Die böse Macht. C. S. Lewis

Die böse Macht - C. S. Lewis


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und klösterliche Atmosphäre. Die Schritte der großen Frau verhallten in den Korridoren, und im Raum wurde es sehr still. Gelegentlich hörte man von draußen das raue Krächzen von Krähen. »Nun habe ich mich darauf eingelassen«, dachte Jane. »Ich werde dieser Frau meinen Traum erzählen und mir alle möglichen Fragen gefallen lassen müssen.« Sie hielt sich im Allgemeinen für einen modernen Menschen, der ohne Verlegenheit über alles sprechen konnte. Aber als sie jetzt in diesem Raum saß, sah plötzlich alles ganz anders aus. Alle möglichen geheimen Lücken in ihrem Programm der Offenheit, Dinge, die sie, wie ihr jetzt klar wurde, ausgesondert hatte, über die nicht gesprochen werden durfte, kehrten nun in ihr Bewusstsein zurück. Es war überraschend, dass nur sehr wenige davon mit Sexualität zu tun hatten. »Beim Zahnarzt«, dachte Jane, »gibt es im Wartezimmer wenigstens ein paar Illustrierte.« Sie stand auf und schlug das einzige Buch auf, das auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers lag. Sofort fiel ihr Blick auf die Worte: »Die Schönheit des Weibes ist der Quell der Freude für Weib und Mann, und nicht zufällig ist die Göttin der Liebe älter und stärker als der Gott. Das Begehren der eigenen Schönheit zu begehren ist Liliths Eitelkeit, die Freude an der eigenen Schönheit zu begehren ist Evas Gehorsam. Und in beiden Fällen erlebt die Geliebte durch ihren Geliebten die eigene Herrlichkeit. Wie der Gehorsam die Leiter zur Freude ist, so ist die Demut …«

      In diesem Augenblick ging plötzlich die Tür auf. Jane errötete, als sie das Buch schloss und aufblickte. Dasselbe Mädchen, das sie eingelassen hatte, hatte offensichtlich gerade die Tür geöffnet und stand noch immer im Türrahmen. Jane empfand für sie jetzt jene beinahe schon leidenschaftliche Bewunderung, wie Frauen sie häufiger, als man denkt, für andere Frauen empfinden, deren Schönheit von anderer Art ist als die eigene. Es wäre schön, dachte Jane, so zu sein – so gerade, so aufrichtig, so tapfer, so eine geborene Reiterin und so göttlich groß.

      »Ist … ist Miss Ironwood zu Hause?«, fragte Jane.

      »Sind Sie Mrs. Studdock?«, fragte das Mädchen.

      »Ja«, sagte Jane.

      »Ich bringe Sie sofort zu ihr. Wir haben Sie erwartet. Mein Name ist Camilla – Camilla Denniston.«

      Jane folgte ihr. Die Korridore waren eng und schlicht. Daraus schloss sie, dass sie noch immer im rückwärtigen Teil des Hauses waren und dass, wenn das stimmte, dies ein sehr großes Haus sein musste. Es war ein langer Weg, bis Camilla an eine Tür klopfte und zur Seite trat, um Jane vorbeizulassen, nachdem sie mit leiser, klarer Stimme (wie eine Dienerin, dachte Jane) gesagt hatte: »Sie ist gekommen.« Jane ging hinein, und da saß Miss Ironwood, ganz in Schwarz, die Hände auf den Knien gefaltet, genauso wie Jane sie in ihrem Traum – wenn es ein Traum gewesen war – gesehen hatte.

      »Setzen Sie sich, junge Frau«, sagte Miss Ironwood.

      Ihre gefalteten Hände waren sehr groß und knochig, aber nicht derb, und selbst wenn sie saß, war Miss Ironwood ungemein groß. Alles an ihr war groß – die Nase, der ernste Mund und die grauen Augen. Sie war eher sechzig als fünfzig. Jane fand die Stimmung im Zimmer unbehaglich.

      »Wie heißen Sie, junge Frau?«, sagte Miss Ironwood und griff zu Bleistift und Notizbuch.

      »Jane Studdock.«

      »Sind Sie verheiratet?«

      »Ja.«

      »Weiß Ihr Mann, dass Sie zu uns gekommen sind?«

      »Nein.«

      »Und Ihr Alter, bitte?«

      »Dreiundzwanzig.«

      »Nun«, sagte Miss Ironwood, »was haben Sie mir zu sagen?«

      Jane holte tief Atem. »Ich hatte in letzter Zeit des Öfteren schlechte Träume und fühle mich dadurch niedergeschlagen«, sagte sie.

