Der große Aschinger. Heinz-Joachim Simon

Der große Aschinger - Heinz-Joachim Simon


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dem gleichen schmalen Gesicht der Mutter.

      »Ich weiß es nicht«, entgegnete Sebastian.

      »Wann machst du dein Abitur?«

      »Im nächsten Jahr – wenn ich es schaffe.«

      »Steht es so schlecht?«

      Sebastian nickte, dachte an die Lehrer, die vom Vater angehalten waren, ihn scharf ranzunehmen, die dessen Verachtung für Sebastian teilten und ihn nur auf der Schule duldeten, weil der Alte in derselben Partei wie sie war, also den Nationalsozialisten anhing. »Die Schule macht mir keine Freude, und außer in Deutsch und Geschichte habe ich nur Vierer und Fünfer«, gestand Sebastian.

      »Die Schule und das Leben sind nicht nur zur Freude da«, antwortete würdevoll der Cousin der Mutter.

      »Das mag sein. Ich weiß aber noch nicht, was ich tun werde. Ich weiß nur, dass ich auf keinen Fall Bauer werden will, Knecht meines Bruders, oder Staatsbeamter, Inspektor gar, was sich mein Vater immer vorstellte. Wilfried wird den Hof übernehmen.« Sebastian sah zu seinem drei Jahre älteren Bruder hinüber, der neben dem Pfarrer saß und ein wichtiges Gesicht machte, so andeutend, dass er nun der Lorenz war, der im Dorf das Sagen haben würde.

      »Irgendein Talent hat jeder«, beharrte der Cousin, ein ehemaliger Kapellmeister, der längst ohne Kapelle war und seine Rente damit aufbesserte, dass er Klavierstunden gab und in obskuren Bars auf die Tasten hämmerte. »Man muss aus seinem Leben etwas machen«, setzte er hinzu.

      »Ich weiß von keinem Talent.«

      »Ich hörte von deiner Mutter, dass du gern liest.«

      »Stimmt, das ist aber kein Talent.«

      »Du könntest Philosophie oder Pädagogik studieren.«

      »Und Lehrer werden?«, fragte Sebastian entsetzt und dachte sofort an die Lehrer auf dem Gymnasium zu Neuruppin, die mit verschränkten Armen auf dem Rücken und mit ausgetrockneten, bleichen Gesichtern zwischen den Schulbänken auf und ab gingen.

      »Nein, niemals!«

      »Irgendwie musst du aber dein Brot verdienen.«

      Es war keine Verstocktheit. Er hätte dem stets freundlichen Onkel gern etwas Konkretes genannt. Aber er hatte kein Talent für Musik, und daraus, dass er Balzacs Menschliche Komödie gelesen hatte und einige Romane Zolas kannte, war auch nichts herauszuholen, womit sich Geld verdienen ließ. Aber der Cousin der Mutter ließ sich nicht abweisen.

      »Wenn du einmal in Berlin bist, besuche mich! Ich würde dir raten, in die Großstadt zu kommen, da hast du mehr Möglichkeiten. Und vielleicht findest du eine Tätigkeit, die dir Freude und Befriedigung verschaffen kann.« Er drückte ihm ein paar Reichsmark in die Hand.

      Sebastian nahm sie gern, denn der Vater hatte ihn stets kurzgehalten.

      Am Abend rief ihn die Mutter zu sich. Die Trauergäste waren längst gegangen, und auch die Rosensteins hatten sich mit besorgten Gesichtern verabschiedet. Nach ihren Blicken zu Wilfried hin glaubten sie nicht an eine Verbesserung des Schicksals der Schwester oder Cousine. Sebastian hatte sich in seinem Zimmer verkrochen. Als er wieder in die große Stube mit der niedrigen Decke trat, saß die Mutter mit Wilfried am Tisch. Sie machten beide ernste Gesichter.

      »Vater hinterlässt uns nicht viel«, nahm Wilfried das Wort. »Wir werden die Zucht verkaufen müssen, um die dringendsten Schulden bezahlen zu können, und wir werden einen der Knechte entlassen. Es wird lange dauern, bis ich das Erbe schuldenfrei habe. Ich weiß von Vaters Testament. Er überträgt mir als Ältestem die Wirtschaft und alles, was dazugehört. Dir vermacht er fünftausend Reichsmark, aber wegen der Hypotheken werde ich sie dir nicht gleich auszahlen können. Mit dem Gymnasium ist Schluss, das können wir uns nicht mehr leisten. Wir brauchen jede Hand auf dem Hof.«

      »Mit mir kannst du nicht rechnen«, sagte Sebastian trotzig.

