um meine alte Seemannskiste. Hinter der sind sie her. Und sollt ich nicht mehr rechtzeitig wegkommen und sie mir den Schwarzen Fleck in die Hand drücken, dann machst du folgendes: schwing dich auf’n Pferd – reiten kannst du doch, oder? – also, schwing dich auf’n Pferd, und dann nichts wie ab zu … ach verdammt, ja, wenn’s denn sein muss – also: nichts wie ab zu diesem Fatzke von Doktor. Sag ihm, er soll zusammentrommeln, was er zur Verfügung hat – Amtspersonen, Wachleute und so weiter – und sie herbeordern. Hier im Admiral Benbow kann er dann ’nen Riesenfang machen: die ganze Mannschaft vom alten Flint, oder was noch von ihr übrig ist, alles Kerle, die von Anfang an dabei gewesen sind. Ich war Erster Steuermann, jawohl ja, ich war beim alten Flint Erster Steuermann, und ich bin der einzige, der die Stelle kennt. Er hat’s mir gesteckt, drüben in Savannah, als er auf’n Tod lag, so wie ich jetzt hier. Aber dass du mir ja nicht zu früh plauderst! Erst wenn sie mir den Schwarzen Fleck gebracht haben. Oder wenn du den Schwarzen Hund noch mal siehst. Oder gar den Seemann mit dem einen Bein, Jim! Dann wird’s allerdings höchste Zeit!«
»Aber was bedeutet denn der Schwarze Fleck, Käpt’n?«, fragte ich.
»Damit laden sie einen vor, Jungchen, wenn sie einem nicht mehr trauen. Ich sag dir Bescheid, sobald ich ihn gekriegt hab. Halt nur weiter scharfen Ausguck, Jim, dann mach ich mit dir Halbpart, bei meiner Ehre.«
Er faselte noch eine Weile weiter, aber seine Stimme wurde immer schwächer. Schließlich gab ich ihm seine Medizin. Er nahm sie bereitwillig wie ein folgsames Kind, wobei er bemerkte: »Wenn je’n Seemann Arznei gebraucht hat, dann ich jetzt.« Es dauerte nicht lange, und er fiel in einen tiefen, ohnmachtähnlichen Schlaf. Ich verließ das Zimmer. Was ich getan hätte, wenn mir nichts in die Quere geraten wäre, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hätte ich die ganze Geschichte dem Doktor erzählt, denn ich fürchtete um mein Leben: womöglich würde der Kapitän seine Offenherzigkeit im nachhinein bereuen und mich zu beseitigen trachten. Aber es kam anders als gedacht. Mein armer Vater starb ganz plötzlich am selben Abend, was natürlich alle übrigen Belange in den Hintergrund schob. Unser begreiflicher Schmerz, die Besuche der Nachbarn, das Begräbnis selbst und die ganze laufende Arbeit im Wirtshaus, die ja unterdessen weitergehen musste – all dies hielt mich so beschäftigt, dass ich kaum Zeit hatte, an den Kapitän zu denken, geschweige denn mich vor ihm zu fürchten.
Er kam am nächsten Morgen die Treppe herunter, natürlich völlig unberührt von dem, was um ihn herum geschah, und nahm seine Mahlzeiten wie gewöhnlich. Allerdings aß er wenig, dafür sprach er dem Rum zu, und zwar leider noch mehr als üblich. Ja, er ging so weit, sich an der Theke selbst zu bedienen, dabei derart finster dreinschauend und bedrohlich schnaubend, dass niemand ihn zu hindern wagte. Am Tag vor dem Begräbnis war er so betrunken wie eh und je. Es schockierte uns, dass er im Trauerhaus unbekümmert sein hässliches altes Seemannslied sang. Andererseits fürchteten wir angesichts seiner Schwäche um sein Leben. Auf den Doktor konnten wir nicht zählen; er war kurz nach dem Tode meines Vaters plötzlich zu einem viele Meilen entfernt wohnenden Kranken gerufen worden, was ihn eine Weile von uns fernhielt. Der Kapitän, ich sagte es schon, wirkte schwach, ja, er schien uns eher ständig schwächer zu werden als sich zu erholen. Er kletterte mühsam die Treppe hinab und hinauf, schleppte sich von der Gaststube in den Schankraum und wieder zurück; manchmal steckte er die Nase aus der Tür, um Seeluft zu riechen. Bei allen Gängen stützte er sich an der Wand ab und atmete schwer und schnell, als müsste er einen steilen Berg erklimmen. Mich sprach er nicht mehr persönlich an, verkniff sich die früheren Vertraulichkeiten; seine Bekenntnisse von neulich hatte er, vermute ich heute, vergessen, oder doch fast. Freilich neigte er jetzt noch mehr als früher zu jähen Stimmungswechseln und, soweit es seine Schwäche erlaubte, zu heftigen Ausbrüchen. Ferner hatte er inzwischen die beunruhigende Angewohnheit, im Rausch sein Entermesser blank zu ziehen und es vor sich auf den Tisch zu legen. Insgesamt aber schenkte er den Leuten um sich herum weniger Beachtung und schien ganz in seine Gedanken versunken, ja irgendwie geistesabwesend. Einmal etwa stimmte er zu unserem äußersten Erstaunen eine andere Melodie an, eine Art ländliches Liebeslied, das er in seiner Jugend gelernt haben mochte, ehe er dem Ruf der See folgte.
So lagen die Dinge bis zum Tag nach dem Begräbnis, einem Tag mit rauhem, frostigem und nebligem Wetter. Es war gegen drei Uhr, als ich einen Augenblick vor die Tür hinaustrat, voll trauriger Gedanken an meinen toten Vater. Da sah ich eine Gestalt auf der Straße, die langsam näher kam. Der Mann war offensichtlich blind: er tastete mit einem Stock vor sich her und trug eine breite grüne Blende über Augen und Nase. Er ging gebeugt, wohl vor Alter und Schwäche, und hatte einen alten, zerschlissenen Seemannsmantel an, mit einer Kapuze, die ihn geradezu bucklig erscheinen ließ. In meinem ganzen Leben ist mir keine furchterregendere Erscheinung begegnet. Er hatte schon fast das Wirtshaus erreicht, als er stehen blieb und in einem seltsamen Singsang die leere Luft vor sich anredete:
»Würde wohl ein freundlicher Mensch einem armen blinden Mann, der sein kostbares Augenlicht bei der glorreichen Verteidigung seines englischen Vaterlandes – Gott segne König