ad Hannah Arendt - Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Alfons Söllner
erlebt, sondern zur existentiellen Zeitgenossenschaft umgewandelt wird und aus diesem Schwung heraus großflächige Rückprojektionen erlaubt: Antisemitismus und Imperialismus, die Ideologien des 19. Jahrhunderts erscheinen als die Vorgeschichte eines destruktiven Gesamtprozesses, der in die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts einmündet und im Hitler-Faschismus zur Vollendung gelangt. Aber ist dieser Dreierschritt im einzelnen nachvollziehbar, steht diese wuchtige „grand narrative“ wirklich auf solidem Grund, sei es ein historischer, philosophischer oder eine Vermischung von beidem?
Am deutlichsten fassbar ist das fragliche Kontinuum der Erzählung am Komplex des Antisemitismus. Was als persönliches Erlebnis beginnt und mit Verfolgung und Vertreibung eine traumatische Vertiefung erfährt, wird zunächst in die Entstehungszeit des bürgerlichen Nationalstaates zurückprojiziert, erfährt im Kolonialismus und Imperialismus des 19. Jahrhunderts sicherlich eine andere, mehr nach außen gewendete Dynamik, doch setzt sich der eigentliche Kern dieser europäischen Gewaltgeschichte, die Ideologie des Rassismus ungebrochen ins 20. Jahrhundert hinein fort: Die faschistischen Bewegungen halten sich zwar zunächst an nationalstaatliche Pfade, doch setzt sich mit Hitlers Machtergreifung im Zentrum Europas eine totalitäre Gewaltpolitik durch, die schließlich den ganzen Kontinent mit Aggression und Krieg überzieht. Mit der schonungslosen Schilderung der totalitären Lagerwelt, die dem organisierten Genozid zuarbeitet, erreicht das Totalitarismus-Buch seine größte Eindeutigkeit, ausformuliert in einer philosophischen Sprache, die den deutschen Existenzialismus sowohl beerbt wie umdeutet.
Doch selbst wenn man solche Überlegungen zu konstruiert, jedenfalls nicht überzeugend findet – offensichtlich strebte Hannah Arendt im Totalitarismus-Buch keine geschlossene Erzählung an, sondern orientierte sich am Bauplan einer offenen Form. Welcher, wäre zu fragen! Damals wie heute steht der Leser vor einem ebenso weitläufigen wie komplexen Gedankengebäude, das man durch viele Türen betreten kann und aus dessen Fenstern ebenso viele Ausblicke möglich sind. Der erste der drei Essays, zugleich der längste, leitet daraus die Freiheit ab, Hannah Arendts erste Exilstation, die in der Literatur bislang wenig Beachtung gefunden hat, als wegweisend für ihre politische Lerngeschichte zu behaupten, die sich dann, über die 1950er Jahre hinaus als so produktiv erwies. Ihr „französisches Jahrzehnt“ dient als Leitfaden, um sich auf dem „weiten Feld“ des Totalitarismus-Buches zu orientieren, und gleichzeitig erscheint der französische Nationalstaat als konstruktives Modell, das – im Guten wie im Schlechten – durch die europäische Geschichte führt, bis es vor den totalitären Lagern der 1940er Jahre schockiert zum Stehen kommt.
Damit ist sicherlich nur ein Bedingungsfaktor genannt, der die historischen Exkurse des Totalitarismus-Buches so ausschweifend, aber auch unverwechselbar gemacht hat. Um das Bild zu komplettieren, könnte es nützlich sein, sich den dritten Teil des Buches getrennt vorzunehmen, um die hier durchgeführte Totalitarismus-Theorie in Beziehung zu setzen zu „anderen“, mehr oder weniger prominenten Werken aus der Feder von Hitler-Flüchtlingen. Der Vergleich, der im zweiten Aufsatz des vorliegenden Buches angestrebt wird, ist nicht primär auf eine Bewertung angelegt, vielmehr soll Hannah Arendts „philosophischer“ Zugriff durch den idealtypischen Kontrast herausgestellt werden. Dafür eignet sich eben der Totalitarismus-Komplex am besten, weil er durch die politische Feindkonstellation, d.h. die prinzipielle Gegnerschaft gegenüber Nazi-Deutschland eine Gemeinsamkeit markiert, während jeder der Mitemigranten eigene theoretische und methodische Prägungen aus der Zeit vor Hitler mitbrachte, die jeweils zu alternativen Interpretationen führen konnten. Das Tableau, das sich daraus ergibt, ist pluralistisch und lässt das Totalitarismus-Buch in einem politiksemantischen Spannungsfeld erscheinen, dessen Dynamik sich in den 1940er Jahren steigerte und das man – natürlich verkürzt – durch den Übergang vom Faschismuszum Totalitarismusdiskurs kennzeichnen kann. Hier befindet sich die Stelle, an der Hannah Arendt in die Wissenschaftsgeschichte der Nachkriegszeit eintrat.
