Pandemie! II. Slavoj Žižek
Es ist noch nicht alles hoffnungslos verloren, aber es braucht jetzt eine rasche und international abgestimmte Reaktion, die über Aufrufe nach freiwilligen Erntehelfern weit hinausgeht. Man muss Regierungsorganisationen einschalten, die Leute mobilisieren, um die Krise noch abzuwenden.
An dieser Stelle kann ich hören, wie meine Kritiker (und auch manche Freunde) in Gelächter ausbrechen und die spöttische Bemerkung fallen lassen, dass die Pandemie meinem Wirken als Philosoph ein Ende gesetzt hat: Wen interessiert schon eine lacanianische Deutung Hegels, wenn unsere Existenz in ihren Grundfesten erschüttert wird? Selbst Žižek muss sich nun mit der Frage befassen, wie wir die Ernte einholen können.
Doch könnten diese Kritiker keinem größeren Irrtum unterliegen. Die momentane Pandemie hat nicht nur soziale und ökonomische Konflikte zum Vorschein gebracht, die unterhalb der Oberfläche schon lange brodelten; genauso wenig stellt sie uns ausschließlich vor immense politische Probleme. Stattdessen wird immer deutlicher, dass sie weltweit unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe aufeinanderprallen lässt. Am Anfang der Krise sah es noch so aus, als würde sich eine allgemeine Form von globaler Solidarität durchsetzen, um vor allem die Risikogruppen zu schützen. Doch ist diese Solidarität, wie John Authers schreibt, allmählich „erbitterten kulturellen Grabenkämpfen gewichen, in denen gegensätzliche moralische Prinzipien auf den jeweils anderen wie metaphysische Granaten geschleudert werden. Während verschiedene Länder inzwischen ihren völlig eigenen Ansatz verfolgen, haben sich die USA schon fast in zwei eigenständige Nationen aufgespalten, deren Trennlinie zwischen Menschen mit Maske und Menschen ohne verläuft.“2
Dieser Konflikt ist ein wahrhaftig existenzieller, deshalb gibt es erst einmal keinen Anlass, sich über diejenigen lustig zu machen, die keine Maske tragen wollen. Warum er die Maske ablehnt, hat Brenden Dilley, Talkshow-Moderator aus Texas, folgendermaßen begründet: „Lieber tot als ein Trottel. Ja, das meine ich wirklich so. Ich würde gerade lieber sterben, als wie ein Idiot auszusehen.“ Dilley weigert sich, eine Maske zu tragen, da dies aus seiner Sicht der Minimaldefinition von menschlicher Würde widerspricht.
Aus diesem Grund ist es absolut angebracht, wenn ein Philosoph über die Obst- und Gemüseernte schreibt: Wie wir mit diesem Problem umgehen, hängt letztlich von unserer allgemeinen Einstellung gegenüber dem menschlichen Leben ab. Sind wir Libertäre wie Dilley und lehnen jeden Eingriff in unsere persönliche Freiheit ab? Sind wir Utilitaristen und nehmen den Tod Tausender von Menschen in Kauf, damit die Mehrheit wirtschaftlich gut dasteht? Sind wir Anhänger eines starken Staats und der festen Überzeugung, dass uns nur strenge Kontrollen und Maßnahmen vonseiten der Regierung retten werden? Sind wir Esoteriker und vertreten die Auffassung, die Pandemie sei eine Warnung der Natur oder eine Strafe für unseren verschwenderischen Umgang mit natürlichen Ressourcen? Vertrauen wir darauf, dass uns Gott lediglich prüfen möchte und er uns irgendwann einen Ausweg weisen wird? Jeder dieser Standpunkte impliziert eine bestimmte Vorstellung davon, was Menschen eigentlich ausmacht. So gesehen, wird jeder zwangsläufig zum Philosophen, der Vorschläge zur Bewältigung der Krise macht.
