Karl -ausgeliefert. Bernhard Giersche

Karl -ausgeliefert - Bernhard Giersche


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Buschgruppe beobachtet. Er suchte nach einem Loch im Sicherheitsnetz des Multimillionärs. Doch auch nach Wochen des Beobachtens und Sondierens hatte er keine Ahnung davon, wie er des Mannes habhaft werden konnte, ohne dass man ihn in kürzester Zeit fassen und zurück nach Santa Fu bringen würde. Doch er gab nicht auf. »Geht nicht gibt es nicht« war seine Devise, und eines Tages hatte er zumindest den Hauch einer Idee.

      Jeden Morgen bot sich ihm das gleiche Schauspiel, zumindest unter der Woche: Von Montag bis Freitag verließ Grothners Wagen um genau acht Uhr das Privatgrundstück. Nie auch nur eine Minute davor oder danach. Und jeden Abend um exakt siebzehn Uhr und dreißig Minuten durchfuhr der gepanzerte Mercedes das Tor in Gegenrichtung. Wie der Fahrer es fertigbrachte, trotz des Verkehrs auf dem Weg hierhin, so unglaublich pünktlich zu sein, war Kleinhans schleierhaft. In Grothners Abwesenheit war das Anwesen keineswegs verwaist. Lieferanten kamen zu festen Zeiten und brachten Lebensmittel oder andere Dinge. Es gab drei Menschen, zwei Frauen und ein Mann, die jeden Tag zur gleichen Zeit durch das Tor gingen. Vermutlich Hausmeister, Köchin und Hauswirtschafterin, mutmaßte Kleinhans. Es gab auch zwei Wachleute einer Sicherheitsfirma, die in schwarzen Uniformen hinter dem Tor standen und jeden, der das Anwesen betreten wollte, kontrollierten. Jeder Lieferant und jeder Bedienstete besaß einen Ausweis, und Kleinhans konnte beobachten, dass sich Wachleute und die Menschen, die das Anwesen betreten durften, persönlich kannten. Hier gab es keine Chance, hinter die Mauern zu gelangen. Selbst wenn er sich als Vertretung ausgeben würde, um so auf das Grundstück zu kommen, würden unzählige Kameras sein Gesicht aufnehmen und innerhalb kürzester Zeit wäre er zur Fahndung ausgeschrieben. Nein, mit der Entführung dieses Mannes durfte ihn nie jemand in Verbindung bringen können.

