Sein Leben schreiben. Emil Angehrn
auf das Erinnern und Sicherzählen. Sein Leben erzählen, aus seinem Leben erzählen ist nicht eine äußere Zutat zum Leben, sondern inneres Moment einer Lebensform. Wenn Selbstverständigung als praktische Orientierung originär zukunftsgerichtet ist, so ist die narrative Selbsterfassung ursprünglich dem Vergangenen zugewandt; zugleich ist sie auf das Ganze geöffnet, mit der unabgeschlossenen singulären Geschichte des Selbst befasst. Das Schreiben des Lebens kann ebenso offen sein wie das Leben selbst, wie dies bei Tagebüchern der Fall ist, welche ein Leben nachdenkend begleiten, oder bei Werken, die ins Offene, Unabschließbare gehen.17 Solches Schreiben geht in das Leben selbst ein und kann dem Leben zugutekommen. Auch wenn dies nicht in dem Sinne der Fall sein muss, dass der einzelne gleichsam antizipierend als Historiograph seiner selbst sein Leben führt, sondern er sich über sein gegenwärtiges Handeln und Erleben verständigt und sich rückblickend seines Lebens vergewissert, kann diese Reflexion zum inneren, substantiellen Element seines Lebens werden. Lebensbeschreibung wird Teil der Bewegung des Lebens selbst. Sie partizipiert an dessen Offenheit und unterliegt zuletzt seiner Endlichkeit. Der Versuch, aufzeichnend sich selbst und sein Leben einzuholen, vollzieht sich im Leben und in der Zeit des Lebens, steht selbst im Wettlauf mit der Zeit.18 Erst am Ende könnte der Mensch seine Lebensbilanz ziehen, über sein Leben und dessen Gelingen Rechenschaft ablegen, wie wir nach Aristoteles das Glück eines Menschen erst nach seinem Tod beurteilen können. Auch Rilke spitzt seine Forderung dahingehend zu, »das ganze Diktat des Daseins bis zum Schluss nachzuschreiben; denn es möchte sein, dass erst der letzte Satz jenes kleine, vielleicht unscheinbare Wort enthält, durch welches alles mühsam Erlernte und Unbegriffene sich gegen einen herrlichen Sinn hinüberkehrt.«19 Indessen bleibt dieser Ausgriff, ob er nun mit einer versöhnlichen oder einer ängstigenden Vision verbunden sei, in der Schwebe, bleibt der Wunsch, das Leben »auf seinem letzten Stand zu ertappen«, so Christa Wolf, »ein unstillbares, vielleicht unerlaubtes Verlangen«.20 Dem Menschen verbleibt das von Proust beschriebene Gefühl der Dringlichkeit, die Angst, in der Selbstbeschreibung und Erfassung seines Lebens zu spät zu kommen. Auch dieses Gefühl, Kehrseite der nicht zu schließenden Offenheit, gehört zur existentiellen Verfassung des Lebens und seines Fürsichwerdens.
2. Leben in der Zeit
2.1 Zeit und Zeittranszendenz
Zeit ist dem Menschen so fundamental wie die Sehnsucht nach der Freiheit von der Zeit. Der Urgegensatz zwischen der Zeit und ihrem Anderen weist in die ältesten Ursprünge der Denkgeschichte zurück. Für klassische Metaphysik ist das wahrhafte Sein ein zeittranszendentes Sein, jenseits des Entstehens, des Wandels und des Vergehens. Schon Parmenides, wichtigster Wegbereiter metaphysischen Denkens, beschreibt das Seiende als eines, das weder war noch sein wird, sondern jetzt, zusammen, ganz, eins ist1: Reine Gegenwart ist das absolut Andere der Zeit, jenseits des Flusses des Werdens und Veränderns, der Zerstreuung ins Gewesene und Noch-nicht-Seiende. Zeit erscheint als Negativum, als Seinsmangel. Was zeitlich ist, was in der Zeit existiert, ist nur in defizitärer Weise seiend.
Dieses Spannungsverhältnis, das in der Philosophie in seinen ontologischen und logischen Konsequenzen durchmessen wird, affiziert von vornherein das menschliche Leben. Der Mensch lebt in der Zeit, er ist glücklich in der Zeit und er leidet unter der Zeit, er sehnt sich nach dem Jenseits der Zeit. Im Folgenden soll die Frage nach der Zeit in dieser existentiellen Bedeutung, nicht ihrer metaphysischen und epistemologischen Weite verhandelt werden. Indessen ist auch in dieser eingeschränkteren Perspektive relevant, dass die systematische Dichotomie zwischen der Zeit und ihrem Anderen keine einfache ist und der gängige Begriffsgegensatz von Zeit und Ewigkeit das in Frage stehende Verhältnis nicht abschließend beschreibt. Jenseits der zeitlichen Prozessualität lassen sich unterschiedliche Gegeninstanzen auseinanderhalten: die reine Zeitlosigkeit dessen, was nicht temporal verfasst ist (logische Verhältnisse, Zahlen), die Dauerhaftigkeit des Seienden, das keinem Entstehen und Vergehen unterworfen ist (die Gestirne bei Aristoteles), die ›ewige‹ Immergleichheit dessen, was sich endlos in derselben Weise bewegt und reproduziert (die Wiederkehr des Gleichen, das mythische Verhängnis), die Ewigkeit des ewigen Lebens als jene Zeittranszendenz, die nicht die innere Bewegtheit hinter sich lässt, sondern sie auf einer höheren Ebene vollzieht, schließlich die Ewigkeit in der Zeit (als Teilhabe des Lebens am Ewigen, Mimesis ans Ewige, zeitloses Verweilen).2 Im Blick auf diese strukturelle Vielfalt geht es etwa in metaphysikkritischen Diskussionen darum, die von metaphysischen Positionen anvisierte ›Ewigkeit‹ als eine des Zeitfremden oder zwanghaft Immergleichen zu entlarven und ihr gegenüber die in einem höheren Leben vollzogene Transzendenz des Vergänglichen zu kontrastieren. Ebenso stellt sich mit Bezug auf den lebensinternen Umgang mit der Zeit die Frage, in welche Formen er sich ausdifferenziert und inwiefern in diesen zugleich die übergreifende Polarität von Zeit und Zeittranszendenz ausgetragen wird. Im Ganzen bleibt die Differenz zwischen der Zeit und ihrem Anderen für die Frage nach der Zeit kulturgeschichtlich und anthropologisch grundlegend. Nach der Zeit zu fragen heißt auch nach ihrer Grenze, ihrer Überwindung und ihrem Jenseits zu fragen.