Was wir nicht wissen, was wir nicht wissen wollen und was wir tun können
In dem Film Die Marx Brothers im Krieg spielt Groucho einen Anwalt, der seinen Mandanten vor Gericht mit den folgenden Worten verteidigt: „Er mag wie ein Idiot reden und auch wie einer aussehen, aber fallen Sie nicht darauf rein. Er ist wirklich ein Idiot.“ In einer ähnlichen Weise sollten wir jenen antworten, die dem Staat grundsätzlich misstrauen und glauben, dass sich hinter dem Lockdown eine Verschwörung verbirgt, die uns unserer Grundrechte berauben will: „Der Staat verhängt offensichtlich gerade einen Lockdown, der unsere Freiheiten beschneidet, und er erwartet von uns, dass wir einander überwachen, um die Einhaltung der Regeln zu gewährleisten; darauf sollten wir aber nicht hereinfallen – wir sollten uns wirklich darum bemühen, die Lockdown-Verordnungen einzuhalten …“
Es ist bemerkenswert, dass die Forderungen nach einer Aufhebung des Lockdowns von beiden Enden des traditionellen politischen Spektrums kommen: In den USA werden sie von libertären Rechten geäußert, in Deutschland stellen sie hingegen kleine linke Gruppierungen. In beiden Fällen wird medizinisches Fachwissen als ein Instrument kritisiert, das angeblich zur Disziplinierung von Menschen eingesetzt wird, die wie hilflose Opfer behandelt werden und sich zu ihrer eigenen Sicherheit isolieren sollen. Es lässt sich unschwer erkennen, dass diese kritische Haltung in Wirklichkeit darauf beruht, von etwas nichts wissen zu wollen: Wenn wir die Gefahr ignorieren, wird es nicht so schlimm werden. Wir werden irgendwie schon durchkommen … Die US-amerikanische libertäre Rechte behauptet, man solle die Lockdown-Verordnungen lockern, damit sich Menschen in ihrem Leben wieder frei entscheiden können. Doch von welcher Freiheit ist hier eigentlich die Rede? Der ehemalige Arbeitsminister Robert Reich schrieb dazu Folgendes: „Trumps Arbeitsministerium hat beschlossen, dass beurlaubte Angestellte den Wunsch des Arbeitgebers nach Wiederaufnahme ihrer Arbeit ‚akzeptieren müssen‘ und dadurch ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld verlieren, auch wenn die Coronapandemie weiter anhält. Es ist unmenschlich, wenn man Leute vor die Wahl stellt, sich entweder mit dem Coronavirus zu infizieren oder ihren Lebensunterhalt zu verlieren.“3 Die „freie Entscheidung“ besteht hier darin, entweder zu verhungern oder sein Leben zu riskieren. Man fühlt sich dabei an die Situation in einem Kohlebergwerk im England des 18. Jahrhunderts erinnert, in dem jeder großen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt war, der dort einfach nur seiner Arbeit nachging.
Es gibt jedoch noch eine andere Art von Ignoranz, die verantwortlich dafür ist, dass strenge Lockdown-Maßnahmen verhängt werden. Man macht es sich zu einfach, wenn man glaubt, die Staatsgewalt würde die Pandemie dazu nutzen, die totale Kontrolle über die Bevölkerung zu erlangen – mir kommt es zunehmend so vor, als würde hier ein abergläubischer symbolischer Akt vollzogen: gemäß einer Logik, wonach wir auf Gnade hoffen können, wenn wir ein ausreichend großes Opfer darbringen, das unser gesamtes gesellschaftliches Leben zum Stillstand bringt. Es ist immer noch verblüffend, wie wenig wir (und ich schließe hier die Wissenschaftler mit ein) anscheinend über die Verbreitungsmuster der Pandemie wissen. Von den staatlichen Behörden bekommen wir oft widersprüchliche Empfehlungen. Man schärft uns ein, dass wir uns in Isolation begeben sollen, damit wir uns nicht mit dem Virus anstecken, doch wenn die Fallzahlen zu sinken beginnen, weckt unser Handeln die Befürchtung, dass wir einer sich bereits abzeichnenden „zweiten Welle“ von Virusinfektionen noch stärker ausgeliefert sein werden. Oder hoffen wir darauf, dass vor der nächsten Welle ein Impfstoff gefunden wird? Doch wird dieser Impfstoff alle Varianten des Virus abdecken, von dem es jetzt schon einige Mutationen gibt? Momentan schwindet jede Hoffnung auf einen schnellen Ausweg (heißer Sommer, Herdenimmunität, ein Impfstoff) dahin.
Oft heißt es, dass die Pandemie uns Menschen im Westen zwingen wird, eine andere Haltung zum Tod einzunehmen und unsere eigene Sterblichkeit und die Zerbrechlichkeit unseres Daseins zu akzeptieren – plötzlich taucht ein Virus auf und verändert unser Leben so tiefgreifend, dass wir es nicht mehr wiedererkennen. Deshalb wird Menschen im fernen Osten eher zugestanden, dass sie mit der Pandemie zurechtkommen – für sie ist der Tod Teil des Lebens, des natürlichen Laufs der Dinge. Wir im Westen akzeptieren den Tod immer weniger als einen Teil des Lebens, stattdessen sehen wir in ihm etwas, das von außen hereinbricht und unendlich lange hinausgezögert werden kann, wenn man ein gesundes Leben führt, Sport treibt, auf seine Ernährung achtet und traumatische Erlebnisse vermeidet. Diesem Glauben bin ich nie aufgesessen. In gewisser Weise ist der Tod nicht Teil des Lebens, sondern etwas Unvorstellbares, von dem ich nicht möchte, dass es mir jemals passiert. Ich werde nie wirklich bereit sein zu sterben, es sei denn, der Tod würde mich von unerträglichem Leid erlösen. Deshalb starren momentan so viele von uns wie gebannt auf dieselben magischen Zahlen: die der Neuinfektionen, vollständig Genesenen und kürzlich Verstorbenen. Doch lenkt der alleinige Fokus auf diese Zahlen, so fürchterlich sie auch sind, nicht von der viel größeren Menge an Menschen ab, die an Krankheiten wie Krebs oder Herzinfarkt sterben? Jenseits des Virus pulsiert nicht nur das Leben, sondern man findet dort genauso zahlreiche Sterbende und Tote. Vermutlich wäre man besser beraten, wenn man die Sterberaten miteinander vergleichen würde: An diesem Tag sind so viele Menschen an Covid-19 gestorben und so viele einer Krebserkrankung erlegen.
Wir sollten unser Imaginäres an dieser Stelle