Der dritte Text des vorliegenden Buches ist als Rezensionsessay zum ersten Band der lange erwarteten Gesammelten Schriften entstanden. Er beschäftigt sich mit der turbulenten Phase im Schaffen von Hannah Arendt, die auf das Totalitarismus-Buch folgte, und verweist indirekt auf das vielleicht größte Desiderat der Arendt-Literatur, nämlich Auskunft darüber zu geben, wie dieses Buch in der Werkstatt der Autorin im Einzelnen „gemacht“ wurde. Wir wissen seit langem, dass viele Passagen der 1951 gedruckten Endfassung vorher als größere oder kleinere Essays in amerikanischen Zeitschriften erschienen waren – aber wie und nach welchen Gesichtspunkten hat die Autorin diese schon einmal publizierten Texte ausgewählt und umgearbeitet, um sie in das endgültige Buchformat einzupassen? Oder: welche Veränderungen hat Hannah Arendt vorgenommen, als sie den englischen Text von 1951 übersetzte und 1955 auf Deutsch herausbrachte? In der kreativen Dialektik von Essay und Buch lag offensichtlich eines der Produktionsgeheimnisse dieser Autorin – was verrät darüber die konkrete Machart des Totalitarismus-Buches? Auf den einschlägigen Band der Gesammelten Schriften darf man also gespannt sein!
Was aber die Werkentwicklung nach 1951 betrifft, so sieht es damit weit besser aus, zumal wenn man die hier aufgestellte Norm auf Hannah Arendts „Vita activa“ aus dem Jahr 1957 bezieht. Tatsächlich dürfte es einfacher sein, dieses Buch als „Klassiker“ zu bezeichnen, vielleicht sogar als „orthodoxen Klassiker“. Zwei Argumente lassen sich dafür stark machen, wenn man sich nicht mit der Aura der „politischen Philosophin“ begnügen will, die sich wirkungsgeschichtlich durchgesetzt hat, obwohl Hannah Arendt selber ihr bekanntlich abgeschworen hatte: Einmal ist „Vita activa“ sowohl dem Argumentationsaufbau wie der philosophischen Diktion nach keine offene, sondern eine geschlossene Form, zum andern war die Rückkehr zum politischen Denken der Antike tatsächlich programmatisch gemeint. Hannah Arendt wollte eine positive Tradition der politischen Philosophie wiederbeleben, deren Herzstück eine emphatische Theorie des politischen Handelns war. Sicherlich war damit der im Totalitarismus-Buch avisierte absolute Nullpunkt, der im Holocaust vollendete „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) nicht einfach beiseite gerückt, doch wurde jetzt der rettende „Tigersprung“ (Walter Benjamin) vorstellbar, der als Beute den Abglanz der Antike mit sich führte.
„Adieu, la France?“ – Frankreich im Frühwerk von Hannah Arendt
„Frankreich, das immer Modell für den Nationalstaat war, wie die Juden Modell der Minderheit“ 1
Wie ihr publizistisches und ihr nachgelassenes Werk selber, ist auch die Literatur über Leben und Wirken von Hannah Arendt längst unüberschaubar geworden. Versucht man sich darin zu orientieren, so erweist sich zumindest ein roter Faden als durchgehend präsent, nämlich die Erfahrung von Vertreibung und Flucht, die nicht nur Hannah Arendts persönliche Geschichte weit über die Lebensmitte hinaus geprägt, sondern auch die Entwicklung ihres Werks maßgeblich beeinflusst hat. Umso bemerkenswerter ist, dass die erste große Station auf dieser erzwungenen Wanderung, nämlich Hannah Arendts beinahe achtjähriger Aufenthalt in Frankreich zwar bekannt, aber in seiner Bedeutung kaum gewürdigt worden ist. Dabei ist offensichtlich, dass Frankreich und seine Geschichte in ihrem politiktheoretischen Erstling über den Totalitarismus häufig auftauchen, während ihr späteres Schlüsselwerk über die Revolution geradezu von der französischen Geschichte lebt, auch wenn es sich um eine scharfe Abgrenzung handelt.
Das Ziel dieses Aufsatzes ist weniger Hannah Arendts persönliche Frankreich-Erfahrung, die auch in der biographischen Literatur nicht dicht dokumentiert ist.2 Tatsächlich reicht die Mehrzahl der publizierten Briefwechsel nicht in die frühen 1930er Jahre zurück und ist damit zumindest für die erste Zeit in Paris wenig informativ. Trotzdem lassen sich die disparaten Facetten soweit zusammensetzen, dass ein Bild davon entsteht, wie Hannah Arendt in Frankreich gelebt und was sie dort erlebt hat, verlässlich jedenfalls insoweit, wie es zum Ausgangspunkt eines intellektuell so singulären wie politisch signifikanten Lernprozesses wurde. Das Exil als existentielle Erfahrung und als Exerzitium der Politisierung – dieser doppelte Topos spielt in der persönlichen Erinnerung Hannah Arendts eine ebenso große Rolle wie er durch die sog. Exilforschung nachträglich als das eigentliche Erbe der Epoche zwischen 1933 und 1945 bestätigt worden ist.
In diesem Sinne soll nach dem Stellenwert gefragt werden, der Frankreich in der Erfahrungsgeschichte einer deutschen Jüdin zukam, die in Philosophie