2.2 Die Zeit des Lebens
(a) Dimensionen des Zeitlichen
Wenn wir nach der Zeit des Lebens, dem Zeiterleben im menschlichen Dasein fragen, so wird eine Unterscheidung relevant, die in Zeittheorien oft als Grundraster fungiert: die Unterscheidung von subjektiver und objektiver Zeit. In unserem Zusammenhang interessiert die Differenz nicht im Blick auf die prinzipielle Frage nach der Konstitution, dem ontologischen Ort der Zeit. Es gibt, auch im Raum der Existenz, die Zeit, die mein Erleben strukturiert, mein Zurückblicken auf Erlebtes und mein Entwerfen und Hoffen trägt, und es gibt die Zeit, die unabhängig von meinem Tun, meinem Verweilen und Drängen verläuft, für dieses einen Grund und Rahmen, je nachdem eine Gegendynamik bildet. Immer steht die innere Zeitlichkeit des Lebens im Verhältnis zu einer Zeit, die nicht nur aus dem Leben kommt, nicht in seiner Macht, zumal der des einzelnen Lebewesens, steht.
Zu dieser basalen Differenz kommt eine zweite hinzu, welche die Auffassungsweise des Zeitlichen betrifft. Seit der ältesten theoretischen Reflexion wird dieses nach zwei unterschiedlichen Rastern thematisiert, der Differenz von Vergangen – Gegenwärtig – Zukünftig und dem Schema von Früher – Gleichzeitig – Später. Es ist bemerkenswert, dass sich diese beiden Begriffsraster schon früh – etwa in den klassischen Zeitabhandlungen bei Platon, Aristoteles, Augustinus – finden und durch die Tradition hindurchziehen, in neueren Diskussionen meist im Anschluss an einen Vorschlag von McTaggart3 als A-Reihe und B-Reihe bezeichnet; bemerkenswert ist auch, dass gerade in der neueren Diskussion die Frage ihres Verhältnisses aufgeworfen wird, wobei ihre gegenseitige Nicht-Reduzierbarkeit zum Thema wird. Von Interesse in unserem Kontext ist das Verhältnis zur ersten Differenz von objektiver und subjektiver Zeit. Zwischen ihnen besteht keine einfache Analogie, sofern beide Raster von Früher – Gleichzeitig – Später und Vergangen – Gegenwärtig – Zukünftig innerhalb des subjektiven Auffassens und Artikulierens zum Tragen kommen: Wir strukturieren die Zeit unseres Lebens und vergegenwärtigen Phasen unseres Lebens nach beiden Relationen. Doch sind sie beide nicht in gleicher Weise subjektbezogen: Während die erste die relative Position von Ereignissen in einem Abfolgeverhältnis unabhängig vom Erleben bezeichnet und im Verlauf der Zeit unverändert bleibt, definiert sich die zweite im Bezug zu einem gegenwärtigen Referenzpunkt, idealiter dem Standpunkt subjektiven Erlebens und Auffassens, und verschiebt sich mit dessen Voranschreiten in der Zeit. Erlebnisse der frühen Kindheit bleiben immer hinter denen des Jugendlichen zurückliegend, während dessen nahe Zukunft dem Älteren zur Vergangenheit wird.
Die Dualität der Auffassungsweisen gehört mit zur Grundstruktur existentieller Zeitlichkeit. Ihre lebensweltliche Relevanz hat sie darin, dass sie das subjektive Erleben in Polarität zu einer nicht aus dem Subjekt kommenden, nicht (nur) in ihm verorteten Temporalität setzt. Es ist eine Polarität, die das Leben in der Zeit von Grund auf affiziert und die sich über die genannten Relationen hinaus erstreckt. Der Mensch bezieht sich in der Zeitlichkeit seines Lebens zugleich auf die Zeit der Welt, die Naturzeit wie die geschichtliche und soziale Weltzeit. Lebenszeit und Weltzeit4 bilden ein Verhältnis, welches das menschliche Leben umfängt