      »Was willst du dann tun? Hier müßig herumhocken?«

      »Ich werde nach Berlin gehen.«

      »Um dort was zu tun?«

      »Das weiß ich nicht, aber irgendetwas werde ich schon finden.«

      »Bub, was willst du in der großen Stadt? Du wirst verhungern oder unter die Räder kommen!«, klagte die Mutter. Für ihren Jüngsten hatte sie stets mehr Zärtlichkeit empfunden als für Wilfried, und sie machte sich Sorgen wegen seiner Zukunft. »Was soll nur werden?«, fragte sie ratlos.

      »Du wirst uns nicht auf der Tasche liegen!«, sagte Wilfried entschlossen. »Der Anwalt Stöckler in Neuruppin hat eine Lehrstelle zum Anwaltsgehilfen ausgeschrieben.«

      »An so etwas habe ich eigentlich nicht gedacht«, wehrte sich Sebastian.

      »An was dann? Mit deinem ollen Balzac kannste hier nicht rumsitzen! Es ist abgemacht: Du gehst zum Stöckler und stellst dich vor. Er ist Parteimitglied und wird dich deswegen anderen Bewerbern vorziehen. Ich fahre morgen bei ihm vorbei und klär das schon mal vorab.«

      »Ich kann mir das nicht besonders spannend vorstellen.«

      »Spannend? Darauf kommt es nicht an. Andernfalls hilfst du mir hier auf dem Hof. Such es dir aus! Du wirst die ersten Jahre ohnehin nicht viel mehr als das übliche Lehrgeld bekommen, und wir werden dich durchfüttern müssen. Aber du bist mein Bruder, und da will ich nicht kleinlich sein. Also, überleg es dir!«

      Ich habe keine andere Wahl, dachte Sebastian unglücklich. Von wegen »Jeder trägt den Marschallstab im Tornister« und was sie einem sonst so auf der Schule erzählten!

      Zwei Jahre musste Sebastian in der Anwaltskanzlei Stöckler ausharren, ehe das Schicksal eingriff und ihn aus ihr befreite. Doch er hatte bald gelernt, systematisch zu arbeiten und – was vielleicht noch wichtiger war – dass ein Gesetz eine neue Wahrheit bekam, wenn man es mit Selbstbewusstsein und Leidenschaft vortrug. Er konnte dem alten Stöckler so einiges an Schauspielkunst abschauen. Gleichwohl verachtete er diesen und manchmal auch das Büro, das ihn wie eine Geierhöhle dünkte. Es war dunkel und vollgestopft mit Akten, so dass man sich kaum rühren konnte. Die Möbel hatten schon zu Kaiserzeiten antiquarischen Wert, und auf allen Papieren lag Staub.

      Bürovorsteher war der Anwaltsgehilfe Brösel, ein langer Hagestolz und leidenschaftlicher Nationalsozialist mit stets schlecht rasiertem Gesicht und gelber, ausgetrockneter Haut. Sebastian wurde schon übel, wenn dieser in seine Nähe kam, denn neben einem säuerlichen Altherrengeruch hatte Brösel einen Atem, der der Pestilenz gleichkam. Natürlich verabscheute er Sebastian, zum einen, weil er jung war, und zum anderen, weil er ihm, wie er mit Recht meinte, nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte. Wenn Sebastian später von der Arbeit im Anwalts- und Notarbüro Stöckler träumte, dann wachte er schweißnass auf, so wenig geeignet hielt er sich für den Beruf. Und was er zu tun bekam, hätte auch jeder Analphabet, wie er zu Hause murrte, erledigen können.

      Er trug also die Akten ins Gericht, protokollierte auf einen Wink von Stöckler die Aussagen von Klägern und Zeugen und vertiefte sich in die Gesetze, die in einem so gestelzten Deutsch formuliert waren, dass man sie wieder und wieder lesen musste und dennoch nicht verstand. Mit dem großen Stöckler hatte er wenig zu tun, und er, Sebastian, war für diesen auch zu unbedeutend, um mehr als einen Knurrlaut und einen barschen Zuruf, dies oder jenes zu tun, von ihm zu hören. Stöckler war stramm rechts, und sein Adlatus stand ihm in nichts nach. Zur Mittagszeit saßen die beiden, umringt von den zwei weiblichen Bürokräften, mit einer Tasse Kaffee in der Hand in dem Kabuff neben Stöcklers Büro, und der Anwalt hielt großartige Reden über den Zustand Deutschlands und Europas und erklärte die Weltpolitik.

      So vergingen zwei Jahre, in denen ihm der Bruder oft genug zu verstehen gab, dass er ihn für einen unnützen Esser halte, und natürlich hatte ihm Stöckler gesteckt, dass Sebastian nur eine sehr mäßige Hilfe im Anwaltsbüro war.

      »Wir werden den Jungen zeitlebens auf der Tasche liegen haben«, klagte Wilfried gegenüber der Mutter, worauf diese nur immer hilflos die Hände über dem Kopf zusammenschlug.

      In


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