      Die einzige Möglichkeit, um den Mann abzugreifen, musste sich in dem Zeitfenster befinden, in dem Grothner unterwegs zu seiner Firma war. Die Strecke vom Wohnsitz Grothners bis zum Glaskasten betrug nahezu genau sechzehn Kilometer. Die Fahrstrecke ließ sich in dreiundzwanzig Minuten bewältigen. Grothners Fahrer hatte drei alternative Streckenführungen, die er je nach Verkehrslage wählte. Die ersten fünf Kilometer jedoch waren stets die gleichen. Eine schmale Landstraße, die erst durch landwirtschaftlich genutzte Flächen führte, dann kam ein Waldstück von einem Kilometer Länge und danach kam bereits das Ortseingangsschild, und die Fahrstrecke wurde nicht mehr vorhersehbar. Innerhalb des Waldstückes gab es eine Querstraße, die in die Landstraße mündete. Diese war von Büschen gesäumt und führte zu einem verlassenen Bauernhof. Diese Stelle hatte sich Kleinhans ausgesucht, um Karl Grothner zu entführen. Blieb nur das Problem mit den Männern im Land Rover, die wie Schmeißfliegen an dem Wagen des Konzernchefs klebten. Die musste er loswerden, und er wusste auch schon wie. Der Land Rover hielt jeden Abend an genau derselben Stelle vor dem Haus des Millionärs. Drei Meter vor dem Eingangstor. Direkte Nachbarn besaß das Anwesen nicht und die Straßenbeleuchtung war nur im unmittelbaren Eingangsbereich so hell, dass jede Bewegung auffallen musste. Links und rechts des ummauerten Grundstücks war die Fläche bewaldet, was Kleinhans das Observieren des Anwesens erleichterte. Auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite war das Gelände dicht mit Buschwerk bewachsen. Erst nach über zweihundert Metern gab es eine weitere Villa, die jedoch weder Mauer noch Hecke besaß und einem Unternehmerehepaar gehörte, wie Kleinhans herausfand. Erst nach Tagen war ihm aufgefallen, dass der schwere Geländewagen der Bodyguards immer über einem Kanaldeckel stehenblieb, nachdem Grothners Auto auf das Anwesen gefahren war. Hierin lag möglicherweise die Lösung des Problems. Ein Plan reifte in ihm heran und Kleinhans begann sich auf den Tag vorzubereiten, an dem er einen der reichsten Männer Deutschlands entführen würde. Er entwendete in den nächsten Tagen einen zehn Tonnen schweren und voll beladenen Kieslaster von einer Baustelle in einer Nachbarstadt und brachte ihn auf den verlassenen Bauernhof, wo er ihn unter einer großen Remise so einparkte, dass er von der Straße aus nicht zu sehen war. Kleinhans kaufte von einem Schrotthändler einen alten blauen und zerbeulten Renault, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass dieser noch fahrbereit war. Mit gestohlenen Kennzeichen versehen, brachte er auch dieses Fahrzeug in Stellung. Nun musste er warten. Schon nach wenigen Tagen hatte er Glück. Der Mercedes und sein Begleiter fuhren an diesem Tag nicht in Richtung des Hauses, in dem Grothner lebte, sondern schlugen den Weg in Richtung des Flughafens ein. Heute Nacht würde der Land Rover nicht vor dem Haus stehen, denn der Hausherr war nicht anwesend. Kleinhans wusste, dass zwei Kameras auf den Bereich des Eingangstores gerichtet waren. Sein Sachverstand sagte ihm, dass der Gullydeckel, über dem normalerweise der Rover stand, außerhalb des Erfassungsbereiches dieser Kameras lag. Im Schutz der Dunkelheit brachte Kleinhans ein Stahlseil und eine vier Zentimeter dicke und zwei Meter lange Eisenstange zu dem Gullydeckel, hob diesen mit einer Brechstange an und schob ihn so weit zur Seite, dass er die Trosse und die schwere Eisenstange hineinwerfen konnte. Er warf einen prall gefüllten Rucksack hinterher, dann verschloss er den Gully wieder und verschwand so schnell er konnte von der Straße. Über eine Stunde verharrte er in seinem Gebüsch, bis er ganz sicher sein konnte, dass niemand etwas davon mitbekommen hatte. Nun schlich er erneut zu dem Kanaldeckel, hebelte ihn zum zweiten Mal heraus und schob ihn so weit zur Seite, bis er selbst in das enge Kanalrohr klettern konnte. Sobald er unterhalb der Straßendecke war, schob er von innen den Deckel wieder in seine Position. Der senkrechte Teil des etwa sechzig Zentimeter durchmessenden Kanals mündete in einem waagerechten Rohr, das der Regenwasserentsorgung diente. Auf dem Grund dieses Rohres fand Kleinhans das Stahlseil, die schwere Eisenstange und seinen Rucksack. Er verband das Seil mit einem Karabinerhaken mit der Eisenstange und legte diese so in das waagerechte Rohr, dass sie wie ein Anker wirken müsste. Am anderen Ende der Trosse hatte er ebenfalls einen Karabinerhaken befestigt. Das Kanalrohr lag trocken, denn es hatte schon geraume Zeit nicht mehr geregnet. Es hatte einen Durchmesser von achtzig Zentimetern und war somit groß genug, um sich auf allen Vieren darin fortbewegen zu können. Marius Kleinhans nahm eine Taschenlampe aus dem Rucksack und kroch in das Rohr zu seiner Linken. Fünfzig Meter weiter würde er den nächsten Kanaldeckel finden, und an dieser Stelle wollte er aus dem Kanalsystem verschwinden, wenn es soweit war. Er musste zunächst aber herausfinden, ob sich die fünfzig Meter tatsächlich im Kriechgang bewältigen ließen. Davon hing, wie von vielen anderen Elementen, sein Plan ab. Langhans litt zu seinem Glück nicht an Klaustrophobie und es befand sich nur trockener Schlamm in dem Betonrohr. Er bewältigte die Strecke bis zum nächsten senkrechten Rohr innerhalb von zwanzig Minuten, stieg an den Metallkrampen, die in das senkrechte Rohr eingelassen waren, empor, und drückte von unten gegen den Gullydeckel. Der mochte um die fünfzehn Kilogramm wiegen und Kleinhans konnte ihn mühelos anheben und zur Seite schieben. Der Renault stand von dieser Stelle nur hundert Meter entfernt, Kleinhans hatte ihn rückwärts in einen Waldweg gefahren, sodass er von der Straße aus nicht zu sehen war. Um kein weiteres Risiko einzugehen, kroch er auf allen Vieren wieder zurück zu der Stelle, an der der Land Rover hoffentlich bald stehen würde. Nun musste er warten, wenn er Pech hatte, mehrere Tage, bis Grothner von seiner Geschäftsreise zurückkehrte. Er richtete es sich mit dem Inhalt des Rucksacks, einer Decke und Lebensmitteln, so bequem wie möglich in dem Kanalrohr ein und betete, dass es nicht zu regnen begann. Sonst würde das alles eine sehr feuchte Angelegenheit werden.

      Nach zwölf Stunden in dem Rohr spürte er seinen Körper kaum noch. Auch wenn es nicht allzu kalt war, ließ ihn die Bewegungsunfähigkeit auskühlen. Er kroch immer wieder in dem Kanal hin und her, kletterte die kurze Leiter empor, um nicht steif zu werden und begann, an der Durchführbarkeit seines Planes zu zweifeln. Einsamkeit ist ein guter Einflüsterer von Bedenken. Plötzlich schien ihm das alles zu riskant. Es gab zu viele Unwägbarkeiten. Hatte er wirklich keine Spuren an der Stahltrosse und der Stange hinterlassen? Mit bloßen Fingern hatte er sie nie angefasst. Die ganze Zeit, während der Vorbereitung und hier unten im Kanal, hatte er Handschuhe getragen. Aber er wusste auch, dass die Forensiker alles absuchen würden und dass sie ihn durch ein einziges Haarfollikel identifizieren konnten. Zweifel schlichen wie Viren, die begonnen haben, einen Organismus zu infizieren, in seine Gedanken, und als es erneut dämmerte und der Land Rover noch immer nicht über ihm stand, war er kurz davor, das Projekt abzubrechen. In der Dunkelheit hier unten und mit dem ständigen Rascheln in dem Kanalrohr, das von beiden Seiten der Röhre zu hören war und dessen Ursprung wohl in der Rattenpopulation lag, kam ihm sein ganzer Plan mehr und mehr idiotisch vor. Wer war er, dass er glaubte, diesen Mann tatsächlich entführen zu können? Einen Mann, der ein Imperium führte, in einer gepanzerten Limousine fuhr und von wahrscheinlich waffenstarrenden Leibwächtern bewacht wurde. Er war ein Krimineller, wenigstens das konnte er


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