Das Geheimnis der goldenen Brücke. Michael Kunz

Das Geheimnis der goldenen Brücke - Michael Kunz


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dein erster Schultag?“, begrüßte sie ihn, aber Peter war völlig außer Atem und japste nur etwas wie: „Muss ich das schwere Ding jetzt jeden Tag tragen?“ Dabei deutete er mit einem Daumen auf den Schulranzen.

      „Wenn du etwas lernen willst, dann ja. Was hast du denn da in der Hand?“ Anna streckte ihre beiden Hände aus und ergriff ein Blatt Papier, das Peter in der rechten Hand hielt.

      „Das Bild haben wir heute gemalt. Wir sollten eine Geschichte mit Menschen malen, die wir lieb haben“, erklärte er schließlich, nachdem Anna das Bild einen Moment stillschweigend betrachtet hatte.

      „Lass mich raten, das bin ich, stimmt’s?“, lachte sie plötzlich, es schien, als hätte sie sich erst jetzt auf dem Foto erkannt.

      „Genau! Und das da ist Papa.“ Peter machte einen Fingerzeig auf eine rundliche Gestalt im Bild, an den Beinchen waren braune Stiefeletten, auf seinem Kopf ruhte sich ein Hut aus, der aber klein genug war, um ihn zweimal nebeneinander aufzusetzen.

      „Der hat aber einen großen Kopf. Der ist ja größer als sein Bauch.“

      „Das hat meine Lehrerin auch gesagt. Da hab’ ich gesagt: Ja, weil er sich gerade ärgert.“

      „Jetzt verstehe ich auch, warum sein Kopf so rot ist“, schmunzelte Anna und strich Peter liebevoll durch das Haar.

      „Nein, das ist sein Sonnenbrand, den er doch letzten Sonntag bekommen hat. Deswegen ärgert er sich ja auch so, weil du ihm zu wenig Sonnencreme ins Gesicht geschmiert hast.“

      „Soso, das hast du dir also gleich zum Thema deines kleinen Kunstwerkes gemacht!“

      Anna war eine bildhübsche Frau. Ihr brünettes, gepflegtes Haar war glatt gekämmt und bedeckte Nacken und Rücken bis auf die Höhe der Schultergürtel. Mag sein, dass ihre Bewegungen etwas kantig wirkten, weil ihr der Beruf als Physikerin eine ausgeprägte Entschlossenheit und Zielstrebigkeit abverlangte. Mag auch sein, dass ihre Stimme aus genau diesem Grund sehr verbindlich klang. Und es mag vielleicht sogar sein, dass ihr die humorvolle und völlig unkomplizierte Art eine sehr lebenslustige Ausstrahlung verlieh. Aber eines war ganz gewiss: Ihr Lachen bezauberte ausnahmslos jeden Menschen durch seine Heiterkeit. Es wirkte derart anschmiegsam und herzlich, dass manch einer nicht einzuordnen vermochte, ob er nun mehr ihre dunklen Augen unter ihren elegant geschwungenen Augenbrauen oder eher ihren schmalen und mit Sicherheit auch sehr verführerischen Mund bewundern sollte. Deswegen ergab es sich, dass ihre schlanke und sehr sportliche Figur häufig erst auf den zweiten Blick auffiel. Aber trotzdem ließ ihr Auftreten in keinem Augenblick vermuten, dass sie sich bereits seit einigen Jahren in Karate übte, eine Kampfkunst, die ihre Denkweise sehr stark geprägt hatte.

      „Wo hast du denn diese Schramme her?“ Anna begutachtete die roten Kratzer auf seiner Stirn. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass er diese Verletzung heute Morgen schon hatte.

      „Auf dem Pausenhof haben sie mich geschubst, von hinten, weißt du? Da bin ich gestolpert und auf das Pflaster gestürzt. Dann haben sie gelacht, ganz doofe Jungs waren das. Der Lehrer ist dazwischen gegangen und hat ihnen gesagt, dass sie was erleben können.“

      „Meine Güte! Sag mir, wer das war! Die werden morgen ihr blaues Wunder erleben!“

      „Ich kenne diese Schüler nicht, sie sind älter als ich. Ich weiß nur, dass es drei Jungs waren. Einen nannten sie Mirko.“

      „Schon eigenartig, dass sie gleich zu dritt sein mussten, um es mit dir aufzunehmen. Morgen zeigst du sie mir in der Pause. Ich komme vorbei.“

      „Und was, wenn sie dann übermorgen in der Pause...?“

      Peter ließ den Satz ins Leere laufen, denn er hatte Angst, seinen Gedanken auszusprechen.

      „Dann wird es für diese drei Typen auf diesem Pausenhof keinen Tag nach Übermorgen geben, das verspreche ich dir!“

      „Mama, ich wünschte ich wäre groß und erwachsen. Dann könnte ich mich besser wehren gegen diesen Mirko und die anderen.“ Seine Augen wurden feucht und rot. Peter erlöste sich von der Träne mit einem Lidschlag und dann ergoss sich eine kristallene Perle auf seiner Wange und verlor erst ihren Halt, als sie das Kinn erreicht hatte.