      »Was für Träume waren das?«, fragte Miss Ironwood.

      Janes etwas umständliche und unbeholfene Erzählung nahm einige Zeit in Anspruch. Beim Sprechen blickte sie unverwandt auf Miss Ironwoods große Hände, ihr schwarzes Kleid und den Bleistift mit dem Notizbuch. Und darum brach sie auch plötzlich ab. Denn sie sah, wie während ihres Berichtes Miss Ironwoods Hand aufhörte zu schreiben und die Finger den Bleistift umklammerten. Es schienen ungeheuer kräftige Finger zu sein. Sie packten immer fester zu, bis die Knöchel weiß waren und die Adern auf den Handrücken hervortraten; schließlich brachen sie, wie unter dem Einfluss irgendeiner unterdrückten Erregung, den Bleistift entzwei. Da hielt Jane inne und blickte erstaunt zu Miss Ironwood auf. Die großen grauen Augen sahen sie immer noch mit demselben Ausdruck an.

      »Bitte fahren Sie fort, junge Frau«, sagte Miss Ironwood.

      Jane nahm ihre Geschichte wieder auf. Als sie geendet hatte, stellte Miss Ironwood ihr eine Reihe Fragen. Danach versank sie in ein so langes Schweigen, dass Jane schließlich fragte: »Glauben Sie, dass ich ernstlich krank bin?«

      »Sie sind nicht krank«, sagte Miss Ironwood.

      »Sie meinen also, es wird vorübergehen?«

      »Das kann ich nicht sagen. Aber wahrscheinlich nicht.«

      Auf Janes Gesicht malte sich Enttäuschung.

      »Dann – kann man denn nichts dagegen tun? Es waren schreckliche Träume, furchtbar lebendig, überhaupt nicht wie gewöhnliche Träume.«

      »Das verstehe ich gut.«

      »Ist es etwas, das nicht geheilt werden kann?«

      »Der Grund, weshalb Sie nicht geheilt werden können, ist, dass Sie nicht krank sind.«

      »Aber irgendetwas ist nicht in Ordnung. Es ist doch nicht natürlich, solche Träume zu haben.«

      Es entstand eine Pause. »Ich denke«, sagte Miss Ironwood, »ich sage Ihnen besser die ganze Wahrheit.«

      »Ja, bitte«, sagte Jane gezwungen. Die Worte der Frau hatten sie erschreckt.

      »Eines möchte ich noch vorausschicken«, fuhr Miss Ironwood fort. »Sie sind eine wichtigere Person, als Sie selbst glauben.«

      Jane sagte nichts, dachte aber bei sich, dass die Frau sie wohl für verrückt hielt und darum auf sie einging.

      »Wie war Ihr Mädchenname?«, fragte Miss Ironwood.

      »Tudor«, sagte Jane. Bei jedem anderen Anlass hätte sie es eher verlegen gesagt, denn sie war sehr darauf bedacht, sich nicht mit ihren Ahnen zu brüsten.

      »Die Warwickshire-Linie der Familie?«

      »Ja.«

      »Haben Sie jemals das kleine Buch gelesen – es hat nur vierzig Seiten –, das einer Ihrer Vorfahren über die Schlacht von Worcester geschrieben hat?«

      »Nein. Vater hatte ein Exemplar davon – ich glaube, er sagte, es sei das einzige. Aber ich habe es nie gelesen. Es ging verloren, als der Haushalt nach seinem Tod aufgelöst wurde.«

      »Ihr Vater hat sich geirrt. Es gibt zumindest zwei weitere Exemplare: Eins ist in Amerika, und das andere befindet sich in diesem Haus.«

      »Und?«

      »Ihr Ahnherr hat eine vollständige und im Großen und Ganzen richtige Schilderung der Schlacht geliefert, und er gibt an, er habe dies noch am Tage der Schlacht niedergeschrieben. Nur war er nicht auf dem Schlachtfeld. Er war zu der Zeit in York.«

      Jane konnte nicht recht folgen und sah Miss Ironwood an.

      »Wenn das stimmt, was er sagt«, sagte Miss Ironwood, »und wir gehen davon aus, dann hat er das alles geträumt. Verstehen Sie?«

      »Er hat von der Schlacht geträumt?«

      »Ja. Aber er träumte sie richtig. Er hat in seinem Traum die wirkliche Schlacht gesehen.«

      »Ich sehe den Zusammenhang nicht.«

      »Das Zweite Gesicht – die Gabe, Wirklichkeit zu träumen – ist manchmal erblich«, sagte Miss Ironwood.

      Etwas schien mit Janes Atem nicht zu stimmen. Sie fühlte


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