      Anna fasste Peters Kopf mit der freien Hand und drückte ihn tröstend an ihren Bauch: „Es bringt gar nichts, sich zu wünschen, älter zu sein. Wenn du nämlich groß bist, dann ist Mirko auch groß. Glaube mir, auf dieser Welt gibt es viele Mirkos, dein ganzes Leben lang werden sie dir über den Weg laufen.“

      „Kennst du auch einen Mirko?“, wollte Peter wissen, aber es war eher die kindliche Neugier, die ihn zu dieser Frage trieb, als eine Schlussfolgerung aus dem Gesagten, das sich eigentlich mehr wie eine Anspielung als ein Ratschlag anhörte. Deswegen darf es nicht verwundern, dass ihre Antwort wie selbstverständlich klang: „Und ob!“ Sie betonte diesen Ausruf mit einer unerschütterlichen Gewissheit und wiederholte ihn noch einmal, diesmal aber etwas langsamer und ernster. „Ich kenne sogar viele Mirkos.“

      Es folgte Schweigen. Kein betretenes, wie man es zum Beispiel erdulden muss, wenn man nach einer Begrüßung und einem Wortwechsel über das Wetter nur noch Leere und Verlegenheit verspürt. Nein, dieses Schweigen war mehr ein zeitgebendes, um das Gesagte wie eine Medizin im Körper ausströmen zu lassen.

      In ihren Erinnerungen versunken, fühlte sich Anna plötzlich in ihre eigene Vergangenheit zurückversetzt. Sie hatte damals nicht gekämpft und war stattdessen ihrem Wunschdenken nachgehangen, dass sie sich, einmal älter geworden, gegen jeden Widersacher zur Wehr setzen würde. Eben aber erst in einer späteren Zukunft, die sie sich in ihrer Vorstellung oft und gerne ausmalte. Bis sich ihre Träume von einer furchtlosen Kämpferin jedoch zur Wirklichkeit verfestigten, richtete sie sich ihr Luftschloss kuschelig ein. Wenn sie sich schon in eine Ecke zurückzog, dachte sie, sollte dieser Platz wenigstens etwas Gemütliches und Beruhigendes haben.

      Älter werden als Lösung des Problems? Diesem Irrglauben hing sie zwar schon lange nicht mehr nach, aber es wäre besser gewesen, sie hätte ihm überhaupt nicht nachgehangen. Und weil sie ahnte, dass Peter allmählich begann, den gleichen Fehler zu begehen wie sie in ihrer Kindheit, beschloss sie, ihm auf dem Heimweg die Geschichte von der Mühle des Alters zu erzählen:

      „Es war einmal ein junger Knabe, der ging eines Tages zur Mühle des Alters und drehte an ihr im Uhrzeigersinn, damit sie sich schneller bewegte. Dabei sprach er voller Freude: ‚Ihr Menschen, seht, ich bin schon sieben Jahre! Bald werde ich acht Jahre! Bin ich nicht schon ein großer Junge?’ Die Menschen gingen an ihm vorbei und antworteten ihm: ‚Sieben Jahre? Meine Güte, bist du schon ein großer Junge geworden!’ Diese Worte machten den Knaben sehr stolz. So vergingen die Jahre, bis aus dem Knaben ein stattlicher Mann im Alter von 30 Jahren wurde. Abermals besuchte er die Mühle des Alters, betrachtete sie argwöhnisch und mit prüfendem Blick, setzte sich nieder und sah wortlos zu, während die Mühle sich drehte und drehte. Aber es kam schließlich der Tag, an dem er das fünfzigste Lebensjahr erreicht hatte und wieder suchte er die Mühle des Alters auf. Noch einmal wollte er sich nicht niedersetzen und wortlos zusehen, sodass er kurzerhand an der Mühle zu drehen begann, und zwar entgegen dem Uhrzeigersinn. Er hatte sich überlegt, dass es so möglich sein müsse, das Altern zu bremsen. Dabei dachte er sich: ‚Nun bin ich schon 50 Jahre gealtert und vermutlich habe ich die längste Zeit meines Lebens bereits verlebt. Wie gern wäre ich noch einmal sieben Jahre und wüsste das, was ich heute weiß.’ Und ehe er seinen Gedanken zu Ende geführt hatte, kam ein kleiner Junge zu ihm und bat, an der Mühle des Alters drehen zu dürfen. Der Mann ließ ab und als der Junge es erkannte, sprach er: ‚Aber mein Herr, ihr habt ja in die falsche Richtung gedreht!’“

      „Was ist aus dem alten Mann geworden?“

      „Nun, er ist eines Tages an seinem hohen Alter gestorben.“

      „Das macht mich traurig, Mama.“

      „Und mich macht traurig, dass du heute Probleme mit anderen Kindern hattest. Aber sei tapfer, du brauchst nämlich keine Angst vor anderen Kindern haben. Sie haben vielleicht zu Hause keine lieben Eltern.“

      Peter richtete seine großen, goldbraunen Augen auf Anna: „Werden


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